Achter Abschnitt. - Eines Morgens hatte sie bis zur Erschöpfung ihrer wenigen Kräfte bei ihnen verweilt und sank darauf in den tiefen Schlummer der Ermattung. ...

Eines Morgens hatte sie bis zur Erschöpfung ihrer wenigen Kräfte bei ihnen verweilt und sank darauf in den tiefen Schlummer der Ermattung. Ernesto mit Augusten, welche eben zugegen waren, zogen sich in das Nebenzimmer zurück, um sie nicht durch ihre Gegenwart im Schlafe zu stören. Auch Annette mußte mit, denn das treue Kind war durch ihre große Liebe zu Gabrielen allen wert geworden und wurde mehr wie ein zur Familie gehörendes Mitglied derselben, als wie eine um Lohn dienende Kammerjungfer betrachtet.

„Jetzt ist es heller lichter Tag, und für dein Fräulein ist Gottlob alle Gefahr verschwunden“, fing Ernesto jetzt an, „jetzt sage uns, liebe Annette! Was sahst du fliegen in jener ängstlichen und frohen Nacht, die wir mit dem Arzte durchwachten?“ Feuerrot warf Annette einen ängstlichen Blick auf das Fenster und flüsterte dann schnell und leise: „Wen anders als den Todesengel?“


„Den Todesengel?“ erwiderte Ernesto lächelnd; „den sahst du fliegen? Und wie sah er denn aus, dieser Schreckensengel?“

„Ach schrecklich genug“, antwortete Annette, „mir graust es noch, wenn ich daran denke, wie er aussah, und doch war er so sehr schön, wie ich noch nichts gesehen habe, kein Mensch auf Erden kann so aussehen. Er ist kein Kind wie die andern Engel, die in der Kirche und in der gnädigen Gräfin ihrem Zimmer abgemalt sind. Er sah aus wie eine sehr schöne Frau, die pechschwarzen Locken hingen ihm zu beiden Seiten des totenbleichen Gesichts lang herab. Dabei sah er recht gräßlich, recht grausam ernsthaft aus und über alle Maßen traurig und herzlich betrübt, und doch war es auch, als ob er mitleidig wäre und sich recht gerne tröstlich bezeugen wolle. So flog er mit den breiten dunkeln Flügeln über das Bett meines Fräuleins, bald in weiten Kreisen rings darum her, bald zwischen den Vorhängen unter dem Betthimmel durch. Ich wollte immer die Vorhänge zuziehen, aber dann dachte ich, er kömmt doch wohl hindurch und ich sähe nicht, wie er sie zu Tode küsse, denn im Kusse hätte er ihre Seele genommen, das weiß ich gewiß.“

„Liebe Annette! Mir schaudert jetzt am hellen Tage bei deiner Erzählung, unmöglich kannst du das gesehen haben, du mußtest ja vor Angst und Schrecken bei dem Anblicke von Sinnen kommen“, wandte Auguste ein.

„Ich wäre auch gewiß dabei von Sinnen gekommen“, erwiderte Annette, „wenn nicht die weit größre Angst um mein Fräulein mich aufrecht erhalten hätte. Er flog ihr immer näher und näher, zuletzt schwebte er so dicht über sie hin, daß ich jeden Augenblick dachte: jetzt wird er sie küssen und dann ist sie tot. Ich lag auf der Erde neben ihr und rückte recht mit Bedacht mein Gesicht dicht neben ihr Gesicht und dachte immer daran, wie ich es so machen könne, daß er mich an der Stelle meines Fräuleins küssen solle oder doch wenigstens mit ihr zugleich. Herr Gott! Ich begreife gar nicht, wie Sie alle ihn nur nicht gesehen haben, wie Sie alle nur nicht das ängstliche Schwirren in der Luft hörten, wenn er so über meinem armen Fräulein hin und her flog.“

„Und wo blieb er dann zuletzt, wo flog er hin?“ fragte Ernesto. „Er flog durch das Fenster hinaus“, war die Antwort, „wie er durch die Scheiben kam, kann ich nicht beschreiben, er drang hindurch wie der Mondschein und schwebte noch lange von außen um die Fenster her. Endlich, Gottlob! Endlich flog er ganz fort! Hoch durch die Luft, dicht neben dem Monde hin, ich sah es recht deutlich, wie die dunkeln Flügel durch die weißen Wolken neben dem Monde wie durch einen Silberflor hindurch schimmerten. Auf einmal senkte er sich nieder; mir stand das Herz still vor Angst, aber er flog weiter und ließ sich zuletzt auf dem Hause der Frau von Felsberg herab. Sehen Sie wohl dort das grüne Türmchen mit dem weißen Balkon rings herum? Man sieht es fast in der ganzen Stadt. Das Türmchen steht oben auf dem Hause der Frau von Felsberg. Ach Gott! Und ihre lieben kranken Kinderchen sind auch beide in derselben Nacht gestorben. Ich habe schon soviel um sie geweint“, setzte Annette schluchzend hinzu, indem die hellen Tränen ihr über die Wangen liefen.

Eine lange Pause entstand; Auguste vermochte es nicht vor Grausen ein Wort aufzubringen, und auch Ernesto fühlte von der treuherzigen Erzählung der jungen Engelseherin sich befangener, als ihm lieb zu sein schien. Endlich wollte er einiges über die ängstliche Wallung sagen, in der sie sich alle während jener Nacht befunden, dann sprach er davon, daß Annette aufgeregter und überwachter sein mußte, als jeder von ihnen, weil sie allein, vom Anfange der Krankheit Gabrielens an, bis zu jenem entscheidenden Moment, sich keine Stunde ruhigen Schlummers gewährt hatte. Auch versuchte er, von den wunderlichen Bildern zu sprechen, die unsre Phantasie uns schon auf nächtlichen Reisen oft vorspiegelt, besonders, wenn wir mehrere Nächte hindurch fahren, ohne auszuruhen, aber die Worte standen ihm nicht so zu Gebote, wie wohl sonst. „Am besten ist es“, sagte er endlich, „wir danken Gott, daß der Furchtbare diesmal vorüberzog; sei es auf welche Weise es sei, sichtbar oder unsichtbar, grübeln wir weiter nicht darüber und hüten wir uns, davon zu sprechen, denn solche Gespräche taugen überall nichts. Vor allen Dingen aber wünsche ich, daß unsre junge Freundin nie etwas von dieser Erscheinung erfahre.“

Sowie sich Gabriele stark genug dazu fühlte, trug man Sorge, sie aus ihrer verödeten Wohnung hinweg, in das Haus der Frau von Willnangen zu bringen, wo sie ihre völlige Genesung bequemer abwarten konnte. Ottokars Name war seit seiner Abreise noch von keinem von ihnen genannt worden, und Frau von Willnangen sah nicht ohne Besorgnis dem Augenblick entgegen, wo dieses zum ersten Mal geschehen würde. Bei aller Überzeugung, daß Gabrielens Krankheit mit der unerwarteten Erklärung der nahen Vermählung Ottokars Zusammenhang habe, war sie doch weit entfernt, nur eine Silbe von der wunderbaren Zusammenkunft zu ahnen, welche an jenem Abend zwischen beiden stattgefunden hatte. Sie wußte daher gar nicht, wie sie sich über Ottokar zu äußern habe, um Gabrielen nicht weh zu tun. Sie war uneins mit sich selbst, wie jeder, der es sich nicht verhehlen kann, daß er von der rechten Bahn abwich, und nun gern wieder gut machen möchte, was er sich gestehen muß verdorben zu haben, wenn es auch in der besten Absicht geschah. Die Verblendung, in welcher sie Gabrielens Neigung stets mehr entflammt hatte, statt sie zu mäßigen, war ihr jetzt unerklärlich. Sie begriff es nicht, wie ihre im Laufe eines langen Lebens erworbene Welterfahrenheit sie dieses Mal so irre gehen ließ, aber ebensowenig begriff sie noch immer, wie Ottokar Aurelien wählen konnte, da Gabriele neben dieser stand. „Habe ich gefehlt“, sagte sie sich endlich selbst zum Trost, „so stürzte die herzlichste Liebe zu dem liebenswürdigen Kinde mich in den Irrtum; mag denn diese Liebe, solange ich lebe, auch streben, wieder gut zu machen, was sie übel gemacht hat.“

Gabrielens Kräfte nahmen unter der treuen Pflege ihrer Freunde beinahe mit jedem Tage sichtbar zu. Ihre Jugend, ihr stilles, von jedem innren Vorwurf freies Gemüt und auch des Frühlings allbelebende Kraft waren des Arztes mächtige Gehülfen. Es hatte fast den Anschein, als ob ihre physische Natur dieses heftigen Stoßes bedurft habe, um zur völligen Entwickelung zu gelangen, so auffallend war die Veränderung, welche jetzt in ihrem Äußern vorging und sie fast bis zum Unkenntlichwerden verschönte. Das kindlich runde Gesichtchen gewann jetzt den hohen, edlen Ausdruck vollendeter Jungfräulichkeit, ohne dadurch an jugendlichem Reize zu verlieren; ihre mit jedem Tage höher erscheinende Gestalt entwickelte sich zu der edelsten Form, und ihrem ganzen Wesen fehlte nur noch der Glanz blühender Jugendfrische, um aller Augen zu entzücken.

Mit Gabrielens wiederkehrender Gesundheit nahm aber auch der schweigende kalte Ernst zu, mit welchem sie jetzt alles um sich her zu betrachten schien. Eine nachdenkliche, unteilnehmende Stille in ihrem ganzen Benehmen beängstigte Frau von Willnangen weit mehr, als wenn sie sie traurig gesehen hätte. Ihr verging dabei völlig der Mut, endlich eine Erklärung des Vergangenen herbeizuführen, deren Notwendigkeit sie anerkannte, obgleich sie vor den möglichen Folgen derselben zitterte. Sie wußte ja nicht, welche Art von Schmerzen sich mit dieser in dem armen getäuschten Herzen ihres Lieblings wieder aufs neue, vielleicht zerstörend, regen würde. Vom ersten Moment der Krankheit an hatte sie ihren Pflegling vor allen fremden Besuchen gehütet, nicht allein aus Rücksicht auf ärztliche Vorschrift, sondern auch weil sie es gern vermeiden wollte, Ottokars gefürchteten Namen vor unberufnen Zeugen zum ersten Mal in Gabrielens Gegenwart nennen zu hören. Im Anfange ward ihr dieses nicht schwer gemacht. Die übereilte, einer Flucht ähnliche Abreise der Gräfin Rosenberg hatte das Gerücht von der in ihrem Hause obwaltenden Gefahr der Ansteckung bis zum Ungeheuern vergrößert. Sogar ihre genauesten Bekannten hüteten sich, an ihm vorüber zu gehen, und wählten lieber Umwege, um nur nicht die verrufne Straße zu betreten. Doch mit der Zeit verschwand auch diese Furcht, und da Gabriele späterhin im Hause der Frau von Willnangen sich befand, so drängte sich bald die gewöhnliche Schar von Besuchenden herbei, welche jedes Krankenzimmer für einen erwünschten Vereinigungspunkt anzusehen pflegt. Keiner von diesen gelangte indessen bis zu Gabrielen; Auguste machte in einem Nebenzimmer die Honneurs und entschuldigte ihre Freundin mit dem, ausdrücklich gegen Annahme aller Besuche gerichteten Verbote des Arztes. Man ließ diese Entschuldigung um so lieber gelten, ohne etwas dagegen einzuwenden, da sich eigentlich niemand für das Leben oder Sterben des jungen Mädchens wirklich interessierte, das bis jetzt eine so wenig bedeutende Rolle in der Gesellschaft gespielt hatte.

Nach vielen, in ihrem Krankenzimmer still verlebten Wochen wagte es Gabriele endlich, zum ersten Mal ihre Freundinnen an einem warmen Frühlingsmorgen im eignen Wohnzimmer zu überraschen. Freudig erschrocken fuhren beide vom Sofa auf, als sie die schöne Gestalt am Arme Annettens hereinschweben sahen. Frau von Willnangen hätte sie kaum erkannt, so verändert stand Gabriele jetzt, zum ersten Mal außer dem Halbdunkel des Krankenzimmers, im hellsten Strahl der Morgensonne vor ihr da. Das schöne Gesicht mit den blaßroten Wangen sah wunderlieblich aus dem feinen Spitzenhäubchen hervor, unter welchem die lichthellen Locken sich einzeln um die blütenweiße Stirn hervordrängten. Die dunkeln Augen strahlten in erneutem Jugendglanz, und das in den wenigen Wochen merklich zu kurz gewordene blendend weiße Morgenkleid zeigte die allerzierlichsten Füßchen. „Mein Kind, mein liebliches, schönes Kind!“ rief Frau von Willnangen, hingerissen von der himmlischen Erscheinung, und drückte unter freudigen Tränen sie an ihre Brust, während Auguste sie zum Sofa hinzog, und beide hernach in der Freude ihres Herzens tausend einander widersprechende Anstalten trafen, um es dem lieben Gast nur recht wohl und bequem zu machen. Endlich saßen sie in traulicher Gemütlichkeit nebeneinander, als plötzlich die Türe aufging, und Gräfin Eugenia mit dem ältesten Fräulein Silberhain unangemeldet hereintraten.

„Nun da sieht man die liebe Kranke doch wieder! Und wie groß geworden! Wie schön! Man möchte bald verleitet werden, sich ein Fieber von solchen Folgen zu wünschen. Sie sehen ja in der Tat aus, als könnten Sie uns die neueste Kunde aus dem Lande der Seligen bringen“, rief Gräfin Eugenia, indem sie die zu ihrem Empfange aufgestandene Gabriele umarmte.

„Auch war meine Gabriele der Himmelstüre nahe genug. Ein Glück für uns, daß sie beizeiten wieder umkehrte, um noch bei uns zu weilen“, erwiderte lächelnd Auguste.

„Achten Sie es wirklich für ein Glück, wenn der Engel zum Fluge in die ewige Heimat schon die Flügel entfaltet hat, und dann, aufs neue gefesselt von irdischen Banden, sie wieder zusammen legen muß?“ fragte Fräulein Silberhain; „ach! Wir wissen vielleicht nicht, welch ein Unrecht wir tun“, fuhr sie fort, „wenn wir uns der anscheinenden Genesung unsrer Freunde freuen! Was ist denn längeres Leben anders als längeres Harren?“

„Liebe Silberhain“, fiel Eugenia ein, „Gabriele und wahrscheinlich die mehresten Leute harren doch recht gern solange als möglich, denn in den himmlischen Freudensaal kommen wir alle zeitig genug. Aber einer Reise nach Italien entsagen zu müssen, wenn schon beinahe der Wagen vor der Türe steht, das ist ein Unglück, von dem ich gar nicht begreife, wie man es überlebt, ohne wenigstens vor Verdruß darüber den Verstand zu verlieren. Armes, armes Kind! Warum mußten Sie auch so ganz zur unrechten Zeit von dem bösen Fieber befallen werden! Sie dauern mich ungeheuer, ach! Und hätten Sie nur, wie ich, die Glücklichen abfahren gesehen! Ehegestern ging es fort, gleich am frühen Morgen nach dem Hochzeittage. Das junge Ehepaar fuhr allein, in einem ganz neuen, deliziösen, englischen Wagen; den Platz in der Batarde der Gräfin, der Ihnen bestimmt war, nahm Aureliens Bella ein. Das ist pikant, nicht wahr? Gewiß niemand darf es Ihnen verdenken, wenn Sie ein wenig mit dem Schicksal grollen, es spielt Ihnen wahrlich dies Mal übel mit.“

„Soll ich dich nicht auf dein Zimmer führen?“ fragte ängstlich Auguste; aber Gabriele bestand darauf da zu bleiben, versicherte, sich sehr wohl zu befinden, und bat die Gräfin Eugenia um nähere Nachricht von der Tante und Aurelien.

„Von beiden bringe ich Ihnen tausend Abschiedsgrüße“, sprach Eugenia, „ich kam erst gestern abend von Rosenhain wieder nach Hause, denn einem alten gegenseitigen Versprechen zufolge, mußte ich Aurelien als Brautführerin zum Altar geleiten. Es war recht gut, daß ich gleich mitreisen konnte, da Sie zu Hause bleiben mußten, liebe Gabriele! Die Gräfin und Aurelia hätten sich sonst in Rosenhain vielleicht zu oft allein gefühlt, denn Ottokar machte sich sehr selten. Geschäfte und Reiseanstalten hielten ihn fern von uns, sagte man. Überhaupt hat er, meiner Meinung nach, als Bräutigam an Amabilität nicht gewonnen; vielleicht kommt das im Ehestande nach. Solange ich jetzt in Rosenhain mit ihm zusammen lebte, war er wenigstens – maussader als je –, möchte ich sagen, wenn ich mich nicht hier vor den strafenden Blicken der Mamma Willnangen fürchtete, die von jeher diesem ihrem lieben Schoßkinde in allen seinen Arten und Unarten gefälligst nachzusehen gewohnt ist.“

„Schelten Sie den Grafen nicht, weil er nicht leichtsinnig den wichtigsten Schritt seines Lebens vollbrachte“, sprach Fräulein Silberhain. „Ach! Wer müßte nicht in einem solchen Zeitpunkte sich und sein Gemüt in der tiefsten Stille zu heiligen suchen! Lehrt uns nicht die schöne Geschichte vom jungen Tobias“ – – –

„Ob Ottokar so fromm ist, wie der junge Tobias oder wie Sie, liebe Silberhain, ihn sich denken, weiß ich nicht“, unterbrach Eugenia das Fräulein. „Aber langweilig genug war er wenigstens. Ich schiebe alles dies einzig auf die Luft, die um jene Zeit im Rosenbergschen Hause höchst perniziös gewesen sein muß. Unsre liebe kleine Gabriele erkrankte ja auch am Verlobungsabend, und Ottokar muß ebenfalls zur nämlichen Stunde von einem besondern Schwindel ergriffen worden sein; denn er plantierte beim Souper nicht nur die Gesellschaft – das hätte noch hingehen mögen, aber auch die zärtliche Braut, die neben einem leeren Stuhl sitzen mußte. Sein Lorenz erschien zwar, wie wir uns schon an der Tafel rangierten, mit einer sehr lahmen Entschuldigung seines Herrn, der plötzlich höchstwichtige Briefe erhalten haben sollte, aber der naseweise Mensch schnitt zu dieser Entschuldigung ein so pfiffig hämisches Gesicht, daß alle merken mußten, woran sie waren; selbst die, welche nicht wie ich daran dachten, daß mittwochs keine einzige Post hier eintrifft.“

Frau von Willnangen verging fast vor Angst um Gabrielen bei diesem Gespräch, vergebens bemühte sie sich, ihm eine andere Wendung zu geben oder doch wenigstens Gabrielen zum Fortgehen zu bewegen. Diese wollte keinen ihrer sie dazu einladenden Winke verstehen, und sowohl Fräulein Silberhains Lust am Fragen als Eugeniens Lust am Antworten ließen die Unterhaltung nicht fallen, welcher Gabriele mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörte.

„Nie in meinem Leben habe ich eine einer wandelnden Leiche so ähnliche Gestalt gesehen als Ottokar beim Antritt der Reise nach Rosenhain“, sprach Eugenia weiter. „Gewiß! Er war sehr krank, denn solche Totenblässe, solche trübe, zugeschwollene Augen, solche Veränderung in allen Zügen finden sich über Nacht bei keinem Gesunden ein. Auch in Rosenhain wankte er so schattenähnlich umher, daß ich jeden Morgen zu hören fürchtete, er sei in der Nacht zum Tode erkrankt. Die Gräfin war deshalb in nicht geringerer Besorgnis als ich, allein er hielt sich aufrecht. Übrigens, wie gesagt, war er am Tage kaum sichtbar, wichtige Arbeiten fesselten ihn in seinem Kabinette, wie es hieß, obgleich ich nicht begreife, was sein Hof jetzt gerade mit Italien, wohin er gesendet wird, so Wichtiges zu verhandeln haben kann. Auch die Gräfin wunderte sich gewiß im stillen darüber, aber Sie kennen ihre Art, sich zu verbergen und immer dasselbe Gesicht zu behalten. Mir schien es, die Wahrheit zu sagen, als ob die Depeschen, welche ihn so beschäftigten, von hier oder doch sehr aus der Nähe kämen, denn an Botentagen kam er gar nicht vom Fenster weg, bis er die grünlederne Brieftasche erblickte, und eilte immer, der Erste zu sein, der sie aufschloß, um sein Päckchen herauszunehmen. Ich erkannte sogar einmal, kurz vor der Hochzeit, Ernestos Hand auf der Adresse eines seiner Briefe.“ – „Und Aurelia?“ fragte Gabriele.

„Von der läßt sich wenig sagen“, erwiderte Eugenia, „Sie kennen ja das fröhliche Geschöpf. Sie sah nichts, sie merkte nichts, sogar nicht, daß der Hochzeittag von Woche zu Woche, endlich einen ganzen Monat hinaus verschoben ward. Über die Freude, einige Offiziere, die in der Nachbarschaft einquartiert waren, zu erobern und auszulachen und über die noch größere, ein paar Landjunker zu mystifizieren, vergaß sie Italien und die Hochzeit mitsamt dem Bräutigam.“

„Sie behandeln das junge Paar zu strenge“, sprach endlich Frau von Willnangen, „ich hoffe, sie lieben einander, und wenn gleich keine heftige Leidenschaft“ –

„Wer leugnet denn, daß sie einander lieben?“ unterbrach sie Eugenia ziemlich eifrig, „keines von beiden ließ es an Beweisen davon fehlen. Aurelia neckte ihren Ottokar, sowie sie seiner ansichtig ward, und, Sie wissen es ja, nach dem alten Sprichwort liebt sich, was sich neckt. Ottokar gab hingegen seine Zärtlichkeit für seine Braut auf modernere Art zu erkennen. Es war, als ob er alle Modisten, Blumisten und Juweliere auf zwanzig Meilen in die Runde mit einem Zauberstabe regiere, so unerschöpflich war der Reichtum mannigfaltiger Geschenke, mit welchem er sie überschüttete. Jeder Morgen brachte ihr irgendeine elegante, oft sehr kostbare Kleinigkeit von ihm, abends überraschte er sie durch Nachtmusiken, Feuerwerke, kleine ländliche Feten. Welche andere Beweise seiner Liebe konnte Aurelia sich wünschen? Zum Glück besitzt Graf Ottokar an seinem Lorenz ein unerschöpfliches Genie für die Anordnung dergleichen Dinge, aber gut war es doch, daß endlich der Hochzeittag dem allen ein Ende machte, denn die Erfindungen des Kammerdieners wollten doch nicht mehr recht zureichen, um die geistigen und körperlichen Abwesenheiten seines Herrn zu bedecken.“

So plauderte Eugenia ungestört fort. Frau von Willnangen sowohl als Auguste hatten es aufgeben müssen, sie unterbrechen zu wollen. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als den Eindruck zu beobachten, welchen ihre Erzählung auf Gabrielen machte, besonders da die Erzählerin, vom Fräulein Silberhain durch noch dringendere Fragen angeregt, sich anschickte, die eigentliche Hochzeitfeier auf das umständlichste zu beschreiben.

„Die Trauung geschah in der Dorfkirche und zwar sehr früh am Morgen. Beinah mit Sonnenaufgang, denn so hatte es Ottokar gewollt“, sprach Eugenia. „Und da er zum ersten Mal etwas wollte“, fügte sie hinzu, „so staunte man zwar ein wenig über dieses Ansinnen, ließ es aber dennoch gelten, obgleich Aurelia hoch und teuer versicherte, daß sie und wir alle die abscheulichste Migräne vom frühen Aufstehen davontragen würden.“

Nun ließ sich Eugenia auf eine sehr genaue Beschreibung des prächtigen Négligés von Brüssler Spitzen ein, welches die Braut an dem festlichen Morgen getragen hatte, auch der kleinsten Garnierung desselben geschah ehrenvolle Erwähnung, ehe das Betragen des Brautpaars während der Trauung zur Sprache kommen konnte. Eugenia lobte Aureliens sich durchaus gleichbleibende Fassung und ihren vornehmen, man möchte sagen königlichen Anstand während der Zeremonie, indessen Ottokar bei der endlosen, langweiligen Vorbereitungs-Rede des Pfarrers totenbleich hin- und herschwankte, bis der Moment kam, das feierliche Ja auszusprechen. „Da war es denn doch“, erzählte Eugenia weiter, „als ob es ihm einfiel, daß sein Benehmen nicht ganz das eines Menschen sei, der sich am Ziele lang ersehnter Wünsche sieht, und daß es deshalb allen Gegenwärtigen als höchst befremdend auffallen müsse. Er nahm sich ordentlich mit einem Ruck zusammen“, sprach sie, „stand plötzlich aufrecht da, und sein Gesicht belebte sich zu einem Ausdruck, den wir, solange er in Rosenhain war, an ihm vermißt hatten. Ich muß gestehen, es gab einen Augenblick, während welchem er wieder recht schön war, als er mit glänzenden, himmelwärts gewendeten Augen zum Gewölbe der Kirche aufblickte, und dann, nach einer fast unmerklich kleinen Pause, das verhängnisvolle Ja laut und vernehmlich von sich hören ließ. Aber dies Wörtchen mußte auch wie ein Zauberspruch auf ihn gewirkt haben, denn auf dem Wege aus der Kirche war der steinerne Mann mit einem Mal wieder lebendig geworden. Sowie wir zu Hause angelangt waren, drückte er zum ersten Mal seine Braut an seine Brust, wenigstens sahen wir es zum ersten Mal. „Aurelia!“ fing er höchst feierlich, ich glaube gar mit Tränen in den Augen, an und hätte wahrscheinlich ein Supplement zu des Pfarrers Rede geliefert, aber Aurelia machte sich beizeiten los, versicherte, todmüde zu sein und eilte in ihr Zimmer. Gleich darauf schickte sie uns ihre Jungfer mit dem Bedeuten, daß sie nicht eher als bei der Tafel sichtbar werden könne, weil sie durchaus vom frühen Aufstehen ruhen müsse, um nicht den ganzen Tag unwohl zu sein. Ich gestehe es, wir sowohl als der eben aufgetaute Bräutigam blieben bei dieser Erklärung mit recht langen Gesichtern stehen.

„Und wie äußerte sich denn der Bräutigam bei dieser Laune seiner Braut?“ fragte jetzt Frau von Willnangen.

„Er sagte das Klügste, was sich unter solchen Umständen sagen ließ, nämlich gar nichts, kein einziges Wörtchen“, antwortete Eugenia. „Die Gräfin, die sich immer zu helfen weiß, ergriff gleich seinen Arm, um mit ihm die Anstalten zur Bewirtung einiger Hundert Bauern aus der Umgegend zu besehen, denn ein festlicher Tag sollte bloß durch ein Volksfest gefeiert werden, da man am folgenden Morgen sehr früh abzureisen beschlossen hatte. Ottokar ging ganz in die Ideen seiner neuen Schwiegermutter ein und nahm sich des Empfanges und der Unterhaltung seiner ländlichen Gäste mit großem Eifer an, bis später, kurz vor der Tafel, die holde Braut ungerufen erschien und mit ihm im vollen Schmuck, unter dem Vivatrufen der Bauern, durch ihre Reihen zog.“

„Sehen Sie mich nicht so unruhig, nicht so bekümmert an, liebe, teure Frau“, sprach Gabriele zur Frau von Willnangen, sobald Eugenia endlich mit ihrer Erzählung zugleich ihren Besuch beendet und das Zimmer verlassen hatte. „Auch du, meine Auguste, sei getrost! Was ängstigt euch denn, ihr lieben beide?“ setzte sie hinzu, indem sie ihre vereinten Hände an ihre Brust drückte und mit den klaren, treuen Augen zu ihnen aufblickte. Beide umarmten sie schweigend, und Gabriele fuhr fort zu reden.

„Wonach ich lange im stillen mich sehnte, ist mir in dieser Stunde geworden“, sprach sie gleichsam zu sich selbst. „Ich habe Nachricht von ihm, von seinem Leben, seit wir uns trennten, vom Vollbringen dessen, was geschehen mußte, alles ist vorbei – alles, alles ist vorbei“, wiederholte sie und sank in die Kissen des Sofas zurück. Doch ermannte sie sich sogleich wieder und richtete sich auf, mit der in solchen Momenten ihr eigentümlichen Kraft. Frau von Willnangen vermochte es nicht, ihr etwas Zweckmäßiges oder auch nur Zusammenhängendes zu erwidern, nicht allein, weil sie in zu heftiger Bewegung sich befand, auch ihre Ansichten von Gabrielens Geschick schwebten noch immer in zu verworrener Gestaltung ihr vor. In der Verlegenheit, doch etwas sagen zu müssen, stammelte sie einige Worte von unbegreiflichen Täuschungen, von unerklärlichem Benehmen, doch schnell unterbrach sie Gabriele: „Glauben Sie mir“, sprach diese, „keine Täuschung, nichts Unerklärliches liegt zwischen mir und Ottokar; um uns ist alles hell und klar wie das Sonnenlicht. Zwar werden wir auf Erden uns schwerlich wiedersehen, aber dennoch halten wir fest im Glauben aneinander. Wir haben uns einmal gefunden, wir haben uns einmal verstanden, und das genügt uns, um nie in keinem Moment des Lebens aneinander irre werden zu können.“

Die Lebhaftigkeit, mit welcher Gabriele diese Worte sprach, versetzte Frau von Willnangen in die höchste Besorgnis um sie. Sie hatte den Moment, von dem sie so vieles aufgeklärt zu sehen hoffte, das bis jetzt ihr dunkel geblieben war, schon lange im Verborgnen herbeigesehnt. Jetzt war er unerwartet ihr erschienen, und sie wünschte beinah noch weit sehnlicher, ihn verschieben zu können, wäre es auch auf immer. Das stürmische Pulsieren des jungen Herzens, das, wie Ruhe suchend, sich im Laufe des Gesprächs an ihre Brust gelehnt hatte, erfüllte sie mit Angst um die kaum Genesene. Sie sah mit Entsetzen, wie alles Blut aus diesem armen Herzen in einem Moment auf Gabrielens Wangen glühte, im nächsten in dessen Tiefen zurückströmte und nur die bleiche Farbe des Grams auf dem holden Gesicht zurückblieb. Aber alle Versuche, die ihr jetzt so furchtbar scheinende Unterredung abzubrechen, waren vergeblich.

„Lassen Sie mich jetzt die Brust mir frei sprechen“, erwiderte Gabriele ihren Einwendungen; „fürchten Sie nicht, daß mir die Kräfte dazu fehlen, ich fühle mich und weiß, daß ich in dieser Stunde es vermag. Es ist mir ein Trost, denn schon lange sehne ich mich, Ihre unsägliche Liebe durch ebenso ungemeßnes kindliches Vertrauen zu erwidern. Hernach will ich ruhen, und Sie werden gewiß mit dem kranken Kinde nachsichtig umgehen. Ja, ich liebe Ottokar, und er weiß es, denn in der höchsten Stunde meines Lebens, die mir ewig allein dastehen wird, in Freude und Schmerz, habe ich es ihm gesagt. Wovor erschreckt ihr denn wieder? Gott kennt ja meine Liebe, ich schämte mich ihrer nicht vor ihm, warum sollte ich sie denn dem einzigen Wesen verbergen, das gewiß nach seinem Willen zu mir gehört, wenn wir gleich, durch irdische Verhängnisse eingezwängt, fern voneinander jedes seinen eignen Weg gehen müssen. Auch Ottokar liebt mich! Wir fanden uns in seligen Schmerzen, in trüber Wonne, nur einen Moment, um uns gleich wieder zu trennen; und nun ist es gut. – Es ist alles sehr gut!“ wiederholte sie nach einer kleinen Pause und drückte, sanft weinend, Mutter und Tochter fester an sich. Beide weinten verstummend mit ihr.

„Wir sollten eigentlich nicht weinen“, sprach Gabriele bald darauf, „ich bin ja nicht unglücklich, ich bin ja nicht beklagenswert, warum weinen wir denn? Ich habe gelebt und geliebt! Beut mir die Zukunft keine Freude mehr, so brauche ich auch dafür sie nicht mehr zu scheuen. Wohin Sie, liebe Mutter! durch Jahre voll Schmerz hin gelangten, dahin bin ich in früher Jugend, in einer kurzen Stunde gekommen; ich bin in ihr alt geworden und kann nun ohne Furcht überall hintreten, meine Ruhe ist gesichert. Ein zweiter Schmerz wie dieser droht mir nicht wieder, denn das Herz liebt nur einmal, wie es nur einmal bricht. Es war ein artiges Spiel des Zufalls, daß unter den Blumen, die ich von Ottokar erhielt, auch die eine sich befindet, welche nur einmal um Mitternacht eine Stunde lang blüht und dann auf immer sich schließt. Ich erhielt in dieser Blume ein Vorbild meines Geschicks, und von ihm.“

„Gabriele, wüßtest du, wie diese deine kalte Verzweiflung mich quält!“ rief Frau von Willnangen; „was soll, was kann ich tun, um dich davon zu retten? Ach ich selbst, ich Unbesonnene, war es ja, welche in deinem jungen Gemüte Wünsche und Hoffnungen immer mehr entflammte, die ich hätte unterdrücken sollen, die nun dein Verderben sind! Jetzt weiß ich dies, aber damals blendete ich mich selbst. Ich wollte an die Erfüllung jener Wünsche und Hoffnungen glauben, weil auch ich sie im Herzen hegte, und du gehst nun an ihnen zugrunde.“

„Wie Sie mich mißverstehen, teure Frau!“ erwiderte mit wehmütigem Lächeln Gabriele. „Ich bin ja fern von Verzweiflung, glauben Sie mir, ich bin sogar nicht unglücklich, denn wehmütige Erinnerungen, tiefgefühlte Sehnsucht sind ja nicht Unglück. Verstehen Sie doch alles wörtlich, wie ich es Ihnen sage, ich flehe darum, denn wie ich es meine, spreche ich es aus, immer in einfacher Wahrheit. Nie hegte ich die Wünsche, die Hoffnungen, auf welche Sie mit Winken hindeuteten, die ich jetzt erst verstehe. Nie sogar habe ich mit Bewußtsein mir ihre Möglichkeit gedacht, nie sie empfunden. Ich liebte Ottokar wie ich atme, wie ich die Sonne, das Leben liebte. Ich vergaß bei ihm der Vergangenheit und gedachte keiner Zukunft; ich war glücklich und unglücklich in der Gegenwart, ohne mich weiter um etwas zu kümmern. Ja ich will Ihnen nichts verhehlen; nur wie ich Aurelien als seine Braut sah, da erst fiel es mir ein, daß auch auf mich seine Wahl hätte fallen können, da erst, liebe Mutter! und legen Sie es mir nicht als Unwahrheit aus, wenn ich sage, ich hätte eingewilligt, wenn er mich gewählt hätte, wie ich in alles willigen müßte, was er so recht, aus der Tiefe seines Gemüts wollen könnte, aber es wäre ein Opfer gewesen, das ich seinem Wollen brachte. Neidlos sehe ich Aureliens Geschick; ich habe es nie für mich gewünscht, glauben Sie es mir; segnen will ich sie, sie lieben wie ihn, wenn sie ihn so glücklich macht, wie er es durch eine solche heilige Verbindung werden könnte.“

Mit diesen Worten und der Bitte, den Tag ganz allein bleiben zu dürfen, zog Gabriele sich in ihr Zimmer zurück. Dort in der Einsamkeit ließ allmählich die Spannung nach, in welche Eugeniens Erzählung und das darauf folgende Gespräch mit ihren Freundinnen sie versetzt hatten. Sie versank in tiefes Nachdenken; jedes Wort, jede noch so leise Andeutung Eugeniens gingen nochmals ihrem Geiste vorüber; alle waren ihr ein unerschöpflicher Quell von Freude und Schmerz, von dem sie zu fühlen glaubte, daß er ihr ganzes Leben hindurch nicht versiegen könne.

Aus dem von Eugenien nur ganz obenhin erwähnten Umstände, daß sie Ernestos Hand auf einem Briefe an ihn bemerkt habe, ahnete Gabriele, was wirklich geschehen war. Ottokar war auf irgendeine Weise von ihrem Erkranken benachrichtiget worden, er hatte alle Qualen der bängsten, zur Hülfe ohnmächtigen Sorge um sie gelitten, er hatte in martervoller Todesangst um sie gebebt, während sie an den Pforten des Todes in süßer Bewußtlosigkeit lag und wahrscheinlich so hinübergeschlummert wäre, ohne Schmerzen zu fühlen. Durch Ernesto hatte er gewußt, bestimmte Nachricht von ihr zu erhalten, ohne ihn dennoch zum Vertrauten der Art des Anteils zu machen, den Gabriele in ihm erregte. Als ob Ottokar selbst es ihr gestanden habe, so bestimmt wußte Gabriele jetzt, daß nur Besorgnis um ihr Leben seinen auffallenden Trübsinn veranlaßte, über den Eugenia sich so spottend geäußert hatte; daß nur diese Sorge ihn bewog, den Tag seiner Vermählung immer weiter hinauszuschieben, und daß nur die Überzeugung, sie sei genesen, ihn ermutigen konnte, das unvermeidliche Opfer endlich zu bringen, welches für das ganze Leben ihn von ihr trennte und ihn sogar aus der Luft verbannte, in welcher sie atmete.

Aureliens und ihrer sich immer gleichbleibenden Art sich gegen Ottokar zu benehmen, gedachte Gabriele nur mit tiefem Schmerz; denn alles überzeugte sie, daß diese kalte, lieblose, spottende Natur sich nie an seiner Seite erwärmen, nie ihn liebend beglücken könne. Daher vermied sie den Gedanken an sie oder versuchte wenigstens, sich selbst durch die Hoffnung zu täuschen, daß es am Ende ihm doch wohl gelingen könne, die bösen Geister, die sein Glück verhinderten, durch die seiner höhern Natur eigene Güte zu bannen und die Gefährtin seines Lebens für sich zu gewinnen. Wenn alles fehlschlägt, so bleibt ihm der Trost, an den auch ich mich halte, die Überzeugung, das Rechte gewollt und vollbracht zu haben, und mein Andenken, setzte sie ganz leise sich zur Beruhigung hinzu.

Noch während des Laufes des Winters hatte Frau von Willnangen den Entschluß gefaßt, den größten Teil des Sommers in den böhmischen Bädern zuzubringen. Durch Gabrielens Krankheit war die Ausführung dieses Plans einstweilen in Vergessenheit geraten; nun sie aber wieder genas, kam er aufs neue zur Sprache. Der Arzt drang sogar darauf, ihn baldmöglichst und zwar in Gabrielens Begleitung auszuführen, er hoffte viel Erfreuliches für ihre völlige Herstellung, nicht sowohl von den Heilquellen als von den Zerstreuungen, welche stets im Gefolge einer solchen Reise sind.

Es war durchaus notwendig, die Erlaubnis des Baron Aarheim zu dieser Reise seiner Tochter einzuholen, und Frau von Willnangen übernahm es sehr gern, ihn schriftlich darum zu ersuchen. Seine Einwilligung erfolgte sogleich und in den verbindlichsten Ausdrücken; nur war die einzige Bedingung beigefügt, daß Gabriele jede Stunde bereit sein müsse, zu ihrem Vater zu eilen, sobald er ihre Gegenwart verlange.

Nicht ohne Schrecken hatte der Baron die Nachricht vernommen, daß Gabriele mit der Tante nicht hatte nach Italien reisen können, denn er fürchtete nun jeden Augenblick, sie in seinem alten Bergschlosse eintreffen zu sehen. Diese schickliche Gelegenheit, sie noch einige Zeit von sich entfernt zu halten, überhob ihn einstweilen jener Sorge, und ward deshalb freudig von ihm ergriffen. Dennoch war er jetzt sehr zufrieden, daß nicht die Alpen zwischen ihm und seiner Tochter als Scheidewand dastünden, weil er sich seit einigen Tagen dem Ziel seines Strebens so nahe glaubte, daß er oft die völlige Entschleierung des großen Geheimnisses von der nächsten Sekunde erwartete.

Seit er so ganz allein, fern von jeder äußern Störung, in Schloß Aarheims düstern Mauern hauste, hatte er sich mit rastloser Leidenschaft, ja bis zur Erschöpfung aller seiner Kräfte, jenen geheimnisvollen Arbeiten hingegeben. Kein freundliches, lebendes Wesen durfte ihm nahen, der Wechsel der Jahreszeiten ging unbemerkt an ihm vorüber, er wußte nicht, ob die Bäume grünten oder ob Schnee sie bedeckte, er sah sogar nicht das Licht der Sonne, denn die schweigenden Nächte sagten seinem dunkeln Treiben am besten zu. Deshalb schlief er, wenn alles wachte, und während jedes glückliche Geschöpf nach des Tages Last und Lust Ruhe sucht, begann sein ängstliches Wirken im dunkeln Kreis der finstern Mächte, die kein Sterblicher ungestraft ruft, wenngleich vielleicht keiner je von ihnen Antwort erhielt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele