Siebter Abschnitt. - So ging es auch Ottokar. Ihn schauerte, als er sich nun wirklich an dem Wendepunkt seines Lebens sah, den er doch seit Monden zu erreichen strebte. Oft hatte er den bittersten Unmut empfunden ...

So ging es auch Ottokar. Ihn schauerte, als er sich nun wirklich an dem Wendepunkt seines Lebens sah, den er doch seit Monden zu erreichen strebte. Oft hatte er den bittersten Unmut empfunden über den langsamen Kabinettsgang, der seine Anstellung verzögerte, und jetzt schien ihm alles überraschend schnell gekommen zu sein. Er konnte es sich nicht verhehlen, daß das leichte, luftige, freie Schmetterlingsleben durch den heutigen Tag beendet werde. Bande aller Art, ehrenvolle Tätigkeit, ernste Pflichten im häuslichen Leben erwarteten ihn, tausend Rücksichten mußten seinem bisherigen harmlosen Umherschweifen jetzt ein Ende machen, die Blütenzeit seines Jugendlebens war dahin, und er vermochte es nicht, ohne Schmerz von ihr zu scheiden.

Leise hatte er sich, die hellerleuchteten Säle entlang, neben den eben besetzten Spieltischen durchgeschlichen, ohne daß jemand es bemerkte, außer der Gräfin, die auch heute, wie immer, ihm Freiheit ließ zu gehen und zu kommen. Er öffnete vorsichtig die Türe des Kabinetts, in welches Gabriele sich geflüchtet hatte, und fuhr fast wie vor einer Geistererscheinung zurück, da er sie beim Schein der schwach leuchtenden Alabasterlampe erblickte, wie sie sich bleich und langsam bei seinem Eintritt vom Divan erhob und ihm ein paar Schritte entgegentrat.


„Sie sind es? Sie sind es wirklich, Ottokar?“ redete sie ihn an. „Sie sind es wirklich? Ich sehe Sie noch einmal und kann von Ihnen Abschied nehmen? Ich darf einmal im Leben zu Ihnen noch sprechen, ehe ich auf immer scheide? Nun so ward doch ein heißer Wunsch im Leben mir gewährt!“

Ottokar erschrak vor dem zitternd bewegten Ton ihrer Stimme, vor der heftigen Spannung, in der augenscheinlich ihr ganzes Wesen sich befand. Er näherte sich ihr, indem er beschwichtigend ihre bebende Hand ergriff und sie wieder zum Divan zurückführte. „Sie reden vom Scheiden, vom Abschiednehmen?“ sprach er, „liebe teure Gabriele – mit dieser vertraulichen Benennung darf ich jetzt doch Sie anreden? –, liebe, liebe Gabriele, an Scheiden, an Trennen ist nun gar nicht zu denken. Verstehen Sie jetzt meine Worte von gestern abend?“ fuhr er fort, indem er recht vertraulich sich neben sie setzte. „Gibt der heutige Tag mir nicht ein Recht, an allem, was Sie betrifft, innigen, warmen Anteil zu nehmen?“

Gabriele schwieg, ihre Hand zitterte noch immer in der seinen, schwere Tropfen fielen einzeln aus ihren gesenkten Augen.

„Morgen gehen wir zusammen auf das Land“, fuhr Ottokar etwas verlegen fort, da es ihm gar nicht gelingen wollte, sie zur Gegenrede zu bringen. „Morgen auf das Land und wenig Tage später durch den blühenden Frühling nach Italien. Wie wird diese liebliche weiße Rosenknospe in jenem schönen Garten hold erblühen!“ sprach er, indem er sich zurückbeugte und Gabrielen mit Wohlgefallen betrachtete. „Welche Freude wird es sein, dort in der Heimat der Kunst alle die Anlagen, die Talente sich bis zur Vollkommenheit entfalten zu sehen, die Ihre zu große Bescheidenheit uns jetzt kaum erraten läßt. Wird es mir dort vielleicht gelingen, Ihr Zutrauen zu erwerben? Ich ahne schon lange, daß Sie nicht glücklich sind, liebe Gabriele“, sprach er, ihre Hand fester fassend, „oft wenn Sie, von mir sich unbemerkt glaubend, am Tisch mir gegenüber saßen, sah ich den Schmerz auf Ihren Lippen beben. Ich weiß es wohl, Ihnen fehlt das höchste Glück der Jugend, eine liebende Mutter, Geschwister. Nehmen Sie mich, liebe Gabriele, nehmen Sie mich zu Ihrem Bruder an, jetzt, da ohnehin Verwandtschaftsbande uns vereinen werden; geben Sie mir ein Recht, mit liebender Sorgfalt um Sie geschäftig zu walten. In dem fremden Lande, wohin wir gehen, so schön es ist, werden wir doch unter uns unbekannten Menschen, die vielleicht gar nicht zu uns passen, allein zusammenstehen; aber wir werden uns dafür auch desto fester aneinander schließen und einander um so näher angehören, je isolierter wir sind. Darum adoptieren Sie mich zum Bruder, ehe die Not Sie dazu treibt, gewiß, ich will ein recht guter Bruder sein“, setzte er fast scherzend hinzu.

Er schwieg, ihre Antwort erwartend, während sie sichtbar nach Fassung, nach Atem rang; plötzlich richtete sie sich auf und legte auch ihre zweite Hand auf die seinige. Er blickte verwundert, voll Erwartung sie an.

„Ich danke Ihnen, Ottokar“, sprach sie, „ich danke Ihnen herzlich; Sie wollen ein krankes Kind mit erfreulichen Bildern zur Ruhe einlullen, aber ich bin nicht krank, ich bin auch kein Kind, ich darf es ja nicht sein, von jetzt an nicht mehr. Ach wäre ich es und läge tief gebettet bei meiner Mutter!“ rief sie schmerzlich, ermannte sich aber gleich wieder. „Sie zeigen mir eine entzückend schöne Aussicht in die Zukunft, Ottokar“, fuhr sie fort. „Noch gestern hätte der Gedanke an die Möglichkeit derselben mir ein Traum vom Himmel gedünkt, aber in dieser Stunde fühle ich, daß ich selbst mir diesen Himmel verschließen muß. Ottokar, ich nehme hier an dieser Stelle, in dieser Stunde Abschied von Ihnen, ich kann nicht mit Ihnen gehen. Fragen Sie mich nicht: warum?“ setzte sie mit bittender Stimme hinzu, „fragen Sie mich nicht: warum? Es ist mir selbst nicht deutlich, ich vermag nicht, es in klaren Worten vor mir selbst auszusprechen, aber eine Stimme in meinem Herzen ruft laut, daß wir uns hier trennen müssen, und ich darf ihr nicht widerstreben. Ich danke Gott, daß mir vor dem Scheiden der Augenblick wird, nach dem ich Monden lang mich sehne, und auch Mut und Fassung ihn festzuhalten. So scheide ich doch nicht von Ihnen als eine ganz Unbekannte, so nehme ich doch das Bewußtsein Ihrer Teilnahme an meinem Dasein mit mir. Sie werden in dem schönen Lande, wohin Sie ziehen, der armen Gabriele nicht vergessen, die hier immer Ihrer gedenken wird, auch wenn mächtige Gewässer und himmelhohe Alpen zwischen uns liegen.“

In immer steigender Bewegung hörte und sah sie Ottokar, solange sie sprach, immer fester hielt er ihre Hand, immer näher suchte sein Auge das ihre, während die zarte Gestalt, im Schmerz des Scheidens aufgelöst, das müde Haupt an seine Brust lehnte und, mit der arglosen Sicherheit eines Kindes verstummend, neben ihm saß. Ihm war, als schwände vor seinen Augen ein dichter Nebel, der ihn bis jetzt verhindert hatte, ein Juwel, nach welchem er lange überall vergebens suchte, dicht neben sich glänzen zu sehen. „Wie war es möglich“, rief er endlich, „daß Sie so lange fast unbemerkt neben mir standen? Ja, ich ahnete Ihren höhern Wert, wann ich Sie so jung, so allein, so schweigend, mitten im Wirrwarr der ungeselligsten Geselligkeit stehen sah; welche unselige Verblendung, welche eitle Verknüpfung unbedeutender Zufälligkeiten hielt mich ab, Sie näher kennen zu lernen! Und sollen wir jetzt, da wir uns eben fanden, den herben Schmerz des Scheidens mutwillig auf uns laden, mit dem das Geschick uns dennoch freundlich verschont? Nein, Gabriele, Sie irren, es muß nicht sein, wir dürfen uns nicht trennen. Ich bin Ihr Bruder, Sie selbst mir die geliebteste Schwester, denn Sie können mich nicht verschmähen, und auch Aurelia wird in dem fremden Lande der Gegenwart einer liebenden Freundin aus der Heimat doppelt bedürfen.“

„Aurelia!“ rief beinahe schreiend Gabriele, und verhüllte einen Augenblick ihr Gesicht. Dann hob sie gefaßter die schönen, durch Tränen lächelnden Augen zu Ottokar auf.

„Nach dieser Stunde darf nichts Halbes in unserm Verhältnis mehr bleiben“, sprach sie, „ganz verhüllt oder ganz erkannt muß ich von Ihnen scheiden. So bringe ich denn mein Herz Ihnen offen dar und fürchte kein Mißverstehen. Seit ich zuerst Sie sah, Ottokar, sind Sie ein Teil meines Daseins, Ihr Glück ist das meine! Sie legen jetzt Ihr Geschick in Aureliens Hände – du liebst Aurelien – o liebe sie recht innig, recht treu – treue, innige Liebe, alles, sich selbst sogar, opfernde Liebe, bringt uns den Himmel, wenn auch das Herz darüber bricht. – Auch Aurelia liebt Sie“, fuhr Gabriele nach einer kurzen Pause fort. „Sie liebt Sie, aber jeder einzelne hat wohl seine eigne Liebe, ihre Weise ist nicht die meine, ich würde nie sie verstehen, so wenig wie sie mich jemals verstand. Darum muß ich fort, ich würde in ewiger unendlicher Sorge um dich in deiner Nähe vergehen, ich würde dich mit mir herabziehn zu meinen ängstlichen Zweifeln. Ach! Schon jetzt suche ich vergebens Worte, um auszusprechen, was doch so klar vor meiner Seele steht, meine Reden verwirren sich unwillkürlich, so würde ich auch in euer Leben nur Verworrenheit bringen. Darum muß ich zurück in meine Einsamkeit, meine Nähe wäre euch nur unheilbringend. Ich bedarf Ihrer Gegenwart nicht zu meinem Glücke, Ottokar, Sie sind doch immer mit mir, und diese an Tränen und Freuden so reiche Stunde bleibt ewig der hellschimmernde Lichtpunkt meines Lebens, er kann nie verlöschen.“

„O Gabriele!“ rief Ottokar, mit leuchtenden Augen und tiefbewegter Stimme, „Gabriele! Warum schlug diese Stunde uns nicht früher! Wie anders könnte alles sein!“ – „Sprich diesen Gedanken nicht aus, hüte dich, ihn nur auszudenken, rein und treu mußt du bleiben, wenn ich nicht im Schmerz um dich vergehen soll“, unterbrach ihn Gabriele in heftiger Bewegung.

„Ich bleibe rein, ich bleibe treu“, erwiderte Ottokar, „aber noch bin ich nicht gebunden, noch hat die Kirche nicht“ – „Ottokar! Ottokar! Ich flehe zu dir!“ rief Gabriele, in höchster Angst, mit gefaltenen Händen, indem sie vom Divan hinabgleitend fast zu seinen Füßen hinsank.

Ottokar faßte sie schnell in seinen Armen auf; beide saßen einige Minuten sprachlos mit hochpochenden Herzen, Hand in Hand nebeneinander. „So laß uns wenigstens in dieser entscheidenden Stunde unsers Lebens nichts übereilen“, sprach er endlich mit mühsam errungener Fassung, „höre auch mich an, und dann entscheide du selbst, ich lege willenlos mein Geschick in deine Hände, du kannst kein Unrecht wollen, du reiner Engel des Himmels. Liebe war der süße Traum meiner Jugend, ich trat früh in die Welt, ich suchte sie, ich fand sie nicht, und so gab ich ihn als unerreichbar auf, den schönen Traum, und bereitete mich, mit freiem Herzen bei der Wahl einer Gemahlin dem Wunsche meines Vaters zu folgen. Fern vom Geräusch der Welt, lebt er in tiefer Einsamkeit. Mit der starren Anhänglichkeit des Alters klammert er sich an die Vergangenheit, die er so gern wieder zurückbrächte, und der Gedanke, mich mit der Tochter seines Jugendfreundes verbunden zu sehen, war immer der einzige Plan für die Zukunft, den er fassen mochte. Doch liebt er mich zu sehr, um das Opfer meiner Ruhe zu fordern. Sehen sollte ich sie, Monden lang in ihrer Nähe leben, ehe ich mich erklärte, nur eigenes Wollen sollte mich binden, darum sandte er mich hierher. Ich sah sie, Gabriele! Wen sollte diese hohe Schönheit nicht blenden? Dieser heitre, immer spielende Geist, dieses Talent für alles, was das Leben verschönt? Ich glaubte, sie zu lieben, ja ich liebte sie wirklich, wenn unaussprechliches Wohlgefallen an einem reizenden Wesen Liebe genannt werden kann. Wenn mich, wie oft geschah, etwas Befremdendes in ihrem Benehmen auf Augenblicke von ihr zurückscheuchte, wenn ein Ahnen, ein Sehnen höhern Empfindens mich beschlich, so gedachte ich meines guten alten Vaters und entfernte alles, was mir die Erfüllung seines Wunsches hätte erschweren können. So lebte ich Monate neben dem reizenden Mädchen. War auch sie vom Wunsch unsrer Väter unterrichtet? Beobachtete auch sie mich im stillen? Ich wußte es nicht, auch galt es gleich. In jedem Fall war sie zu stolz, mich täuschen zu wollen, sie zeigte sich mir immer, wie sie ist, und achtete es nicht, wenn sie es auch bemerkte, daß sie mir deshalb nicht in jeder Stunde gleich liebenswert erschien. Vor einigen Wochen brachte mein Vater – ach! auf mein Bitten – das frühere Versprechen ihres Gatten bei der Gräfin Rosenberg wieder in Anregung. Sie weigerte sich nicht, es zu erneuern, doch unter der Bedingung, daß ich nur dann gegen Aurelien mich erklären dürfe, wenn ich ihr zugleich den Rang, den Glanz bieten könne, der ihren Vorzügen gebühre. Bis dahin achtete die Gräfin weder ihre Tochter noch mich durch dieses Versprechen gebunden und verhehlte es auch nicht, daß mehrere Männer sich um die Hand derselben bewürben. Jetzt, Gabriele, jetzt da ich die Gefahr sah, Aurelien zu verlieren, jetzt erst fühlte ich mich mächtig zu ihr gezogen. Denn Eifersucht gleicht der Liebe, obgleich jene nicht immer diese begleitet, sie ist gar oft nur das Kind gekränkter Eitelkeit. Die von den ausgezeichnetsten Männern gefeierte Aurelia konnte mein werden, wenn ich sie zu fesseln verstand; dies bannte mich an jeden ihrer Schritte, während ihr Leichtsinn, ihre auch mich nicht schonende Spottlust mich auf die Folter spannten. Endlich vor einigen Tagen kam mit der Gewißheit meiner Ernennung zu der Gesandten-Stelle auch der Tag meiner Erklärung gegen Aurelien. Kalt, gemütlos, spottend beinahe, gab sie mir das Versprechen, die meine zu werden, und alle Lust am Leben schwand mir in der Minute dahin. Ich fühlte mit Bewußtsein, daß dieses kalte, über alles lachende, mit allem seinen Spott treibende Wesen nie lieben kann. Sie wird mir treu sein, sie wird mich vielleicht freundlich behandeln, ich will es glauben; aber mehr darf ich nie von ihr hoffen, und alle die schönen Ahnungen häuslichen Glücks, denen ich doch nie ganz hoffnungslos entsagen konnte, sinken mir an ihrer Seite in das Reich der Unmöglichkeit. Mir zum Troste suchte ich mich zu bereden, daß, was ich wünsche, zu schön für dieses Werkeltagsleben, nur in andern Welten heimisch sei. Ich war gefaßt, eine gewöhnliche Konvenienzheirat einzugehen und weder mehr noch minder glücklich zu sein, als alle die Tausende um mich her, und nun, in der letzten Minute, da ich mit halber Freiheit noch atme, kommst du wie eine himmlische Erscheinung, du wunderbares Wesen, und zeigst mir ein Glück, das mir Verblendeten bis heute noch erreichbar war. Und wäre es denn wirklich zu spät? Nein! Mein guter Engel sandte dich, ich habe dich gefunden, ich gehöre zu dir und bin noch nicht ganz gefesselt. Gabriele, sprich nicht zu rasch unser Urteil! Ein Wink von dir, und meine Fesseln reißen, und“ –

„Ottokar! Ottokar!“ rief Gabriele erbleichend und trat einige Schritte von ihm zurück – gefaßter näherte sie sich indessen ihm bald wieder. „Wie du mich erschreckst!“ sprach sie, „wie du mich erschreckst mit einer mir so fremden Ansicht unserer Zukunft, daß ich es nicht fasse, wie sie dir kommen konnte, dir, dessen Gedanken ich sonst stets lange vorher wußte, ehe du sie aussprachst. Auch ist das, was du sagtest, nicht die wahre Meinung deines Herzens“, fuhr sie fort, „du kannst nicht wortbrüchig werden, weil kein Schwur dich bindet, du kannst deinem guten Vater nicht die nahe Erfüllung seines letzten Wunsches vorspiegeln und dann grausam ihn täuschen, du kannst nicht meiner Tante mit der Schmach ihrer Tochter heimtückisch dafür lohnen, daß sie ihr Haus zu dem deinen machte und dir vertraute. Ottokar, ich brauche nicht zu entscheiden, du selbst hast entschieden in der rechten Tiefe deines Gemüts, du weißt es wohl, was geschehen muß“, setzte sie mit sanftem Weinen hinzu.

„Aber ist es denn wirklich so? Müssen wir scheiden auf ewig? Und du, du Arme, was wird aus dir in den Wüsten des Lebens?“ rief Ottokar. „Ich bin beglückt“, sprach Gabriele, kraftlos auf den Divan hinsinkend, „laß mir nur die Hoffnung, daß du streben willst, mit Aurelien glücklich zu sein.“ – „Ich will es, Gabriele! Ich will alles, was du willst. Guter Gott! Wie soll ich es aber anfangen, dich zu vergessen?“ erwiderte Ottokar. „Vergiß mich nicht!“ bat Gabriele, „laß mich mit dir leben, wie du ewig mit mir leben wirst, vielleicht sehen wir einst uns hier noch wieder, nach langen, langen Jahren, dort finden wir uns gewiß; dorthin wende den Blick“, sprach sie mit aufgehobenen Händen und sank sogleich wieder zurück.

„Und kein Andenken dieser Stunde gewährst du mir?“ sprach Ottokar. „Du hast meine Zeichnung von Schloß Aarheim, betrachte die alten düstern Mauern, in denen ich von nun an leben werde, denke, daß dein Bild sie mir erhellt, und nun lebe wohl, meine Kräfte reichen nicht weiter“, sprach Gabriele mit erlöschender Stimme.

Ottokar kniete vor ihr hin, mit heißen Tränen netzte er die Hände der jetzt beinahe ganz Bewußtlosen, als eine Tapetentüre sich öffnete. Erschrocken fuhr er auf, es war Annette. Von einer unerklärlichen Angst getrieben, hatte sie das ganze Haus durchstreift, um ihre junge Gebieterin zu suchen, nachdem sie vergeblich sich in der Gesellschaft nach ihr umgesehen hatte. Angst leitete ihre Schritte auch in das an die Gesellschaftssäle anstoßende Kabinett und der Zustand, in welchem sie ihre geliebte Herrin dort fand, erschreckte sie so sehr, daß sie kaum Ottokars Gegenwart, noch weniger die an Verzweiflung grenzende Bewegung bemerkte, in welcher er sogleich nach ihrem Eintritt das Kabinett verließ. Es gelang ihm, auf der bis jetzt ihm unbekannt gebliebenen verborgenen Treppe, welche Annetten herbeigeführt hatte, sein Zimmer zu erreichen, ohne daß ihn jemand bemerkte. Eben erhaltene Briefe von höchster Wichtigkeit mußten für diesen Abend sein Nichtwiedererscheinen bei der Gesellschaft entschuldigen, während Gabriele, sanft und schweigend, sich von Annetten in ihr Zimmer führen ließ. Der starre Blick, das wunderliche Lächeln, das ununterbrochene Schweigen Gabrielens trieben die arme Annette, unerachtet der dunkeln Nacht, auf die Straße hinaus, um Frau von Willnangen zu Hülfe zu rufen, denn im Hause war alles zu beschäftigt, um auf ihr Bitten zu hören, und glücklicherweise Augustens Übelbefinden zu unbedeutend, als daß es Gabrielens mütterliche Freundin hätte abhalten sollen, dem Kinde ihres Herzens zu Hülfe zu eilen.

Schon am zweiten Tage nach diesen Ereignissen war alles Leben aus dem sonst so geräuschvollen Hause der Gräfin Rosenberg gewichen. Nur in Gabrielens Zimmer waltete und flüsterte bange Sorge am Bette der zum Tode Erkrankten. Durch die übrigen verödeten Gemächer schlichen nur noch ein paar halb invalider Diener, um die Vorhänge an den Fenstern herabzulassen und das kostbare Hausgeräte gegen den Staub sorgfältig zu bewahren. Bald war auch dieses getan, und die ehemals glänzende Wohnung gewann nach und nach ganz das Ansehen jener verlaßnen Schlösser, die man auf Reisen so oft besehen muß, die wie verzauberte Paläste in einem Feenmärchen dastehen und einen unbeschreiblich traurigen Eindruck machen, weil sie mit allem versehen sind, dessen das üppigste Leben nur bedarf, ohne daß eine fröhliche lebende Seele zwischen den reichgeschmückten Wänden atmet.

Kaum hatte die Gräfin am Morgen nach der Verlobung ihrer Tochter die Nachricht von Gabrielens plötzlichem Erkranken vernommen, so ahnete sie mit der ihr in solchen Fällen gewöhnlichen Lebhaftigkeit ein bösartiges Nervenfieber in dieser Krankheit. Der Arzt wagte es nicht, sogleich für oder wider ihre Mutmaßung zu entscheiden, Frau von Willnangen hingegen wünschte, die Pflege ihrer jungen Freundin ganz ungehindert übernehmen zu können und bemühte sich daher nicht sonderlich, der Gräfin die Furcht vor einer möglichen Gefahr der Ansteckung auszureden. Halb tot vor Angst, konnte diese von dem Momente an keinen anderen Gedanken fassen, als wie die Stunde ihrer Abreise auf das Land möglichst zu beschleunigen wäre. Alles dazu Nötige war ohnehin schon lange vorbereitet, und es gelang ihr deshalb ohne zu große Anstrengung, sich noch im Laufe des Vormittags, begleitet von Ottokar, Aurelien und Eugenien, auf dem Wege nach ihrem Landgute Rosenhain zu sehen.

Frauen, wie die Gräfin, pflegen aus angebornem Instinkt genau zu wissen, was sie zu verhehlen, was sie bekannt zu machen haben. Dieses Gefühl leitete sie daher auch dieses Mal ganz richtig, indem es sie bestimmte, der Krankheit ihrer Nichte gegen Ottokar nicht zu erwähnen. Nichts in der Welt hätte diesen dazu bringen können, seine Braut und ihre Mutter zu begleiten, wenn er nur eine Ahnung von der Todesgefahr gehabt hätte, in welcher die ihm ebenso schnell Verlorene als Gefundene im Augenblick seiner Abreise schwebte. Indem er seinen Reisewagen bestieg, dachte er nur an sie und die unausweichbare Trennung von ihr. Selbst in dem Unwahrscheinlichen des Vorwandes, mit welchem die Gräfin das Zuhausebleiben ihrer Nichte gegen ihn zu beschönigen suchte, wähnte er Gabrielen selbst zu erkennen. In der ungeschickten Art, mit welcher man ihn täuschen wollte, sah er nur ihre reine, jeder Unwahrheit widerstrebende Natur, er ergab sich und schien alles zu glauben, was man ihn glauben machen wollte, weil er dadurch ihrem Willen gemäß zu handeln sich bewußt war.

Aurelia würde vielleicht gar nicht nach Gabrielen gefragt haben, wenn sie nicht zu ihrer großen Freude bemerkt hätte, daß ein Windspiel, welches sie seit zwei Tagen leidenschaftlich liebte, weit bequemern Platz auf dem Rücksitz des Wagens fand, als sie gehofft hatte. Mit halbem Ohr hörte sie auf die Ursachen, die wegen Gabrielens Zurückbleiben angegeben wurden, und hatte diese, wie ihre Cousine selbst, längst vergessen, ehe sie noch über die Vorstadt hinaus war.

Mehrere lange Tage und längere Nächte lag Gabriele ruhig da, im dumpfen bewußtlosen Schlummer, wenn nicht fieberhafte Träume ihre innere Welt aufregten und mit verworrenen wechselnden Bildern vor ihrem Geiste spielten. Frau von Willnangen hatte diese ganze Zeit über an dem Bette der geliebten Kranken in banger Besorgnis gewacht und gebetet; nur wenn die höchste Erschöpfung aller ihrer Kräfte es gebot, wagte sie es, sich einem kurzen unruhigen Schlummer zu überlassen. Auguste und die treue Annette traten dann mit verdoppelter Sorgfalt an ihren Platz vor dem Krankenbette, von welchem sie ohnehin fast nie sich entfernten.

Dankbar, wenngleich tiefbetrübt, erkannte es Frau von Willnangen als eine besonders gütige Fügung der ewigen Vorsicht, daß lauter freundliche Gestalten das kranke Haupt der oft sanft Lächelnden umschwebten, daß keine Schreckensträume dem Sterbekissen ihrer geliebten Gabriele nahen durften und die vielleicht nicht entfernte Stunde ihres Scheidens mild und ruhig, wie ihr ganzes übriges Leben, vorüber zu gehen versprach. Sie belauschte mit der angespanntesten Aufmerksamkeit alle Bilder, welche der Kranken exaltierte Phantasie dieser vorüberführte, sie horchte auf jedes verständliche Wort von den in wilder Fieberhitze glühenden Lippen. Bald führte Gabriele innige vertraute Gespräche mit der ihr nun zum Schutzgeist gewordenen verklärten Mutter, bald dünkte es ihr, als sei sie wieder ein fröhliches Kind im Schloß Aarheim, spiele mit freundlichen Engeln in ihrem eignen Gärtchen, unter hohen wunderschönen Blumen. Oft sagte sie ganze Stellen aus Schillers ›Wallenstein‹ her, besonders aus der Abschiedsszene zwischen Max und Thekla. Dann sah sie Ottokar, wie von einer langen Reise heimkehrend, und nannte ihn Max und eilte ihm freudig entgegen.

Unter diesen Zuständen war endlich die bange, über Tod und Leben entscheidende Nacht herangekommen. Ernst und schweigend saß der Arzt am Haupte des Bettes, auf welchem Gabriele glühend, in schwerem Schlummer und völlig bewußtlos lag. Neben ihm horchte Frau von Willnangen auf jeden Atemzug der Kranken und erbleichte vor Entsetzen, wenn die Pulse schneller aufeinander folgten oder zuweilen gänzlich auszubleiben schienen. Die arme Annette lag auf dem Fußboden neben dem Bette und betete in höchster Angst ganz leise vor sich hin; sie war fest überzeugt, daß auch sie mit ihrem Fräulein aus Jammer über dasselbe sterben müsse. Ernesto und Auguste saßen schweigend nebeneinander auf dem Sofa, sie zählten jede Sekunde an dem Picken der Uhr und wagten es nicht, einander anzublicken, um nicht eines in des andern Gesicht die starren Züge innrer steigender Hoffnungslosigkeit zu gewahren.

Jetzt schlug die erste Stunde nach Mitternacht. Der Arzt beugte sich mit forschendem Blick über Gabrielen hin, weil er einer fast unmerklichen Änderung in ihrem Atmen gewahr ward. Annette richtete sich im nämlichen Moment auf ihren Knien von der Erde auf und blickte starr nach dem Fenster. „Dort fliegt er hin, dort fliegt er hin“, flüsterte sie so innerlich leise, daß sie kaum die Lippen dabei regte, und zupfte Frau von Willnangen am Kleide und zeigte dabei auf das Fenster. „Sie ist gerettet“, sprach sie darauf in fast unhörbarem Tone zu ihr, die im bängsten Erwarten kaum noch atmete. „Sehen Sie dort?“ setzte sie hinzu, immer auf das Fenster zeigend, „dort hoch über dem Turme? Den kleinen weißen Wolken am Monde vorüber? Ach Gott, dort senkt er sich wieder!“ rief sie einen Augenblick später und verhüllte schluchzend ihr Gesicht.

Eine bange ängstliche Stille herrschte jetzt um Gabrielen, man hörte das Summen der Fliegen im Nebenzimmer, den Schwung der Flügel eines Nachtschmetterlings, der um die Lampe flatterte. Da schlug Gabriele plötzlich groß und hell die Augen auf. „Sind Sie schon so früh da, liebe mütterliche Frau?“ sprach sie zur Frau von Willnangen, die sie zum ersten Mal, seit sie krank ward, wieder erkannte. „Ich habe wohl lange geschlafen und bin doch noch müde“, setzte sie hinzu. Ein mattes Lächeln glitt über ihr Gesicht, von neuem schlief sie ein, aber die krampfhafte Anspannung in ihren Zügen, die Fieberröte auf ihren Wangen waren verschwunden; sie lag bleich und schön, gleich einem Marmorbilde jetzt da, und atmete zwar matt, aber ruhig. Noch ehe die Sonne aufging, wagte es der Arzt, für die Erhaltung ihres Lebens zu bürgen, wenn man seinen Vorschriften pünktlich Folge zu leisten verspräche.

Ein Arzt, der solch ein Wort mit fester Zuversicht aussprechen darf, wenn von der Rettung eines heißgeliebten Wesens die Rede ist, steht in dem Momente wie ein göttergleiches Wesen vor uns da. Auch bedarf es wohl solcher Augenblicke, um ihn für die vielen bittern Stunden zu trösten, in welchen er die Ohnmacht alles menschlichen Wissens anerkennen muß, und die dennoch von seinem wohltätigen hohen Beruf sich nicht trennen lassen. Ernesto und Frau von Willnangen, Auguste und Annette, alle drängten sich im freudigsten Tumult um den Retter Gabrielens, alle wußten ihrem Dank, ihrem Entzücken keine Worte zu geben. Es war, als habe er jedem von ihnen neues Leben geschenkt, indem er jene tröstenden Worte aussprach: „Ihr unaussprechliches Glück kennt nur, wer in einem einzigen entzückenden Momente den unausweichlich geglaubten Verlust eines über alles geliebten Wesens von sich abgewendet sah.“ – „Ach! Wenn ich nur dies eine Mal nicht träume“, rief zwischendurch Annette; „aber es ist doch gewiß wahr, ich sah ihn fortfliegen, gewiß ich sah es“, setzte sie dann ganz leise vor sich hinzu, gleichsam um sich selbst zu beruhigen. „Was sahst du denn fortfliegen, Annettchen?“ fragte Ernesto, aber sie erwiderte ihm, „daß es in dieser Stunde noch nicht gut sei, davon zu sprechen. Er ist noch nicht weit“, setzte sie, betrübt und vorsichtig um sich her blickend, hinzu, „ich sah ihn auf das Haus der Frau von Felsberg sich senken, deren Kinder so krank sind.“ Und damit nahm sie wieder ihren Platz auf der Erde neben dem Bette ein, legte das Gesicht auf Gabrielens Decke und wandte kein Auge mehr von ihr ab.

Viele Tage vergingen, ehe Gabriele ihren Freunden anders, als mit unaussprechlich freundlichen Blicken, ihre liebevolle Pflege verdanken konnte, Wochen schwanden hin, ehe sie es vermochte, sich nur wenige Stunden außer dem Bette zu halten.

In den Armen der Liebe von einer schweren Krankheit zu genesen, ist eine unbeschreiblich rührende, heilige Freude, die für alle erlittenen Schmerzen reichlich Entschädigung beut. Das Gefühl des neu erwachenden Lebens verschönt alle Gegenwart, und jeder alte Schmerz wird wenigstens fürs erste zurückgeschoben, daß wir nicht gleich seiner gedenken. Wir selbst sind liebender als im gewöhnlichen Gange des Lebens und auch von unsern Freunden mehr geliebt. Die nahe Gefahr des Verlustes, der furchtbare Gedanke des Scheidens für das ganze irdische Dasein hat uns ihnen teurer gemacht; ihnen ist zumute, als hätten sie zuvor unsern Wert nicht genugsam anerkannt, als hätten sie deshalb ein Unrecht gegen uns gut zu machen und müßten sich dankbar dafür erweisen, daß wir noch länger unter ihnen weilen wollen. Wir hingegen, mit Sinnen, in der Einsamkeit des Krankenzimmers neugestärkt, wir wissen nicht, wie wir genugsam ihrer großen Liebe uns erkenntlich beweisen sollen, und jeder kleine Dienst, den sie in unsrer Schwäche uns leisten, hat, als Zeuge ihrer treusten Anhänglichkeit, für uns unschätzbaren Wert.

Und so war es auch mit Gabrielen. Sie fühlte sich durch die liebevolle Pflege ihrer Freunde höchst beglückt, und die Ereignisse, welche sie auf das Krankenlager geworfen hatten, waren in der ersten Zeit ihres Genesens fast spurlos aus ihrem Gemüte verlöscht. Nur mit der allmählichen Erneuerung ihrer Kräfte regte sich ebenso allmählich der alte Schmerz wieder auf und verflocht sich in den Gang ihres Lebens, je mehr sich dieses der Außenwelt wieder zuwendete.

Allmählich war es jetzt völlig Frühling geworden. Draußen im Garten schwärmten die Vögelchen schon gar lustig, zwischen rötlichen Blüten ihren kleinen Haushalt beschickend, und die Sonne schien warm und lockend durch die immer blühenden Rosen auf Gabrielens Fenster. Auch Ottokars Pflanzen trieben wieder Knospen, und Gabriele stand oft vor ihnen, versunken in stilles Nachdenken, aus welchem nur die angestrengtesten Bemühungen ihrer Freunde sie zu ziehen vermochten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele