Sechster Abschnitt. - Mit dem neuen Jahre war endlich der Zeitpunkt erschienen, der eine gänzliche Umänderung in Gabrielens ihr allmählich lieb gewordner Lebensweise hervorbrachte. Von nun an ward sie die beständige Begleiterin ihrer Tante ...
Mit dem neuen Jahre war endlich der Zeitpunkt erschienen, der eine gänzliche Umänderung in Gabrielens ihr allmählich lieb gewordner Lebensweise hervorbrachte. Von nun an ward sie die beständige Begleiterin ihrer Tante durch die ganze lange bunte Reihe von Lustbarkeiten, welche das Karneval in der großen, lebenslustigen Stadt herbeiführte. Bälle, Soirees, Schauspiele aller Art raubten ihr jeden Abend, und die Zurüstungen zu diesen verkümmerten ihr manche Morgenstunde, die sie sonst andern Beschäftigungen zu widmen gewohnt war.
Mit aller Kraft ihres Geistes suchte sie jetzt die ängstliche Blödigkeit zu überwinden, welche ihre ersten Schritte in der Gesellschaft so unsicher gemacht hatte. Es gelang ihr nach und nach. Das Blendende der Erscheinungen, das betäubende Geräusch verloren allmählich die Gewalt, ihr zu imponieren, ihre Existenz in der Welt ward mit jedem Tage angenehmer und obgleich sie sich oft nach den stillen, genußreichen Abenden sehnte, welche sie sonst bei Frau von Willnangen zu verleben gewohnt war, so gab es doch auch oft Stunden, in denen sie sich recht jugendlich heiter an dem bunten Leben ergötzte.
Dennoch war ihre Erscheinung in demselben nichts weniger als brillant. Als eine nahe Verwandte der von allen gefeierten Gräfin Rosenberg, in deren Begleitung sie überall erschien, verfehlte man zwar nicht, ihr die Aufmerksamkeit zu erzeigen, zu welcher dieses Verhältnis sie berechtigte; aber eigentlich betrachtete man sie doch noch immer als ein halbes Kind, und sie hätte gewiß an manchem Abend die Reihe der ungestört gähnenden Opfer der Sozietät vermehrt, welche man in allen Salons-Ecken sitzen sieht, wäre nicht Ernesto ihr treuer Beschützer geblieben, und hätte nicht Frau von Willnangen diesen Winter der gewohnten Ruhe weit öfterer als sonst entsagt, um ihren Liebling in so ungewohnten Verhältnissen nicht ganz verlassen zu wissen.
Ottokar sah Gabrielen jetzt täglich, ohne daß beide einander deswegen viel näher gekommen wären. Er zeichnete sie nicht minder als Aurelien aus, durch tausend kleine Aufmerksamkeiten, die er, als der Gast der Gräfin, ihnen vor andern schuldig zu sein glaubte, übrigens aber blieb ihr gegenseitiges Verhältnis fremd und abgemessen wie zuvor.
Nur selten, besonders aber am Neujahrsabende, bei ihrem Eintritt in die große Welt, hatte er ihr einige Teilnahme gezeigt. Die Gräfin feierte den Schluß des festlichen Tages mit einem Ball, den sie den jüngern Bekannten Aureliens gab. Einsam und vergessen saß Gabriele lange in einer Ecke des Tanzsaals. Sie gedachte der Neujahrsabende, welche sie als fröhliches Kind an der Hand der Mutter in den hohen, düstern Sälen von Schloß Aarheim verlebt hatte. Die Tanzmusik tönte nur wie aus weiter Ferne in ihre Träume, als Ottokar plötzlich vor ihr stand und ihr seine Hand bot, um auch sie den fröhlichen Reihen zuzuführen. Es war der erste festliche Tanz ihres Lebens, ihr schwindelte, noch ehe sie den Tanzplatz betrat. Ottokar merkte ihr Schwanken, schrieb es ihrer gewohnten Furchtsamkeit zu und umfaßte sie nur um so fester, um sie vor jedem möglichen Zufall zu sichern. Gabriele fühlte den Druck seines Armes, das Säuseln seines Atems in ihren Locken, sie sah sein freundliches Auge ganz nahe auf sie herabblitzen und schwebte, an ihn gelehnt, wie auf geflügelten Sohlen durch den weiten Saal, so leicht, so anmutig, daß selbst die Tante ihr freundlich Beifall zunickte. Mit ihm so durch das Leben! Der Gedanke flog zum ersten Mal wie ein Pfeil, in stechendem Schmerz, durch ihr Innres; ein unendlich betrübendes Gefühl bewegte sie fast bis zum Weinen, und noch nie hatte sie sich so vereinzelt, so ganz verlassen gefühlt, als da Ottokar nach beendigtem Walzer sie zu einem Sitz führte und sie dann mit einer stummen Verbeugung verließ, um sich eine andre Tänzerin zu wählen.
Eines Abends, in einer großen Gesellschaft, wandte sich das Gespräch auf den echt spanischen Fandango. Aurelie war eben in sehr glänzender Laune, und so bedurfte es nicht großer Überredungskraft, um sie zu bewegen, ihn zu tanzen, obgleich die musikalische Begleitung, außer dem Tambourin und den Kastagnetten, nur noch aus einem Pianoforte bestehen konnte und an einen Mittänzer gar nicht zu denken war.
„Du kennst die Figuren des Fandango, ich weiß es vom Tanzmeister“, sprach Aurelia zu Gabrielen, indem sie die sich vergeblich Sträubende in die Mitte des Saales mit sich fortzog; „übrigens“, setzte sie noch wie ihr zum Tröste hinzu, indem sie ihr die Kastagnetten aufzwang, „übrigens hat es wenig zu bedeuten, wer neben mir herhüpft.“
Die mehrsten der Anwesenden, sogar die Gräfin, blickten mit mitleidiger Besorgnis auf die arme Gabriele, die beinahe zitternd, mit niedergeschlagenen Augen dastand, während ein dichter Kreis von Zuschauern sich um sie und ihre Cousine bildete. Endlich sah sie auf, ihr erster Blick fiel auf Ottokar, der neben Ernesto stand und sie mit ängstlicher Teilnahme betrachtete. Unfern von beiden winkte ihr Frau von Willnangen Mut zu, und nie war diese Gabrielen der verlornen Mutter so täuschend ähnlich erschienen. Der Anblick der befreundeten Gestalten, die ersten Takte der ihr bekannten Musik, aus welcher ihr Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit widerhallten, begeisterten sie; die Gewalt, mit der sie ihre Ängstlichkeit niederzukämpfen suchte, verknüpft mit dem lebhaften Wunsche, die durch ihr Gelingen zu erfreuen, welche ihr wohlwollten, versetzten sie in eine Art von Ekstase. Wider alles Erwarten gelang es ihr, mit unnachahmlicher Grazie auch den künstlichsten Wendungen Aureliens zu folgen, die jetzt in vollem Ernst mit der eben Verachteten zu wetteifern begann.
Wie ein weißer Schmetterling die prachtvoll erblühte Zentifolie umflattert, so schwebte die kleine Sylphidengestalt um die hohe schöne Aurelia her. Der Anblick war wirklich entzückend, lauter, rauschender Beifall übertönte fast das Pianoforte; nach beendetem Tanze drängte sich alles, um beide mit Lob- und Danksprüchen zu überschütten, vorzüglich aber Gabrielen; denn ein unerwartet neu entdecktes Talent gilt immer mehr als ein längst bekanntes. Frau von Willnangen, Ernesto, Ottokar sogar, erhoben Gabrielen bis in die Wolken, andre folgten diesen anerkannten Koryphäen des guten Geschmacks, sogar die Gräfin erklärte sich für stolz auf ihre liebe Nichte und umarmte sie mit großer Zärtlichkeit. So ward das Unerhörte herbeigeführt, daß Aurelia wirklich zu ihrem eignen höchsten Erstaunen ein paar Minuten lang um der kleinen Cousine willen vergessen und verlassen dastand, und diese Erfahrung war ihr nicht weniger neu, als Gabrielen die der allgemeinen, laut ausgesprochenen Bewunderung.
Mit dem Scharfblick besorgter Mutterliebe bewachte Frau von Willnangen Ottokars Benehmen gegen Gabrielen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Nichts war ihrem genauen Aufmerken entgangen, weder jenes festere Umfangen ihres Lieblings beim ersten Tanze in der Neujahrsnacht, noch sein Besorgtsein um Gabrielen, als Aurelia sie zum Fandango hinzog. Freudig hatte sie gesehen, mit welchem Entzücken er hierauf jeden ihrer Schritte mit den Augen verfolgte, zuletzt in laute Bewunderung ausbrach und sich den andern vordrängte, um der erste zu sein, der ihr für das allen gewährte Vergnügen seinen Dank aussprach.
Auch in Ottokars übrigem Betragen gegen Gabrielen glaubte sie, wenngleich nicht leidenschaftliche Liebe, doch ein stilles Hinneigen zu ihr zu erblicken, denn Wunsch und Hoffnung sind zu nahe verwandt, als daß sie im Laufe des Lebens nicht oft sollten eins für das andere gehalten werden. Frau von Willnangen gewöhnte sich nach und nach, alle die kleinen Aufmerksamkeiten mit in ihre Waage zu legen, durch welche Ottokar die Hausgenossin, die nahe Verwandte seiner Gastfreundin, vor andern auszeichnete. Sie sah, mit welcher zarten Schonung und zugleich mit welcher Gewandtheit er so manche kleine, Gabrielen drohende Verlegenheit von dieser abzuwenden wußte; sie legte alles zum Vorteil ihrer Wünsche aus, und wahrhaft mütterliche Liebe verleitete sie endlich zu Mißgriffen, welche bei der welterfahrenen, klugen Frau sich nur durch dieses vorherrschende Gefühl entschuldigen lassen.
Zu diesen Mißgriffen gehörte, daß sie nicht nur es nicht vermied, mit Gabrielen über alle jene ihr bedeutend dünkenden Zufälligkeiten in Ottokars Benehmen gegen sie zu sprechen, sondern sie sogar aufmerksam darauf machte und sie ihr aus einem Gesichtspunkt zeigte, der für Gabrielens Ruhe durchaus gefährlich werden mußte. Augustens ewig heitre Phantasie, ihre warme Anhänglichkeit an Gabrielen verleiteten auch diese, das Gemälde einer Zukunft vollends auszumalen, welche keine von ihnen mit deutlichen Worten zu nennen wagte, die aber Mutter und Tochter für jedes andere Gemüt, als Gabrielens, dennoch nur zu deutlich bezeichnet haben würden. Diese, zu wenig vertraut mit allem, was auf das wirkliche Leben Bezug hat, verlor sich nur mit süßer Schwärmerei in die von ihren Freundinnen ihr geöffnete helldunkle Aussicht. In ruhigen, einsamen Stunden strebte sie freilich, zu ihrer ehemaligen Resignation wieder zu gelangen, und war es sich so gar nicht bewußt, wie weit sie von ihr gewichen sei. Ottokarn zu werden, was er ihr war, diese Möglichkeit hatte sie noch nie mit klaren Worten sich gedacht, aber noch weniger die, daß eine andere so über alles von ihm geliebt werden könne. So verwirrten sich ihre Wünsche, ihre Hoffnungen immer mehr, sie vermied sogar, zur Klarheit über sie zu gelangen, und ihr Tagebuch enthielt von nun an nur die Ergießungen eines leidenschaftlich aufgeregten Gemüts, das sich scheut, ein Dunkel zu durchdringen, in welches es sich vor sich selbst verhüllt.
Der Winter zog allmählich fort, die Tage wurden länger, und im wärmeren Sonnenstrahl erglänzten schon die schwellenden Knospen der Bäume. An Gabrielens Rückkehr nach Schloß Aarheim ward indessen nicht gedacht, obgleich der anfänglich dazu bestimmte Zeitpunkt nicht mehr fern war. Der Baron, welcher mit jedem Tage seinem großen Ziele sich zu nähern glaubte und deshalb ungestört zu bleiben wünschte, hatte schon früher die Gräfin schriftlich um die Erlaubnis gebeten, den Aufenthalt seiner Tochter bei ihr auf unbestimmte Zeit verlängern zu dürfen, und Gabriele war zu sehr von der Gegenwart befangen, als daß sie den Wechsel der Zeiten hätte bemerken können. Tage und Monden gingen an ihr vorüber, ohne daß sie an die Möglichkeit einer Abänderung in ihren Verhältnissen gedachte.
Indessen konnte eine um diese Zeit entstehende geheimnisvolle Bewegung im Hause ihrer Tante ihr doch nicht verborgen bleiben, welche auch außer ihr jedermann bemerkte und niemand verstand; sogar Ernesto nicht, denn die Gräfin pflegte nach Art aller Frauen, die in der großen Welt eine Rolle zu spielen gewohnt sind, ihr eignes Geheimnis sicher zu bewahren, sobald sie es wollte. Sie selbst blieb still und freundlich, wie jemand, der dem Gelingen großer Pläne mit Zuversicht entgegen sieht. Dabei konnte sie indessen es doch nicht lassen, sich zuweilen mit halbverhüllten Winken an Gabrielen zu wenden, von denen es schien, als wollten sie dieser eine große Freude, ja sogar ein hohes Glück verkünden.
Aurelia erschien in dieser Zeit strahlender und übermütiger als je zuvor, Ottokar war mehr in sich gekehrt, und man bemerkte eine ihm sonst nicht gewöhnliche Ungleichheit der Gemütsstimmung in seinem Betragen. Unter der Dienerschaft herrschte ein immerwährendes leises Treiben, die Gräfin selbst leitete es, es sah aus wie Zubereitungen zu einem prächtigen Feste oder zu einer großen Reise oder zu beiden; niemand von den dabei Beschäftigten wußte es zu erklären, und alle zerbrachen sich darüber die Köpfe.
Gabriele bemerkte wohl, daß alle diese Erscheinungen auch auf sie Bezug haben müßten, sie sann über ihre Bedeutung nach, bis sie von der allgemeinen, dumpfen Unruhe quälend ergriffen wurde, und war nach jedem, so in vergeblichem Aufmerken verlebten Tage herzlich froh, wenn der Abend hereinbrach und der gewohnte Kreis sich in den Zimmern der Gräfin versammelte, welcher jetzt, nach den vorübergezogenen Zerstreuungen des Karnevals, wieder in seine alten Rechte getreten war.
Eines Tages schien die allgemeine Spannung der Hauptpersonen des Hauses auf das höchste gestiegen, noch nie waren die Gräfin so geheimnisvoll, Ottokar so ernst in sich gekehrt, Aurelia so übertrieben lustig gewesen. Allen, welche diesen Tag an der Mittagstafel der Gräfin teilnahmen, fiel dieses unheimliche Wesen bis zum Ängstlichwerden auf. Nichts konnte ihnen daher Erwünschteres kommen, als der für den Abend verheißene Besuch eines berühmten Deklamators, denn er versprach nicht nur Schutz gegen die bei dieser Stimmung der Gesellschaft zu befürchtenden Langeweile, sondern auch gegen etwaige Ausbrüche einer innern Aufgeregtheit der Gemüter, von der sich jedes ergriffen fühlte. Unter allen aber freute sich Gabriele darüber; noch nie war ihr Gelegenheit geworden, einen Künstler dieser Art zu hören, sie hatte überhaupt keinen Begriff, wie man das, was sie als Deklamation kannte, zum Hauptzweck seines Lebens machen könne, und erwartete daher etwas ganz Außerordentliches von einem sich einzig diesem Zwecke weihenden Künstler. Alles, was sie jemals von Improvisatoren, von Troubadours, von Barden, die als überall willkommene Gäste mit ihren Liedern durch die Länder zogen, ja sogar vom Wanderleben Homers gehört und gelesen hatte, kam ihr wieder ins Gedächtnis. Sie erwartete nicht viel Geringeres als alles dies zusammen und war daher nicht wenig verwundert, als der Erwartete in Gestalt eines hagern, kleinen, schwarzgekleideten, sehr jungen Männchens hereintrat und der Gräfin vorgestellt ward. Seine Ungeduld, sich hören zu lassen, schien nicht minder groß als die der Anwesenden, ihn zu hören. Er ergriff die erste Gelegenheit, sich anscheinend nachlässig in einen Lehnstuhl zu werfen und begann mit nicht auffallend angenehmen Sprachton seine Rezitationen.
Es war wunderlich anzusehen, wie er sich ängstlich abmühte, zu deklamieren, ohne dabei zu agieren. Mit der untern Hälfte des Körpers gelang es ihm, er saß mit kreuzweis übereinander geschlagnen Beinen wie angebunden auf seinem Sessel, aber die Züge seines Gesichts, Arme und Hände waren gleichsam wider seinen Willen in ewiger theatralischer Bewegung. Er hatte kein Buch nehmen wollen, weil er behauptete, sich vollkommen auf sein Gedächtnis verlassen zu können, dies aber vermehrte die Verlegenheit, in welche ihn die Haltung seiner Hände augenscheinlich versetzte. Freilich hätte er auch eine ganze Bibliothek herbeischaffen müssen, so viele ganz heterogene Dichtungen der heterogensten Dichter ließ er im schnellsten Wechsel aufeinander folgen. Endlich kam auch Macbeths bekannter Monolog an die Reihe. Schauerliches Schweigen herrschte im Saal, alles horchte seinen dumpfen, geisterartigen Tönen. „Ist das ein Dolch?“ rief er mit Macbeths stierem Blick und einem plötzlichen Griff auf den vor ihm stehenden Tisch. „Es ist nur die Lichtschere“, flüsterte Aurelia, laut genug, um von den nahe Stehenden, wahrscheinlich auch vom Deklamator selbst gehört zu werden, denn sobald dieser den Monolog beendet hatte, erinnerte er sich eines Versprechens, noch diesen Abend in einer andern Gesellschaft zu erscheinen, und eilte davon.
„Shakespeare! ach Shakespeare!“ rief die Gräfin, indem sie sich entzückt auf dem Sofa zurücklehnte, und so es vermied, ihr Urteil über den Deklamator zu frühe zu äußern. Beim Shakespeare war sie ihrer Sache gewiß, nicht so bei jenem, obgleich dem in allen Zeitungen Gepriesenen in jeder Pause seines Vortrags von einem großen Teil der Anwesenden lauter Beifall gezollt worden war. „Wie groß erscheint Shakespeare, wo man auch immer ihn antrifft!“ fuhr die Gräfin fort; „wie so gar nicht zu ertöten! Welch eine Höhe! Und welche Tiefe! Wie treten seine Gebilde hinaus in die Wirklichkeit!“ – „Ich bin nur froh, daß der Deklamator endlich zum Saal hinaus getreten ist“, sprach Ernesto ganz gelassen. Erstaunt sah die Gräfin ihn an und war doppelt froh, sich an Shakespeare gehalten zu haben, da nun auch der Professor anfing, Klopstocks Ode ›Teone‹ zu rezitieren.
Still auf dem Blatt ruhte das Lied, noch erschrocken Vor dem Getös des Rhapsoden, der es herlas, Unbekannt mit der sanftem Stimme Laut' und dem volleren Ton.
„Die armen Lieder!“ sprach lächelnd Auguste, „sie hatten nicht einmal ein Blatt, auf dem sie ruhen konnten, er sagte sie auswendig her, und mir ist daher noch immer, als fühle ich die heimatlosen Geister mich ängstlich umschwirren.“ Antonius wollte wenigstens das große Gedächtnis des Deklamators bewundert wissen, konnte aber nicht damit zustande kommen, denn Ernesto verdammte gerade dies Aus-dem-Kopfe-Hersagen als einen der ärgsten Mißgriffe, welche sich der Deklamator hatte zuschulden kommen lassen, und der Professor trat ihm treulich bei. „Wodurch wird das Lied zum Liede?“ sprach dieser; „durch den Rhythmus, den Versbau, die Wahl des Ausdrucks, nicht durch die poetische Idee allein. Mit der strengsten Auswahl wägt der Poet jedes Wort, jede Silbe, überall sucht er den Geist und die Harmonie aufs genaueste zu vereinen, und Gott weiß, wie schwer ihm dieses in unsrer an guten Reimen so armen Sprache oft wird. Verzweifeln müßte er, wenn er es anhörte, wie solch ein Deklamator alle seine Mühe vernichtet und die auswendig gelernten Lieder mißhandelt!“ – „Das ist's ja eben“, setzte Ernesto hinzu, „die Herren haben es nur auswendig und nicht inwendig, sonst müßten sie fühlen, was sie zerstören, wenn sie hier ein fremdes Wort einschalten, weil das rechte ihrem untreuen Gedächtnis entschlüpfte, dort einen falschen Akzent anbringen oder ein kurzes Wort dehnen, weil sie vom vorhergehenden eine Silbe verschluckten und nun mit dem Versmaß nicht auskommen. Auch das beste Gedächtnis sichert vor dergleichen nicht. Auf dem Theater verdecken Spiel und theatralische Täuschungsmittel diese Mängel so ziemlich, auch Sängern und Sängerinnen will ich es allenfalls nachsehen, wenn sie unsere Dichter verstümmeln, man versteht sie ohnehin nur selten und wird es also nicht gewahr; aber der Deklamator, der uns den vollkommensten Genuß eines poetischen Werkes verspricht, müßte sich nie in den Fall setzen, so fehlen zu können.“
„Ich wünschte fast, es gäbe gar keine Deklamatoren in der Welt“, sprach Frau von Willnangen; „wenigstens fühle ich immer das innigste Mitleid, wenn ich einen jungen Menschen sehe, der von falschverstandner Kunstliebe sich verleiten ließ, diesen Weg zu wählen, um darauf durch die Welt zu kommen.“
„Denen jungen Herren, die weder zum Graben noch zum Erlernen gründlicher Kenntnisse Lust haben, scheint dieser Weg aber sehr anlockend und bequem“, erwiderte der Professor, „sie denken noch obendrein, etwas Ungemeines für die Kunst zu tun, wenn sie von Stadt zu Stadt gehen und pathetisch hersagen, was andre Leute gedichtet haben und was jeder seit der Erfindung der Buchdruckerkunst in seinem Kabinett lesen und sich dabei das gerade für ihn Passende auswählen kann.“
„Dabei sind sie gewöhnlich in offenbarem Zwiespalt mit sich selbst“, setzte Ernesto hinzu. „Deklamieren mit Aktion oder ohne Aktion, das ist die Frage, die sie nie lösen können. Ersteres mitten im Zimmer auf plattem Boden hat denn doch immer etwas Komisches, abgerechnet, daß es auch dem eigentlichen Begriffe des Deklamierens ganz entgegensteht. Und sich beim Deklamieren im übrigen ganz ruhig zu verhalten, ist fast unmöglich, oder wird es erzwungen, so kann niemand sich an dem Anblick freuen. Eigentliches Deklamieren möchte ich ganz auf das Theater oder auf die Bühne der Volksredner verweisen, wenn es deren noch außer den Kanzeln gäbe; zur gesellschaftlichen Unterhaltung aber würde ich bloßes Vorlesen mit Ausdruck und Präzision allen Deklamatorien vorziehen.“
Es ward über diesen Gegenstand noch viel hin und her gestritten, bis Ernesto Gabrielen aufforderte, den Streit zu beenden und der Gesellschaft zu zeigen, was er mit Vorlesen eigentlich meine. Er kannte ihr schönes, sorgfältig von der Mutter gebildetes Talent und ergriff gern diese, wie jede Gelegenheit, seine junge Freundin nicht sowohl an das Licht zu ziehen, als vielmehr sie von der ängstlichen Befangenheit gänzlich zu befreien, von welcher sie noch zuweilen befallen ward. Auch dieses Mal gewährte sie nur mit innerem Zagen seinen Wunsch, überflog schnell mit den Augen ein Blatt, welches Ernesto ihr reichte, während die Lichter gerückt wurden und der Kreis der Anwesenden sich um sie her ordnete. Sie las zuerst etwas zaghaft, dann aber mit immer steigendem Affekt, immer eindringender, immer wahrer in Ton und Ausdruck, ganz sich und alle um sich her vergessend, wie an jenem Abende, als sie in Ottokars Gegenwart sang: la pura fiamma che m'arde in petto. Kein Hauch regte sich, alle waren an ihren Vortrag wie gebannt, denn man hörte, was sie las, war der innigste Ausdruck ihres eigensten Gefühls, und sie bezwang alle Herzen mit der Wahrheit Gewalt. Sie hatte das Gedicht, welches sie vorlas, zuvor nie gesehen, es war das neueste Erzeugnis eines jungen Poeten von Ernestos Bekanntschaft. Hier ist es:
O laßt mich ruhn an dieser lieben Stelle Nur einen kurzen, stillen Augenblick! Hier zog mein Tag herauf, so licht, so helle; O laßt mich ruhn an dieser lieben Stelle; Vergönnet mir dies arme, einzge Glück!
Ich will nicht um mich schaun; laßt mich vergessen, Daß eine Zukunft ist, daß Morgen kommt. Was über Heute liegt, ist unermessen, Und über Nacht zu denken, ist vermessen, Mit Sonst zu sprechen meinem Herzen frommt.
Wenn es der Welt noch einmal tagt, umdichten Mich Gram und Nacht. Dein Bild kann nur allein Die Nacht zur Dämmrung eines Traumes lichten, Und wie ein Traum mußt du vorüberflüchten, Geflügelt Glück! dein bin ich, du nicht mein.
Der hat ein süßes, hold Geschick empfangen, Wer dich, du zartes Bild, nur einmal sah; Mich hat dies Glück für immerdar umfangen, Bist du auch, Klara! weit von mir gegangen; Mein Herz bringt ewig deine Fernen nah.
In meiner tiefsten Seele stillen Tiefen Stehn deine Worte, rufen nach und nach – Wie Glockentöne, die am Tage schliefen, Vom Abend aufgeweckt, zur Vesper riefen – Das Heiligste in meiner Brust mir wach.
Und diese Augen sollten wiedersehen, Was nicht zu dir gehört, was du nicht bist? Es sollten andre Töne mich umwehen? Und deine liebe Stimme mir vergehen? Gibt es solch Auferstehn, was Grab nur ist?
Wer hörte dich und darf noch Unglück denken? Noch an das Böse glauben und dich sehn? Dein liebend Auge könnte Sonnen lenken, Und meinen Stern, den könntest du versenken In ew'ger Trennung namenlose Wehn?
Es muß die Zeit hinab zur Zeit wohl gehen, Doch meine Liebe nicht und nicht mein Schmerz; Selbst dieser Schmerz darf nicht die Lieb umstehen Gewaltsam, rauh; er soll wie Frühlingswehen Wachrufen, Blumen gleich, ein sehnend Herz.
Und wenn der Winter schlafen legt die Blumen alle, Und Herz und Sehnsucht starrt in Grabesfrost, Wenn totgekühlt die Blumen, Herzen alle, Dann seh ich dich allein aus meiner Halle Noch diamanten-strahlend hoch im Ost.
Bis dahin laßt an dieser lieben Stelle Mich ruhen meines Lebens Augenblick. Hier kam mein Tag, hier bleibt die Nacht mir helle; O laßt mich ruhn an dieser lieben Stelle! Euch sei die ganze Welt mit ihrem Glück!!
Während des Lesens waren Gabrielen schon bei der Stelle:
„Es sollten andre Töne mich umwehen? Und deine liebe Stimme mir vergehen?“
einzelne Tränen in die Augen getreten; sie ward im Fortfahren immer bewegter und bewegter. Bei den Worten:
„Hier kam mein Tag, hier bleibt die Nacht mir helle.“
versagte ihr die Stimme, und sie strebte vergebens, die beiden letzten Strophen des Liedes vorzutragen, dieses zu beenden. Erbleichend, verstummend stand sie endlich auf, bedeckte das Gesicht mit ihrem Tuche und eilte zum Zimmer hinaus, jede Begleitung durch eine bittende Bewegung der Hand von sich ablehnend.
Ottokar, der zunächst der Türe sich befand, war dennoch unbemerkt bis in den Vorsaal ihr gefolgt, dann faßte er ihre Hand und führte sie zu einem Sitz im Fenster, während er die Bedienten fortschickte, um Annetten herbei zu rufen. Gabriele erbebte sichtbarlich, als sie ihn erkannte; ein Strom von Tränen schaffte ihrem gepreßten Herzen Luft, während er, den sorgenden Blick auf sie geheftet, vor ihr stand. „Fräulein“, sprach er, indem er noch immer ihre Hand hielt, „liebes Fräulein, Sie haben uns allen einen so hohen Genuß gewährt, wir alle müssen Ihnen so dankbar dafür sein; was ist es denn, das jetzt Sie so gewaltsam niederdrückt? Zürnen Sie mir nicht“, fuhr er fort, da es ihm schien, als wolle Gabriele sich von ihm loswinden, „zürnen Sie mir nicht, daß ich Ihrem Winke nicht gehorchte und Ihnen hierher folgte; daß ich die Besorgnis, mit der ich Ihren schwankenden Schritt bemerkte, nicht unterdrückte. Als Ihr Hausgenosse glaubte ich dies wagen zu dürfen, und vielleicht, hoffentlich sogar, geben mir die nächsten Tage, vielleicht der morgende schon, das schöne Vorrecht, an allem, was Sie betrifft, recht innigen Anteil zu nehmen.“
Gabriele horchte bebend auf seine Worte, sie war unfähig, ihm zu antworten, und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben einer Ohnmacht nah. Ottokar konnte nichts, als sie unterstützen, bis die erschrockene Annette kam und sie in ihr Zimmer geleitete.
Die Nacht verging Gabrielen unter lautem Herzklopfen, unter tausend wechselnden Ahnungen, Gedanken, halb verstandnen Wünschen. Jedes Wort, das Ottokar am vergangnen Abend zu ihr gesprochen hatte, tönte unaufhörlich in ihrem Innern wider, jedes war ihr ein Rätsel, dessen Lösung sie mit Entzücken und Grauen suchte und nicht fand, bis sie ermattet spät gegen den Morgen in unerquickliche Bewußtlosigkeit versank.
Ihr Erwachen zu einer ungewöhnlich späten Stunde glich ganz dem ersten im Hause ihrer Tante. So wie an jenem Morgen durchtoseten auch heute Bediente und Handwerker das Haus mit Zurüstungen zu einem Feste. Weder Aurelia, noch die Gräfin waren den ganzen Morgen über sichtbar, selbst die Bedienten taten geheimnisvoll, wenn sie einander auf der Treppe begegneten. Gabriele saß in ängstlicher Spannung; unfähig zu jeder sonst gewohnten Beschäftigung, lauschte sie auf jeden Fußtritt, auf jedes Knarren der Türen in zitternder Unruhe. Sie ahnete das Herannahen einer für ihr ganzes Leben entscheidenden Stunde, sie ahnete einen Zusammenhang zwischen dieser Stunde und dem, was Ottokar am gestrigen Abende zu ihr gesprochen hatte, ohne doch begreifen zu können, wie dieses möglicherweise sein könne. Gegen Mittag ließ die Gräfin ihr sagen, daß sie und Aurelia allein in ihrem Zimmer speisen würden, zugleich schickte sie ihr einen sehr glänzenden Anzug für den Abend. Alles dieses so ganz Ungewohnte vermehrte Gabrielens peinliche Unruhe, sie begann weit früher, als sonst, sich anzukleiden und zählte hernach jeden Pendelschlag ihrer Uhr.
Endlich strahlten die Kronleuchter, Equipagen rollten herbei, und schon durchrauschten die Tritte vieler herannahenden Gäste Treppe und Vorsaal, ehe Gabriele sich wirklich entschließen konnte, den Versammlungssaal zu betreten, und eine immer steigende Angst hemmte jeden ihrer Schritte. Unter lautem Herzklopfen blieb sie unfern der Türe stehen; wie durch einen dichten Flor zeigte sich ihr die ganze glänzende Versammlung, welche längs den Wänden des Zimmers einen weiten Kreis bildete. Alle nahen und entfernteren Verwandten der Gräfin, alle ihre vornehmsten Bekannten waren gegenwärtig, nur Frau von Willnangen fehlte, weil eine plötzliche Unpäßlichkeit Augustens sie zu Hause hielt, und weder Ernesto noch irgendeiner der Künstler und Gelehrten, welche sonst das Haus besuchten, waren zugegen. Am obersten Ende des Kreises stand die Gräfin, reich und festlich gekleidet, neben ihr Aurelia, im weiß und silbernen Kleide, diamantne Sterne im dunkeln, mit Perlen durchflochtnen Haar; ihr großes blaues Auge überschaute die ganze Gesellschaft, so wie etwa eine Königin ihren Hofstaat übersieht, ob niemand fehlte, und als sie Gabrielen an der Türe gewahrte, winkte sie sie zu sich heran. Übrigens herrschte tiefe Stille in der Versammlung, man konnte das Picken der Uhren hören, so regungslos erwartend stand alles da. Da trat Ottokar in völliger Hofkleidung aus einem Seitenzimmer in der Nähe der Gräfin herein, zum ersten Mal sah Gabriele ihn von einem breiten Ordensband umschlungen und einen blitzenden Stern auf seiner Brust. Mit freundlichem Ernst, etwas bleicher als sonst, näherte er sich der Gräfin, die seine und Aureliens Hand ergreifend, mit würdevollem Anstände beide einige Schritte vorwärts gegen die Mitte des Kreises führte und Ottokarn als Aureliens verlobten Bräutigam der Gesellschaft vorstellte.
Die Gräfin schien sich zu dieser Festlichkeit eine kleine Rede ausgesonnen zu haben, die sie, zwischen Ottokar und Aurelien stehend, mit dem Anstande der Fürstin von Messina an die Anwesenden richtete. „Der Wunsch ihrer Väter“, sagte sie unter andern, „der Wunsch ihrer Väter, wenngleich nicht ihr unabänderlicher Wille, bestimmte dieses Paar schon seit Aureliens Geburt für einander, doch blieb dieses, meinem Willen gemäß, beiden ein Geheimnis, bis ich überzeugt sein konnte, daß kein inneres oder äußeres Hindernis sich ihrer Verbindung entgegenstellte. Die Gnade des Fürsten hat auch das letzte beseitigt, indem sie den Grafen in den Stand setzt, seiner Braut mit seiner Hand auch einen meinen Wünschen angemeßnen Rang in der Gesellschaft zu bieten; Ottokar erhielt heute seine Ernennung zum Gesandten in Rom, und Aurelia folgt ihm entzückt in das schöne Land, zu welchem schon längst sie, wie jeden Gebildeten, die Sehnsucht zog. Auch ich werde sie dorthin begleiten, und da Graf Ottokars Bestimmung die schnellste Ausführung des längst Vorbereiteten fordert, so wird uns leider das schöne Fest des heutigen Tages durch den Schmerz des Abschiednehmens von so werten Freunden getrübt. Schon morgen verlassen wir die Stadt, in wenig Tagen wird das hochzeitliche Band auf meinem Landgute ganz in der Stille geknüpft, und in weniger als einem Monat eilen wir Italien zu, wohin Pflicht, Liebe und Sehnsucht uns rufen. In Jahr und Tag hoffe ich indessen Sie alle hier wieder zu sehen, ich kehre dann mit der festen Überzeugung des Glücks meiner Kinder zurück und hoffe, in Erinnerung und Gegenwart mit meinen Freunden frohe Tage zu verleben. Auch meine Nichte, Gabriele von Aarheim, wird mich begleiten. Ich habe dich von deinem Vater dazu erbeten“, sprach sie, in ihrem natürlichen Ton, sich plötzlich zu Gabrielen wendend, „du sollst auch Italien sehen, freue dich recht, Kleine, und wünsche deiner Cousine und ihrem Bräutigam Glück“, setzte sie hinzu, indem sie ihr näher zu treten winkte.
Gabriele, welche schon früher auf Aureliens ersten Wink sich genähert hatte, drängte sich jetzt mit wunderbarem Ungestüm durch die Versammlung, welche sich in dem Moment auch in Bewegung setzte, um Aurelien ebenfalls ihre Glückwünsche zu bringen. Gabriele wankte, als sie der Tante näher kam; im Begriff zu sinken, umfaßte sie unwillkürlich das Knie der Gräfin, um sich aufrecht zu halten. „Wunderliches Kind, wie stürmisch ist deine Freude! Hier, hier bringe deinen Glückwunsch an“, sprach lächelnd die Gräfin, indem sie sie umarmte und dann zu Aurelien und Ottokar wendete. „Glück! Glück!“ rief Gabriele, atemlos und wie verwildert, sie konnte in augenscheinlicher Bewußtlosigkeit kein anderes Wort hervorbringen als dieses eine, das sie mehrere Male schnell wiederholte. Die Gräfin, welche auch in der höchsten Bewegung die feingezogene Linie des hergebracht Schicklichen nie aus den Augen verlor, wurde von dem Aufsehen beunruhigt, welches Gabrielens sonderbares Benehmen unter den Zunächststehenden schon zu erregen begann. Sie schob sie daher mit sanfter Gewalt der Türe zu, durch welche Ottokar hereingetreten war. „Dorthin, dorthin“, flüsterte sie ihr leise ins Ohr, „erhole dich erst von deiner ausgelassenen Freude und dann kehre wieder.“
Gabriele ging, der Weisung der Tante gehorsam; sie ging und ging, einen endlosen Weg, wie es ihr schien, die Kronleuchter drehten sich in einem wunderlichen Tanz um sie her, die Tapeten und Fußteppiche hoben und senkten sich, sie sah alles und erkannte nichts, bis sie am äußersten Ende der erleuchteten Reihe von Zimmern in einem nur von einer Dämmerungslampe erhellten Kabinett auf den Divan sank.
Über eine Stunde mochte wohl verflossen sein, seit Gabriele sich von der Gesellschaft entfernte; im freudigen Tumult hatte weiter niemand an sie gedacht, selbst die Gräfin nicht, welche jetzt, nachdem die Gratulationen vorüber waren, alle Aufmerksamkeit darauf verwandte, die Spieltische zu jedermanns Zufriedenheit zu ordnen. Aurelia zog sich indessen mit ihren jüngern Freundinnen in ihr Zimmer zurück, Ottokars prächtige Brautgeschenke mit ihnen zu mustern und zu bewundern, und so entstand für diesen eine Pause in der geselligen Unterhaltung, die ihm in seiner jetzigen Stimmung höchst willkommen war. Er fühlte dringend das Bedürfnis einiger einsamen, ruhigen Minuten, um sich selbst wieder zu finden. Jede auffallende Abänderung des Gewohnten, und sei sie noch so erwünscht, führt ihre eignen Schauer mit sich, die uns mit unwillkommner Gewalt ergreifen, oft in Momenten, wo wir es sogar als Pflicht fühlen, nur Freude äußern zu dürfen. Sogar das höchste Entzücken unverhofften Wiedersehens geliebter Freunde ist im ersten Augenblick ein Schmerz, wir müssen mit jedem Glück erst Bekanntschaft machen, ehe wir uns dessen recht erfreuen können, und wir erschrecken sogar vor unsern eignen Wünschen, wenn sie plötzlich in Erfüllung treten.
Mit aller Kraft ihres Geistes suchte sie jetzt die ängstliche Blödigkeit zu überwinden, welche ihre ersten Schritte in der Gesellschaft so unsicher gemacht hatte. Es gelang ihr nach und nach. Das Blendende der Erscheinungen, das betäubende Geräusch verloren allmählich die Gewalt, ihr zu imponieren, ihre Existenz in der Welt ward mit jedem Tage angenehmer und obgleich sie sich oft nach den stillen, genußreichen Abenden sehnte, welche sie sonst bei Frau von Willnangen zu verleben gewohnt war, so gab es doch auch oft Stunden, in denen sie sich recht jugendlich heiter an dem bunten Leben ergötzte.
Dennoch war ihre Erscheinung in demselben nichts weniger als brillant. Als eine nahe Verwandte der von allen gefeierten Gräfin Rosenberg, in deren Begleitung sie überall erschien, verfehlte man zwar nicht, ihr die Aufmerksamkeit zu erzeigen, zu welcher dieses Verhältnis sie berechtigte; aber eigentlich betrachtete man sie doch noch immer als ein halbes Kind, und sie hätte gewiß an manchem Abend die Reihe der ungestört gähnenden Opfer der Sozietät vermehrt, welche man in allen Salons-Ecken sitzen sieht, wäre nicht Ernesto ihr treuer Beschützer geblieben, und hätte nicht Frau von Willnangen diesen Winter der gewohnten Ruhe weit öfterer als sonst entsagt, um ihren Liebling in so ungewohnten Verhältnissen nicht ganz verlassen zu wissen.
Ottokar sah Gabrielen jetzt täglich, ohne daß beide einander deswegen viel näher gekommen wären. Er zeichnete sie nicht minder als Aurelien aus, durch tausend kleine Aufmerksamkeiten, die er, als der Gast der Gräfin, ihnen vor andern schuldig zu sein glaubte, übrigens aber blieb ihr gegenseitiges Verhältnis fremd und abgemessen wie zuvor.
Nur selten, besonders aber am Neujahrsabende, bei ihrem Eintritt in die große Welt, hatte er ihr einige Teilnahme gezeigt. Die Gräfin feierte den Schluß des festlichen Tages mit einem Ball, den sie den jüngern Bekannten Aureliens gab. Einsam und vergessen saß Gabriele lange in einer Ecke des Tanzsaals. Sie gedachte der Neujahrsabende, welche sie als fröhliches Kind an der Hand der Mutter in den hohen, düstern Sälen von Schloß Aarheim verlebt hatte. Die Tanzmusik tönte nur wie aus weiter Ferne in ihre Träume, als Ottokar plötzlich vor ihr stand und ihr seine Hand bot, um auch sie den fröhlichen Reihen zuzuführen. Es war der erste festliche Tanz ihres Lebens, ihr schwindelte, noch ehe sie den Tanzplatz betrat. Ottokar merkte ihr Schwanken, schrieb es ihrer gewohnten Furchtsamkeit zu und umfaßte sie nur um so fester, um sie vor jedem möglichen Zufall zu sichern. Gabriele fühlte den Druck seines Armes, das Säuseln seines Atems in ihren Locken, sie sah sein freundliches Auge ganz nahe auf sie herabblitzen und schwebte, an ihn gelehnt, wie auf geflügelten Sohlen durch den weiten Saal, so leicht, so anmutig, daß selbst die Tante ihr freundlich Beifall zunickte. Mit ihm so durch das Leben! Der Gedanke flog zum ersten Mal wie ein Pfeil, in stechendem Schmerz, durch ihr Innres; ein unendlich betrübendes Gefühl bewegte sie fast bis zum Weinen, und noch nie hatte sie sich so vereinzelt, so ganz verlassen gefühlt, als da Ottokar nach beendigtem Walzer sie zu einem Sitz führte und sie dann mit einer stummen Verbeugung verließ, um sich eine andre Tänzerin zu wählen.
Eines Abends, in einer großen Gesellschaft, wandte sich das Gespräch auf den echt spanischen Fandango. Aurelie war eben in sehr glänzender Laune, und so bedurfte es nicht großer Überredungskraft, um sie zu bewegen, ihn zu tanzen, obgleich die musikalische Begleitung, außer dem Tambourin und den Kastagnetten, nur noch aus einem Pianoforte bestehen konnte und an einen Mittänzer gar nicht zu denken war.
„Du kennst die Figuren des Fandango, ich weiß es vom Tanzmeister“, sprach Aurelia zu Gabrielen, indem sie die sich vergeblich Sträubende in die Mitte des Saales mit sich fortzog; „übrigens“, setzte sie noch wie ihr zum Tröste hinzu, indem sie ihr die Kastagnetten aufzwang, „übrigens hat es wenig zu bedeuten, wer neben mir herhüpft.“
Die mehrsten der Anwesenden, sogar die Gräfin, blickten mit mitleidiger Besorgnis auf die arme Gabriele, die beinahe zitternd, mit niedergeschlagenen Augen dastand, während ein dichter Kreis von Zuschauern sich um sie und ihre Cousine bildete. Endlich sah sie auf, ihr erster Blick fiel auf Ottokar, der neben Ernesto stand und sie mit ängstlicher Teilnahme betrachtete. Unfern von beiden winkte ihr Frau von Willnangen Mut zu, und nie war diese Gabrielen der verlornen Mutter so täuschend ähnlich erschienen. Der Anblick der befreundeten Gestalten, die ersten Takte der ihr bekannten Musik, aus welcher ihr Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit widerhallten, begeisterten sie; die Gewalt, mit der sie ihre Ängstlichkeit niederzukämpfen suchte, verknüpft mit dem lebhaften Wunsche, die durch ihr Gelingen zu erfreuen, welche ihr wohlwollten, versetzten sie in eine Art von Ekstase. Wider alles Erwarten gelang es ihr, mit unnachahmlicher Grazie auch den künstlichsten Wendungen Aureliens zu folgen, die jetzt in vollem Ernst mit der eben Verachteten zu wetteifern begann.
Wie ein weißer Schmetterling die prachtvoll erblühte Zentifolie umflattert, so schwebte die kleine Sylphidengestalt um die hohe schöne Aurelia her. Der Anblick war wirklich entzückend, lauter, rauschender Beifall übertönte fast das Pianoforte; nach beendetem Tanze drängte sich alles, um beide mit Lob- und Danksprüchen zu überschütten, vorzüglich aber Gabrielen; denn ein unerwartet neu entdecktes Talent gilt immer mehr als ein längst bekanntes. Frau von Willnangen, Ernesto, Ottokar sogar, erhoben Gabrielen bis in die Wolken, andre folgten diesen anerkannten Koryphäen des guten Geschmacks, sogar die Gräfin erklärte sich für stolz auf ihre liebe Nichte und umarmte sie mit großer Zärtlichkeit. So ward das Unerhörte herbeigeführt, daß Aurelia wirklich zu ihrem eignen höchsten Erstaunen ein paar Minuten lang um der kleinen Cousine willen vergessen und verlassen dastand, und diese Erfahrung war ihr nicht weniger neu, als Gabrielen die der allgemeinen, laut ausgesprochenen Bewunderung.
Mit dem Scharfblick besorgter Mutterliebe bewachte Frau von Willnangen Ottokars Benehmen gegen Gabrielen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Nichts war ihrem genauen Aufmerken entgangen, weder jenes festere Umfangen ihres Lieblings beim ersten Tanze in der Neujahrsnacht, noch sein Besorgtsein um Gabrielen, als Aurelia sie zum Fandango hinzog. Freudig hatte sie gesehen, mit welchem Entzücken er hierauf jeden ihrer Schritte mit den Augen verfolgte, zuletzt in laute Bewunderung ausbrach und sich den andern vordrängte, um der erste zu sein, der ihr für das allen gewährte Vergnügen seinen Dank aussprach.
Auch in Ottokars übrigem Betragen gegen Gabrielen glaubte sie, wenngleich nicht leidenschaftliche Liebe, doch ein stilles Hinneigen zu ihr zu erblicken, denn Wunsch und Hoffnung sind zu nahe verwandt, als daß sie im Laufe des Lebens nicht oft sollten eins für das andere gehalten werden. Frau von Willnangen gewöhnte sich nach und nach, alle die kleinen Aufmerksamkeiten mit in ihre Waage zu legen, durch welche Ottokar die Hausgenossin, die nahe Verwandte seiner Gastfreundin, vor andern auszeichnete. Sie sah, mit welcher zarten Schonung und zugleich mit welcher Gewandtheit er so manche kleine, Gabrielen drohende Verlegenheit von dieser abzuwenden wußte; sie legte alles zum Vorteil ihrer Wünsche aus, und wahrhaft mütterliche Liebe verleitete sie endlich zu Mißgriffen, welche bei der welterfahrenen, klugen Frau sich nur durch dieses vorherrschende Gefühl entschuldigen lassen.
Zu diesen Mißgriffen gehörte, daß sie nicht nur es nicht vermied, mit Gabrielen über alle jene ihr bedeutend dünkenden Zufälligkeiten in Ottokars Benehmen gegen sie zu sprechen, sondern sie sogar aufmerksam darauf machte und sie ihr aus einem Gesichtspunkt zeigte, der für Gabrielens Ruhe durchaus gefährlich werden mußte. Augustens ewig heitre Phantasie, ihre warme Anhänglichkeit an Gabrielen verleiteten auch diese, das Gemälde einer Zukunft vollends auszumalen, welche keine von ihnen mit deutlichen Worten zu nennen wagte, die aber Mutter und Tochter für jedes andere Gemüt, als Gabrielens, dennoch nur zu deutlich bezeichnet haben würden. Diese, zu wenig vertraut mit allem, was auf das wirkliche Leben Bezug hat, verlor sich nur mit süßer Schwärmerei in die von ihren Freundinnen ihr geöffnete helldunkle Aussicht. In ruhigen, einsamen Stunden strebte sie freilich, zu ihrer ehemaligen Resignation wieder zu gelangen, und war es sich so gar nicht bewußt, wie weit sie von ihr gewichen sei. Ottokarn zu werden, was er ihr war, diese Möglichkeit hatte sie noch nie mit klaren Worten sich gedacht, aber noch weniger die, daß eine andere so über alles von ihm geliebt werden könne. So verwirrten sich ihre Wünsche, ihre Hoffnungen immer mehr, sie vermied sogar, zur Klarheit über sie zu gelangen, und ihr Tagebuch enthielt von nun an nur die Ergießungen eines leidenschaftlich aufgeregten Gemüts, das sich scheut, ein Dunkel zu durchdringen, in welches es sich vor sich selbst verhüllt.
Der Winter zog allmählich fort, die Tage wurden länger, und im wärmeren Sonnenstrahl erglänzten schon die schwellenden Knospen der Bäume. An Gabrielens Rückkehr nach Schloß Aarheim ward indessen nicht gedacht, obgleich der anfänglich dazu bestimmte Zeitpunkt nicht mehr fern war. Der Baron, welcher mit jedem Tage seinem großen Ziele sich zu nähern glaubte und deshalb ungestört zu bleiben wünschte, hatte schon früher die Gräfin schriftlich um die Erlaubnis gebeten, den Aufenthalt seiner Tochter bei ihr auf unbestimmte Zeit verlängern zu dürfen, und Gabriele war zu sehr von der Gegenwart befangen, als daß sie den Wechsel der Zeiten hätte bemerken können. Tage und Monden gingen an ihr vorüber, ohne daß sie an die Möglichkeit einer Abänderung in ihren Verhältnissen gedachte.
Indessen konnte eine um diese Zeit entstehende geheimnisvolle Bewegung im Hause ihrer Tante ihr doch nicht verborgen bleiben, welche auch außer ihr jedermann bemerkte und niemand verstand; sogar Ernesto nicht, denn die Gräfin pflegte nach Art aller Frauen, die in der großen Welt eine Rolle zu spielen gewohnt sind, ihr eignes Geheimnis sicher zu bewahren, sobald sie es wollte. Sie selbst blieb still und freundlich, wie jemand, der dem Gelingen großer Pläne mit Zuversicht entgegen sieht. Dabei konnte sie indessen es doch nicht lassen, sich zuweilen mit halbverhüllten Winken an Gabrielen zu wenden, von denen es schien, als wollten sie dieser eine große Freude, ja sogar ein hohes Glück verkünden.
Aurelia erschien in dieser Zeit strahlender und übermütiger als je zuvor, Ottokar war mehr in sich gekehrt, und man bemerkte eine ihm sonst nicht gewöhnliche Ungleichheit der Gemütsstimmung in seinem Betragen. Unter der Dienerschaft herrschte ein immerwährendes leises Treiben, die Gräfin selbst leitete es, es sah aus wie Zubereitungen zu einem prächtigen Feste oder zu einer großen Reise oder zu beiden; niemand von den dabei Beschäftigten wußte es zu erklären, und alle zerbrachen sich darüber die Köpfe.
Gabriele bemerkte wohl, daß alle diese Erscheinungen auch auf sie Bezug haben müßten, sie sann über ihre Bedeutung nach, bis sie von der allgemeinen, dumpfen Unruhe quälend ergriffen wurde, und war nach jedem, so in vergeblichem Aufmerken verlebten Tage herzlich froh, wenn der Abend hereinbrach und der gewohnte Kreis sich in den Zimmern der Gräfin versammelte, welcher jetzt, nach den vorübergezogenen Zerstreuungen des Karnevals, wieder in seine alten Rechte getreten war.
Eines Tages schien die allgemeine Spannung der Hauptpersonen des Hauses auf das höchste gestiegen, noch nie waren die Gräfin so geheimnisvoll, Ottokar so ernst in sich gekehrt, Aurelia so übertrieben lustig gewesen. Allen, welche diesen Tag an der Mittagstafel der Gräfin teilnahmen, fiel dieses unheimliche Wesen bis zum Ängstlichwerden auf. Nichts konnte ihnen daher Erwünschteres kommen, als der für den Abend verheißene Besuch eines berühmten Deklamators, denn er versprach nicht nur Schutz gegen die bei dieser Stimmung der Gesellschaft zu befürchtenden Langeweile, sondern auch gegen etwaige Ausbrüche einer innern Aufgeregtheit der Gemüter, von der sich jedes ergriffen fühlte. Unter allen aber freute sich Gabriele darüber; noch nie war ihr Gelegenheit geworden, einen Künstler dieser Art zu hören, sie hatte überhaupt keinen Begriff, wie man das, was sie als Deklamation kannte, zum Hauptzweck seines Lebens machen könne, und erwartete daher etwas ganz Außerordentliches von einem sich einzig diesem Zwecke weihenden Künstler. Alles, was sie jemals von Improvisatoren, von Troubadours, von Barden, die als überall willkommene Gäste mit ihren Liedern durch die Länder zogen, ja sogar vom Wanderleben Homers gehört und gelesen hatte, kam ihr wieder ins Gedächtnis. Sie erwartete nicht viel Geringeres als alles dies zusammen und war daher nicht wenig verwundert, als der Erwartete in Gestalt eines hagern, kleinen, schwarzgekleideten, sehr jungen Männchens hereintrat und der Gräfin vorgestellt ward. Seine Ungeduld, sich hören zu lassen, schien nicht minder groß als die der Anwesenden, ihn zu hören. Er ergriff die erste Gelegenheit, sich anscheinend nachlässig in einen Lehnstuhl zu werfen und begann mit nicht auffallend angenehmen Sprachton seine Rezitationen.
Es war wunderlich anzusehen, wie er sich ängstlich abmühte, zu deklamieren, ohne dabei zu agieren. Mit der untern Hälfte des Körpers gelang es ihm, er saß mit kreuzweis übereinander geschlagnen Beinen wie angebunden auf seinem Sessel, aber die Züge seines Gesichts, Arme und Hände waren gleichsam wider seinen Willen in ewiger theatralischer Bewegung. Er hatte kein Buch nehmen wollen, weil er behauptete, sich vollkommen auf sein Gedächtnis verlassen zu können, dies aber vermehrte die Verlegenheit, in welche ihn die Haltung seiner Hände augenscheinlich versetzte. Freilich hätte er auch eine ganze Bibliothek herbeischaffen müssen, so viele ganz heterogene Dichtungen der heterogensten Dichter ließ er im schnellsten Wechsel aufeinander folgen. Endlich kam auch Macbeths bekannter Monolog an die Reihe. Schauerliches Schweigen herrschte im Saal, alles horchte seinen dumpfen, geisterartigen Tönen. „Ist das ein Dolch?“ rief er mit Macbeths stierem Blick und einem plötzlichen Griff auf den vor ihm stehenden Tisch. „Es ist nur die Lichtschere“, flüsterte Aurelia, laut genug, um von den nahe Stehenden, wahrscheinlich auch vom Deklamator selbst gehört zu werden, denn sobald dieser den Monolog beendet hatte, erinnerte er sich eines Versprechens, noch diesen Abend in einer andern Gesellschaft zu erscheinen, und eilte davon.
„Shakespeare! ach Shakespeare!“ rief die Gräfin, indem sie sich entzückt auf dem Sofa zurücklehnte, und so es vermied, ihr Urteil über den Deklamator zu frühe zu äußern. Beim Shakespeare war sie ihrer Sache gewiß, nicht so bei jenem, obgleich dem in allen Zeitungen Gepriesenen in jeder Pause seines Vortrags von einem großen Teil der Anwesenden lauter Beifall gezollt worden war. „Wie groß erscheint Shakespeare, wo man auch immer ihn antrifft!“ fuhr die Gräfin fort; „wie so gar nicht zu ertöten! Welch eine Höhe! Und welche Tiefe! Wie treten seine Gebilde hinaus in die Wirklichkeit!“ – „Ich bin nur froh, daß der Deklamator endlich zum Saal hinaus getreten ist“, sprach Ernesto ganz gelassen. Erstaunt sah die Gräfin ihn an und war doppelt froh, sich an Shakespeare gehalten zu haben, da nun auch der Professor anfing, Klopstocks Ode ›Teone‹ zu rezitieren.
Still auf dem Blatt ruhte das Lied, noch erschrocken Vor dem Getös des Rhapsoden, der es herlas, Unbekannt mit der sanftem Stimme Laut' und dem volleren Ton.
„Die armen Lieder!“ sprach lächelnd Auguste, „sie hatten nicht einmal ein Blatt, auf dem sie ruhen konnten, er sagte sie auswendig her, und mir ist daher noch immer, als fühle ich die heimatlosen Geister mich ängstlich umschwirren.“ Antonius wollte wenigstens das große Gedächtnis des Deklamators bewundert wissen, konnte aber nicht damit zustande kommen, denn Ernesto verdammte gerade dies Aus-dem-Kopfe-Hersagen als einen der ärgsten Mißgriffe, welche sich der Deklamator hatte zuschulden kommen lassen, und der Professor trat ihm treulich bei. „Wodurch wird das Lied zum Liede?“ sprach dieser; „durch den Rhythmus, den Versbau, die Wahl des Ausdrucks, nicht durch die poetische Idee allein. Mit der strengsten Auswahl wägt der Poet jedes Wort, jede Silbe, überall sucht er den Geist und die Harmonie aufs genaueste zu vereinen, und Gott weiß, wie schwer ihm dieses in unsrer an guten Reimen so armen Sprache oft wird. Verzweifeln müßte er, wenn er es anhörte, wie solch ein Deklamator alle seine Mühe vernichtet und die auswendig gelernten Lieder mißhandelt!“ – „Das ist's ja eben“, setzte Ernesto hinzu, „die Herren haben es nur auswendig und nicht inwendig, sonst müßten sie fühlen, was sie zerstören, wenn sie hier ein fremdes Wort einschalten, weil das rechte ihrem untreuen Gedächtnis entschlüpfte, dort einen falschen Akzent anbringen oder ein kurzes Wort dehnen, weil sie vom vorhergehenden eine Silbe verschluckten und nun mit dem Versmaß nicht auskommen. Auch das beste Gedächtnis sichert vor dergleichen nicht. Auf dem Theater verdecken Spiel und theatralische Täuschungsmittel diese Mängel so ziemlich, auch Sängern und Sängerinnen will ich es allenfalls nachsehen, wenn sie unsere Dichter verstümmeln, man versteht sie ohnehin nur selten und wird es also nicht gewahr; aber der Deklamator, der uns den vollkommensten Genuß eines poetischen Werkes verspricht, müßte sich nie in den Fall setzen, so fehlen zu können.“
„Ich wünschte fast, es gäbe gar keine Deklamatoren in der Welt“, sprach Frau von Willnangen; „wenigstens fühle ich immer das innigste Mitleid, wenn ich einen jungen Menschen sehe, der von falschverstandner Kunstliebe sich verleiten ließ, diesen Weg zu wählen, um darauf durch die Welt zu kommen.“
„Denen jungen Herren, die weder zum Graben noch zum Erlernen gründlicher Kenntnisse Lust haben, scheint dieser Weg aber sehr anlockend und bequem“, erwiderte der Professor, „sie denken noch obendrein, etwas Ungemeines für die Kunst zu tun, wenn sie von Stadt zu Stadt gehen und pathetisch hersagen, was andre Leute gedichtet haben und was jeder seit der Erfindung der Buchdruckerkunst in seinem Kabinett lesen und sich dabei das gerade für ihn Passende auswählen kann.“
„Dabei sind sie gewöhnlich in offenbarem Zwiespalt mit sich selbst“, setzte Ernesto hinzu. „Deklamieren mit Aktion oder ohne Aktion, das ist die Frage, die sie nie lösen können. Ersteres mitten im Zimmer auf plattem Boden hat denn doch immer etwas Komisches, abgerechnet, daß es auch dem eigentlichen Begriffe des Deklamierens ganz entgegensteht. Und sich beim Deklamieren im übrigen ganz ruhig zu verhalten, ist fast unmöglich, oder wird es erzwungen, so kann niemand sich an dem Anblick freuen. Eigentliches Deklamieren möchte ich ganz auf das Theater oder auf die Bühne der Volksredner verweisen, wenn es deren noch außer den Kanzeln gäbe; zur gesellschaftlichen Unterhaltung aber würde ich bloßes Vorlesen mit Ausdruck und Präzision allen Deklamatorien vorziehen.“
Es ward über diesen Gegenstand noch viel hin und her gestritten, bis Ernesto Gabrielen aufforderte, den Streit zu beenden und der Gesellschaft zu zeigen, was er mit Vorlesen eigentlich meine. Er kannte ihr schönes, sorgfältig von der Mutter gebildetes Talent und ergriff gern diese, wie jede Gelegenheit, seine junge Freundin nicht sowohl an das Licht zu ziehen, als vielmehr sie von der ängstlichen Befangenheit gänzlich zu befreien, von welcher sie noch zuweilen befallen ward. Auch dieses Mal gewährte sie nur mit innerem Zagen seinen Wunsch, überflog schnell mit den Augen ein Blatt, welches Ernesto ihr reichte, während die Lichter gerückt wurden und der Kreis der Anwesenden sich um sie her ordnete. Sie las zuerst etwas zaghaft, dann aber mit immer steigendem Affekt, immer eindringender, immer wahrer in Ton und Ausdruck, ganz sich und alle um sich her vergessend, wie an jenem Abende, als sie in Ottokars Gegenwart sang: la pura fiamma che m'arde in petto. Kein Hauch regte sich, alle waren an ihren Vortrag wie gebannt, denn man hörte, was sie las, war der innigste Ausdruck ihres eigensten Gefühls, und sie bezwang alle Herzen mit der Wahrheit Gewalt. Sie hatte das Gedicht, welches sie vorlas, zuvor nie gesehen, es war das neueste Erzeugnis eines jungen Poeten von Ernestos Bekanntschaft. Hier ist es:
O laßt mich ruhn an dieser lieben Stelle Nur einen kurzen, stillen Augenblick! Hier zog mein Tag herauf, so licht, so helle; O laßt mich ruhn an dieser lieben Stelle; Vergönnet mir dies arme, einzge Glück!
Ich will nicht um mich schaun; laßt mich vergessen, Daß eine Zukunft ist, daß Morgen kommt. Was über Heute liegt, ist unermessen, Und über Nacht zu denken, ist vermessen, Mit Sonst zu sprechen meinem Herzen frommt.
Wenn es der Welt noch einmal tagt, umdichten Mich Gram und Nacht. Dein Bild kann nur allein Die Nacht zur Dämmrung eines Traumes lichten, Und wie ein Traum mußt du vorüberflüchten, Geflügelt Glück! dein bin ich, du nicht mein.
Der hat ein süßes, hold Geschick empfangen, Wer dich, du zartes Bild, nur einmal sah; Mich hat dies Glück für immerdar umfangen, Bist du auch, Klara! weit von mir gegangen; Mein Herz bringt ewig deine Fernen nah.
In meiner tiefsten Seele stillen Tiefen Stehn deine Worte, rufen nach und nach – Wie Glockentöne, die am Tage schliefen, Vom Abend aufgeweckt, zur Vesper riefen – Das Heiligste in meiner Brust mir wach.
Und diese Augen sollten wiedersehen, Was nicht zu dir gehört, was du nicht bist? Es sollten andre Töne mich umwehen? Und deine liebe Stimme mir vergehen? Gibt es solch Auferstehn, was Grab nur ist?
Wer hörte dich und darf noch Unglück denken? Noch an das Böse glauben und dich sehn? Dein liebend Auge könnte Sonnen lenken, Und meinen Stern, den könntest du versenken In ew'ger Trennung namenlose Wehn?
Es muß die Zeit hinab zur Zeit wohl gehen, Doch meine Liebe nicht und nicht mein Schmerz; Selbst dieser Schmerz darf nicht die Lieb umstehen Gewaltsam, rauh; er soll wie Frühlingswehen Wachrufen, Blumen gleich, ein sehnend Herz.
Und wenn der Winter schlafen legt die Blumen alle, Und Herz und Sehnsucht starrt in Grabesfrost, Wenn totgekühlt die Blumen, Herzen alle, Dann seh ich dich allein aus meiner Halle Noch diamanten-strahlend hoch im Ost.
Bis dahin laßt an dieser lieben Stelle Mich ruhen meines Lebens Augenblick. Hier kam mein Tag, hier bleibt die Nacht mir helle; O laßt mich ruhn an dieser lieben Stelle! Euch sei die ganze Welt mit ihrem Glück!!
Während des Lesens waren Gabrielen schon bei der Stelle:
„Es sollten andre Töne mich umwehen? Und deine liebe Stimme mir vergehen?“
einzelne Tränen in die Augen getreten; sie ward im Fortfahren immer bewegter und bewegter. Bei den Worten:
„Hier kam mein Tag, hier bleibt die Nacht mir helle.“
versagte ihr die Stimme, und sie strebte vergebens, die beiden letzten Strophen des Liedes vorzutragen, dieses zu beenden. Erbleichend, verstummend stand sie endlich auf, bedeckte das Gesicht mit ihrem Tuche und eilte zum Zimmer hinaus, jede Begleitung durch eine bittende Bewegung der Hand von sich ablehnend.
Ottokar, der zunächst der Türe sich befand, war dennoch unbemerkt bis in den Vorsaal ihr gefolgt, dann faßte er ihre Hand und führte sie zu einem Sitz im Fenster, während er die Bedienten fortschickte, um Annetten herbei zu rufen. Gabriele erbebte sichtbarlich, als sie ihn erkannte; ein Strom von Tränen schaffte ihrem gepreßten Herzen Luft, während er, den sorgenden Blick auf sie geheftet, vor ihr stand. „Fräulein“, sprach er, indem er noch immer ihre Hand hielt, „liebes Fräulein, Sie haben uns allen einen so hohen Genuß gewährt, wir alle müssen Ihnen so dankbar dafür sein; was ist es denn, das jetzt Sie so gewaltsam niederdrückt? Zürnen Sie mir nicht“, fuhr er fort, da es ihm schien, als wolle Gabriele sich von ihm loswinden, „zürnen Sie mir nicht, daß ich Ihrem Winke nicht gehorchte und Ihnen hierher folgte; daß ich die Besorgnis, mit der ich Ihren schwankenden Schritt bemerkte, nicht unterdrückte. Als Ihr Hausgenosse glaubte ich dies wagen zu dürfen, und vielleicht, hoffentlich sogar, geben mir die nächsten Tage, vielleicht der morgende schon, das schöne Vorrecht, an allem, was Sie betrifft, recht innigen Anteil zu nehmen.“
Gabriele horchte bebend auf seine Worte, sie war unfähig, ihm zu antworten, und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben einer Ohnmacht nah. Ottokar konnte nichts, als sie unterstützen, bis die erschrockene Annette kam und sie in ihr Zimmer geleitete.
Die Nacht verging Gabrielen unter lautem Herzklopfen, unter tausend wechselnden Ahnungen, Gedanken, halb verstandnen Wünschen. Jedes Wort, das Ottokar am vergangnen Abend zu ihr gesprochen hatte, tönte unaufhörlich in ihrem Innern wider, jedes war ihr ein Rätsel, dessen Lösung sie mit Entzücken und Grauen suchte und nicht fand, bis sie ermattet spät gegen den Morgen in unerquickliche Bewußtlosigkeit versank.
Ihr Erwachen zu einer ungewöhnlich späten Stunde glich ganz dem ersten im Hause ihrer Tante. So wie an jenem Morgen durchtoseten auch heute Bediente und Handwerker das Haus mit Zurüstungen zu einem Feste. Weder Aurelia, noch die Gräfin waren den ganzen Morgen über sichtbar, selbst die Bedienten taten geheimnisvoll, wenn sie einander auf der Treppe begegneten. Gabriele saß in ängstlicher Spannung; unfähig zu jeder sonst gewohnten Beschäftigung, lauschte sie auf jeden Fußtritt, auf jedes Knarren der Türen in zitternder Unruhe. Sie ahnete das Herannahen einer für ihr ganzes Leben entscheidenden Stunde, sie ahnete einen Zusammenhang zwischen dieser Stunde und dem, was Ottokar am gestrigen Abende zu ihr gesprochen hatte, ohne doch begreifen zu können, wie dieses möglicherweise sein könne. Gegen Mittag ließ die Gräfin ihr sagen, daß sie und Aurelia allein in ihrem Zimmer speisen würden, zugleich schickte sie ihr einen sehr glänzenden Anzug für den Abend. Alles dieses so ganz Ungewohnte vermehrte Gabrielens peinliche Unruhe, sie begann weit früher, als sonst, sich anzukleiden und zählte hernach jeden Pendelschlag ihrer Uhr.
Endlich strahlten die Kronleuchter, Equipagen rollten herbei, und schon durchrauschten die Tritte vieler herannahenden Gäste Treppe und Vorsaal, ehe Gabriele sich wirklich entschließen konnte, den Versammlungssaal zu betreten, und eine immer steigende Angst hemmte jeden ihrer Schritte. Unter lautem Herzklopfen blieb sie unfern der Türe stehen; wie durch einen dichten Flor zeigte sich ihr die ganze glänzende Versammlung, welche längs den Wänden des Zimmers einen weiten Kreis bildete. Alle nahen und entfernteren Verwandten der Gräfin, alle ihre vornehmsten Bekannten waren gegenwärtig, nur Frau von Willnangen fehlte, weil eine plötzliche Unpäßlichkeit Augustens sie zu Hause hielt, und weder Ernesto noch irgendeiner der Künstler und Gelehrten, welche sonst das Haus besuchten, waren zugegen. Am obersten Ende des Kreises stand die Gräfin, reich und festlich gekleidet, neben ihr Aurelia, im weiß und silbernen Kleide, diamantne Sterne im dunkeln, mit Perlen durchflochtnen Haar; ihr großes blaues Auge überschaute die ganze Gesellschaft, so wie etwa eine Königin ihren Hofstaat übersieht, ob niemand fehlte, und als sie Gabrielen an der Türe gewahrte, winkte sie sie zu sich heran. Übrigens herrschte tiefe Stille in der Versammlung, man konnte das Picken der Uhren hören, so regungslos erwartend stand alles da. Da trat Ottokar in völliger Hofkleidung aus einem Seitenzimmer in der Nähe der Gräfin herein, zum ersten Mal sah Gabriele ihn von einem breiten Ordensband umschlungen und einen blitzenden Stern auf seiner Brust. Mit freundlichem Ernst, etwas bleicher als sonst, näherte er sich der Gräfin, die seine und Aureliens Hand ergreifend, mit würdevollem Anstände beide einige Schritte vorwärts gegen die Mitte des Kreises führte und Ottokarn als Aureliens verlobten Bräutigam der Gesellschaft vorstellte.
Die Gräfin schien sich zu dieser Festlichkeit eine kleine Rede ausgesonnen zu haben, die sie, zwischen Ottokar und Aurelien stehend, mit dem Anstande der Fürstin von Messina an die Anwesenden richtete. „Der Wunsch ihrer Väter“, sagte sie unter andern, „der Wunsch ihrer Väter, wenngleich nicht ihr unabänderlicher Wille, bestimmte dieses Paar schon seit Aureliens Geburt für einander, doch blieb dieses, meinem Willen gemäß, beiden ein Geheimnis, bis ich überzeugt sein konnte, daß kein inneres oder äußeres Hindernis sich ihrer Verbindung entgegenstellte. Die Gnade des Fürsten hat auch das letzte beseitigt, indem sie den Grafen in den Stand setzt, seiner Braut mit seiner Hand auch einen meinen Wünschen angemeßnen Rang in der Gesellschaft zu bieten; Ottokar erhielt heute seine Ernennung zum Gesandten in Rom, und Aurelia folgt ihm entzückt in das schöne Land, zu welchem schon längst sie, wie jeden Gebildeten, die Sehnsucht zog. Auch ich werde sie dorthin begleiten, und da Graf Ottokars Bestimmung die schnellste Ausführung des längst Vorbereiteten fordert, so wird uns leider das schöne Fest des heutigen Tages durch den Schmerz des Abschiednehmens von so werten Freunden getrübt. Schon morgen verlassen wir die Stadt, in wenig Tagen wird das hochzeitliche Band auf meinem Landgute ganz in der Stille geknüpft, und in weniger als einem Monat eilen wir Italien zu, wohin Pflicht, Liebe und Sehnsucht uns rufen. In Jahr und Tag hoffe ich indessen Sie alle hier wieder zu sehen, ich kehre dann mit der festen Überzeugung des Glücks meiner Kinder zurück und hoffe, in Erinnerung und Gegenwart mit meinen Freunden frohe Tage zu verleben. Auch meine Nichte, Gabriele von Aarheim, wird mich begleiten. Ich habe dich von deinem Vater dazu erbeten“, sprach sie, in ihrem natürlichen Ton, sich plötzlich zu Gabrielen wendend, „du sollst auch Italien sehen, freue dich recht, Kleine, und wünsche deiner Cousine und ihrem Bräutigam Glück“, setzte sie hinzu, indem sie ihr näher zu treten winkte.
Gabriele, welche schon früher auf Aureliens ersten Wink sich genähert hatte, drängte sich jetzt mit wunderbarem Ungestüm durch die Versammlung, welche sich in dem Moment auch in Bewegung setzte, um Aurelien ebenfalls ihre Glückwünsche zu bringen. Gabriele wankte, als sie der Tante näher kam; im Begriff zu sinken, umfaßte sie unwillkürlich das Knie der Gräfin, um sich aufrecht zu halten. „Wunderliches Kind, wie stürmisch ist deine Freude! Hier, hier bringe deinen Glückwunsch an“, sprach lächelnd die Gräfin, indem sie sie umarmte und dann zu Aurelien und Ottokar wendete. „Glück! Glück!“ rief Gabriele, atemlos und wie verwildert, sie konnte in augenscheinlicher Bewußtlosigkeit kein anderes Wort hervorbringen als dieses eine, das sie mehrere Male schnell wiederholte. Die Gräfin, welche auch in der höchsten Bewegung die feingezogene Linie des hergebracht Schicklichen nie aus den Augen verlor, wurde von dem Aufsehen beunruhigt, welches Gabrielens sonderbares Benehmen unter den Zunächststehenden schon zu erregen begann. Sie schob sie daher mit sanfter Gewalt der Türe zu, durch welche Ottokar hereingetreten war. „Dorthin, dorthin“, flüsterte sie ihr leise ins Ohr, „erhole dich erst von deiner ausgelassenen Freude und dann kehre wieder.“
Gabriele ging, der Weisung der Tante gehorsam; sie ging und ging, einen endlosen Weg, wie es ihr schien, die Kronleuchter drehten sich in einem wunderlichen Tanz um sie her, die Tapeten und Fußteppiche hoben und senkten sich, sie sah alles und erkannte nichts, bis sie am äußersten Ende der erleuchteten Reihe von Zimmern in einem nur von einer Dämmerungslampe erhellten Kabinett auf den Divan sank.
Über eine Stunde mochte wohl verflossen sein, seit Gabriele sich von der Gesellschaft entfernte; im freudigen Tumult hatte weiter niemand an sie gedacht, selbst die Gräfin nicht, welche jetzt, nachdem die Gratulationen vorüber waren, alle Aufmerksamkeit darauf verwandte, die Spieltische zu jedermanns Zufriedenheit zu ordnen. Aurelia zog sich indessen mit ihren jüngern Freundinnen in ihr Zimmer zurück, Ottokars prächtige Brautgeschenke mit ihnen zu mustern und zu bewundern, und so entstand für diesen eine Pause in der geselligen Unterhaltung, die ihm in seiner jetzigen Stimmung höchst willkommen war. Er fühlte dringend das Bedürfnis einiger einsamen, ruhigen Minuten, um sich selbst wieder zu finden. Jede auffallende Abänderung des Gewohnten, und sei sie noch so erwünscht, führt ihre eignen Schauer mit sich, die uns mit unwillkommner Gewalt ergreifen, oft in Momenten, wo wir es sogar als Pflicht fühlen, nur Freude äußern zu dürfen. Sogar das höchste Entzücken unverhofften Wiedersehens geliebter Freunde ist im ersten Augenblick ein Schmerz, wir müssen mit jedem Glück erst Bekanntschaft machen, ehe wir uns dessen recht erfreuen können, und wir erschrecken sogar vor unsern eignen Wünschen, wenn sie plötzlich in Erfüllung treten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele