Ich fürchte keinen bösen Traum mehr, seit mir die Vorbedeutung des Unglücks so anmutig erschien! ...
Ich fürchte keinen bösen Traum mehr, seit mir die Vorbedeutung des Unglücks so anmutig erschien! Sprach er nicht so? Warum mußte ich auch dieses Mal, nur stumm mich verneigend, vor ihm stehen und vermochte nicht, ihm zu antworten? Ach, weil ich bin, was ich zu sein schien, weil mein ganzes Dasein ein schwerer, banger Traum ist! Immer ringe ich nach dem Erwachen; bin ich einst erwacht, dann, Ottokar, dann werde ich zu dir sprechen, dich fragen, dir antworten können, und, gewiß! du wirst mich verstehen.
Wie oft versuchte ich es schon, sein Bild auf dem Papier festzuhalten! Aber ich ermüde im fruchtlosen Streben. Ja, wenn ich mit den Zügen seines Gesichts auch die unbeschreibliche Harmonie in seinem ganzen Wesen wiederzugeben vermöchte! Er ist immer er selbst! Ganz und ungeteilt er selbst, in jeder seiner Bewegungen, in jedem seiner Worte, im Scherz wie im Ernst! Nur er, einzig er kann so dastehen, so sprechen, so aussehen, und doch ist es nicht seine Gestalt allein, die ihn vor allen auszeichnet, es ist der Einklang, die Übereinstimmung in seiner ganzen Erscheinung. Wo lebt der Künstler, der diese darzustellen vermöchte? Ohne sie bleiben meine Bilder leblos und starr, bei aller übrigen Ähnlichkeit gleichen sie Wachsbildern, die das Leben ungeschickt nachäffen wollen, und ich muß sie vernichten, denn sie erregen mir Grauen.
Nichts wollen, nichts wissen, nichts wünschen als lieben, sich selbst vergessen im Glück des geliebten Wesens, ohne Erwiderung zu hoffen oder zu wünschen, stellt uns den Engeln gleich, ist Vorgefühl himmlischen Glücks! So lehrtest du mich, meine Mutter! Warum bin ich denn nicht glücklich? Warum treibt unerklärliche Unruhe mich rastlos umher? Warum beklemmt meine Brust ein Wünschen, ein etwas Erwarten von der nächsten Minute, für das ich so gar nicht einen Namen habe? Könnte ich nur einmal recht Großes, recht Schweres für ihn vollbringen, ohne daß er ahnete, von wo es ausginge. Könnte ich, ungesehen von ihm, ein trübes Geschick, ein großes Unheil von seinem geliebten Haupte auf das meinige lenken und dann, in mich geschmiegt und still aus meinem Dunkel hinauf zu ihm blicken und mich in seinem freudigen Lächeln sonnen. Dann, dünkt mich, wäre ich ruhig und glücklich für mein ganzes übriges Leben.
Nie werde ich mich darüber trösten, daß meine Mutter starb, ohne ihn gesehen zu haben. Ach hättest du, Verklärte, ihn gekannt, wie lieb wäre er dir geworden! Wie glücklich ich im Anschaun von euch geliebten beiden!
Arme Pflanzen, die sie verstieß, weil ihr verblüht seid, wie will ich euch pflegen und lieben! Ich fand sie heute alle im Vorsaal, die schönen Blumen, welche Ottokar Aurelien an ihrem Geburtstage schenkte; verdorrt, losgerissen von ihren Stäben, mit Staub bedeckt, erkannte ich sie kaum. „Sie taugen nur noch zum Wegwerfen“, sprach Aurelia, „sie sind verblüht.“ – „Ja“, setzte sie mit komischem Pathos hinzu, „sieh hier, gutes Kind, das Bild der Vergänglichkeit aller Dinge und nimm dir ein Beispiel daran. Alles Fleisch vergeht wie Heu, singt die christliche Gemeine, darum verträume deine Blütenzeit nicht, sie kehrt dir so wenig wieder als diesen armen Sträuchern, die Anton alsobald wegschaffen soll.“ – „Liebe Aurelia“, erwiderte ich, „mit uns ist es wie es ist, aber diese Blumen können wirklich wieder blühen, nimm sie nur wieder in dein Zimmer, trage sie an die Sonne, begieße sie.“ – „Allerliebste Gabriele, tu du das selbst, ich schenke sie dir“, unterbrach mich Aurelia und machte mir nach ihrer lustigen Art einen tiefen Knicks. Ich erschrak; „aber du hast sie von Ottokar“, stammelte ich, und fühlte dabei, wie ich rot ward; weiß ich doch nicht ob vor Freuden über die Blumen oder vor Verdruß, daß ich Aurelien an ihren Geber erinnern mußte. „Mag er mir frische Blumen schicken, wenn er will, daß sein Andenken bei mir grüne und blühe“, antwortete sie lächelnd; „seit ich nicht mehr vierzehn Jahre alt bin, bewahre ich nichts länger auf, als es des Bewahrens wert ist. Damals freilich, da hatte ich auch ein Heumagazin von gedörrten Rosen, Vergißmeinnicht und sonst noch allerlei Grünlichkeiten so gut wie eine von euch zarten Seelen, wie ich aber einmal gewahr ward, daß ich alle das Zeug sogar nicht einmal zum Kräuterkissen bei Zahnweh brauchen konnte, warf ich es zum Fenster hinaus.“
Ottokar weiß, daß ich seine Blumen besitze, er hat Aurelien meine Zeichnung dafür geraubt und auf sein Zimmer getragen, gewiß nur im Scherz, gewiß er gibt sie ihr wieder. Warum hat mich denn Annettens Erzählung dieses unbedeutenden Umstandes so erschreckt? Warum strebe ich jetzt so ängstlich, mir diese Zeichnung Zug für Zug recht deutlich zu denken? Er wird sie ja doch nicht behalten.
Wenn er unglücklich würde! Nein, diese Möglichkeit kann ich mir nicht denken. Nicht einmal die, daß ich oder andere es in seiner Nähe sein könnten. Ihm gegenüber, seinem freundlich hellen Blick gegenüber, muß ja das Unglück eine so stille rührende Gestalt annehmen, daß es zur schmerzlich süßen Freude sich darüber umwandelt.
Sonst nannte Frau von Willnangen nie Ottokars Namen, jetzt höre ich ihn täglich aus dem Munde der geliebten Frau und lausche mit Freuden seinem Lobe. Während Gewohnheit und Arbeit mich zu Hause in meinem Zimmer festhalten, bringt er die Morgen bei ihr und Augusten zu. Meine Freundinnen streben auf vielfache Weise, mich zu einem Besuche zur nämlichen Zeit zu veranlassen, ohne jedoch mich geradezu einzuladen, und oft regt sich auch in mir der Wunsch, ihren Winken folgen zu dürfen, aber ein innres Widerstreben hält dennoch mich zurück.
Abends singt mir Auguste die Lieder, welche er ihr brachte, ihre Mutter gibt mir fast wörtlich den Inhalt ihrer Gespräche mit ihm. Ich bewundre die Freiheit des Geistes, welche es ihr möglich macht, sich mit ihm so in Rede und Gegenrede zu verständigen, sogar zuweilen anderer Meinung als er zu sein, denn in seiner Nähe wird mein ganzes Wesen nur ein Spiegel des seinen.
Ich wollte, ich könnte dichten oder komponieren; oft ist es mir, als müsse ich beides können, aber vergebens suche ich Worte oder Töne für das, was ich so gerne singen oder sagen möchte. Auch in meinen Büchern, in meinen Dichtern, finde ich nicht, was ich suche, nirgends, was auf ihn paßte. Alle Gestalten, welche sie mir vorführen, sind nicht wie er, mild und hoch, kräftig und bescheiden.
Er hat meine Zeichnung behalten, sie hängt über seinem Schreibtisch, freilich als ein Geschenk Aureliens. Ernesto sah sie bei ihm. Ich bin darüber froh wie ein Kind, ich möchte sagen, ich fühle mich geehrt, so wie sonst, wenn die geliebte Mutter irgendeine Arbeit von mir sich zum Gebrauch aneignete. Wenn er die Zeichnung ansieht, muß er nicht zuweilen meiner gedenken?
Heute abend war ich zeitiger als gewöhnlich zu Frau von Willnangen gegangen, ich fand die liebe Frau allein mit Augusten, trübe und traurig schien ein schmerzliches Andenken schwerer als sonst auf ihrem Gemüte zu lasten. Sie bat uns, etwas zu singen, und wir wählten das himmlische Duett aus Paers ›Sargino‹, das mir von jeher wie die Sprache klingt, in welcher Engel einander sagen, wie sie sich lieben. Dolce dell' anima, fing ich an; speme e dilleto di questo cor, und meine Seele schwebte auf den süßen Tönen himmelan. Da erscholl es dicht hinter mir, dolce dell' anima, es war nicht Augustens Stimme, es war seine, seine! Unbemerkt von mir war er ins Zimmer und an Augustens Stelle getreten. Ich wagte nicht, mich umzusehen, aber ich hatte den unbegreiflichen Mut, fortzusingen, la pura fiamma che m'arde in petto! Ich fühlte mir das Herz in der Brust, jeden Puls meines Lebens erzittern, aber meine Stimme bebte nicht, ich wußte kaum, daß ich sang, die Töne strömten unwillkürlich aus meiner tiefsten Brust, aus dem Herzen meines Herzens, und ich hörte mich selbst wie die Stimme eines Dritten. Atemlos, bewußtlos sogar, stand ich da, als das Duett geendet war, und konnte nichts als mich tiefer und immer tiefer vor Ottokar neigen, während er zu mir sprach. Auguste sagt, er habe viel zum Lobe meiner Stimme, meines einfachen Vortrags gesagt; ich weiß es nicht, ich habe sogar nicht gesehen, wie er sich bald darauf entfernte. Als er fort war, schloß mich Frau von Willnangen mit verdoppelter Zärtlichkeit in ihre Arme, Augustens schönes Auge blitzte freudig, beide waren den ganzen Abend unerschöpflich in seinem Lobe, in Erzählungen kleiner Züge von ihm. Zu jeder andern Zeit hätte diese Unterhaltung mich sehr glücklich gemacht, jetzt konnte ich kaum darauf achten. Ja, Musik ist die Sprache seliger Geister, das weiß ich jetzt mit Überzeugung, in Tönen konnte ich ihm singen, wofür ich nimmer Worte fände, und der Nachhall dieser Stunde wird mein ganzes kommendes Leben durchtönen.
Einmal, nur einmal möchte ich doch Aurelia sein, neben ihm sitzen, ihn ansehen und mit ihm sprechen können wie sie.
Es war mein Stolz und meine Freude, mit Ottokarn, wenngleich ihm unbewußt, ein Geheimnis zu teilen, etwas allen andern Verborgenes von ihm zu wissen, daher vertraute ich keiner lebenden Seele die Geschichte unsers ersten Zusammentreffens. Solange ich allein darum wußte, wähnte ich, sie sei ein unsichtbares Band, das mich allein vor allen andern mit ihm vereinte. Nun ist es zerrissen. Woran ich Wochen und Monde hindurch in der Stille mich freute, ist die Neuigkeit des Tages geworden und geht entstellt von Mund zu Mund. Die ganze ungewöhnlich zahlreiche Gesellschaft, Aurelien an der Spitze, strömte mir heut entgegen, so wie ich den Speisesaal betrat, nur Ottokar blieb in der Ferne. Mein Blick sucht immer ihn zuerst, ich bemerkte einen leisen Zug des Unmuts auf seinem Gesicht, ein vielleicht nur meinem Auge sichtbares schnell wieder verfliegendes, zorniges Erröten. Erstarrt blieb ich in der Türe stehen, Aurelia und alle übrigen mochten lange mit Fragen und Redensarten in mich hineingestürmt haben, ehe ich nur begriff, wovon eigentlich die Rede sei. Ich sah nur Ottokarn in dieser mir unerklärlichen Bewegung. Ernesto, der sonst um diese Stunde ein seltner Gast bei uns ist, kam mir zu Hülfe. Seit meinem ersten Eintritt in dieses Haus ist er mir immer nah, sobald ich seiner bedarf. Wie er es anfing, weiß ich nicht, ich war zu aufgeregt, um es zu bemerken, aber der ganze gesellige Knäuel drehte sich bald von uns ab, um Aurelien her, und ich stand mit Ernesto allein im Fenster. Hier erfuhr ich von ihm, daß Ottokars Kammerdiener Aureliens Kammerjungfer erzählt habe, wie sein Herr eine arme alte Frau unterweges in den Wagen genommen habe, auch daß ich damals mit ihnen in einem Gasthofe wohnend, die Geschichte mit großer Teilnahme gehört und durch Frau Dalling mich näher darnach erkundigt habe, denn obgleich Lorenz mich nicht zu Gesichte bekam, so hatte er diese doch dort gesehen und hier wiedererkannt. Die Jungfer hatte nichts Angelegentlicheres zu tun, als ihrer Gebieterin bei der nächsten Gelegenheit diese Anekdote wieder zuzutragen. „Sie können denken“, fuhr Ernesto fort, „wie willkommen ein solcher Stoff Aurelien sein muß, um ihren nie zu ermüdenden Mutwillen daran auszulassen. Gönnen Sie ihr die Freude, folgen Sie Ottokars Beispiel und lachen Sie mit, anstatt sich darüber zu ärgern.“ Die Tante trat zu uns, anscheinend recht fröhlich, aber in ihren Augen zuckte doch eine gewisse Unruhe, sie vermochte nicht ganz die Furcht zu verbergen, daß Aurelia den Scherz zu weit treiben könne; der lustige Tumult in dieser und Ottokars Nähe ward immer größer und lauter, die Tante immer ängstlicher und freundlicher, und mir ward das Herz schwer und schwerer mit jeder Minute. Mehrere Spottbilder, mit erklärenden Knittelversen, alle von Aurelien selbst, nur zu geistreich erfunden und ausgeführt, hatten bisher die Gesellschaft ergötzt, endlich gelangten sie auch zu uns. Ottokar war darauf als Don Quijote dargestellt, wie er seine durch Zauberkünste in die Gestalt einer alten häßlichen Frau verkappte Dulcinea von Tobosa in eine Schenke bringt, die er für ein Kastell ansieht. Auf einem andern Blatt erscheint er als ein Schäfer, der eine zur Bettlerin verwandelte Fee vom Tode befreit, und gleich daneben, wie er zum Danke dafür in einen wunderschönen Prinzen mit Krone und Zepter verwandelt wird. Dann sahen wir ihn auch in Hofgala, die Bettlerin am Arm, und mich im Hintergrunde, ganz in Ekstase vor Rührung und Bewunderung, neben mir eine ganze Reihe naßgeweinter Schnupftücher auf einer Leine zum Trocknen aufgehängt. Ottokar selbst näherte sich uns und betrachtete diese Ergießungen einer nichts schonenden, übermütigen Laune mit beifälligem Lächeln.
„Wir sind diesesmal Leidensgefährten, liebes Fräulein“, sprach er, indem er sich freundlich zu mir neigte, während ich, errötend vor Zorn und Verlegenheit, nicht wußte, wohin ich die Blicke wenden sollte. „Sie sehen so ernsthaft aus, tun Sie das nicht, nehmen Sie einen geselligen Scherz nicht höher auf, als er aufgenommen sein will“, setzte er leiser, fast bittend hinzu.
Alles schwamm vor meinen Augen bei dem unerwarteten Glück, einen von ihm ausgesprochenen Wunsch erfüllen zu können. Ich hätte Aurelien, auf die ich eben erst zürnte, jetzt mit Freuden an mein Herz drücken mögen, weil sie die Veranlassung dazu lieh, und ich hoffe, daß jede Spur des Unmuts in diesem Moment ebenso von meiner Stirne schwand wie aus meinem Herzen. Um meiner Zufriedenheit die Krone aufzusetzen, sammelte Ernesto die Zeichnungen alle sorgfältig zusammen und legte sie in seine Schreibtafel, mit der Erklärung, daß er sie als das gelungenste Werk seiner Schülerin aufbewahren wolle, und weder die Bitten der Gesellschaft noch Aureliens Zürnen konnten ihn bewegen, sie wieder herauszugeben.
Der einmal angestimmte Ton wollte bei Tische noch nicht gleich verhallen, aber Ernesto und Ottokar bemeisterten sich des Gesprächs, die Tante unterstützte sie auf das kräftigste, und so nahm es bald eine für mich erfreulichere Wendung, die ich mit angestrengter Aufmerksamkeit verfolgte. Ottokars Blick gleitete während des Gesprächs oft von dem neben mir sitzenden Ernesto auf mich herab, ich sah es nicht, denn meine Augen senken sich immer vor den seinen, aber ich fühlte seinen Blick wie einen Sonnenstrahl in meinem Innern.
Jetzt bin ich allein, und das durch Ottokars Nähe unterdrückte bittre Gefühl regt sich von neuem in meiner Brust. Ach ich fürchte, die Spottsucht, die flache Charakterlosigkeit der Gesellschaft um mich her wird auch mich noch ergreifen. Am besten war es wohl für mich, ich ginge. Aber wohin? Arme Gabriele, wohin? Wo er nicht ist? Freilich werden Tage kommen, an denen ich ihn nicht sehe, vielleicht ein Tag, der von ihm auf dieses ganze Leben mich scheidet; aber soll ich denn schon jetzt dem Licht der Sonne mich entziehen, weil vielleicht bald die Nacht hereinbrechen wird?
Wie oft versuchte ich es schon, sein Bild auf dem Papier festzuhalten! Aber ich ermüde im fruchtlosen Streben. Ja, wenn ich mit den Zügen seines Gesichts auch die unbeschreibliche Harmonie in seinem ganzen Wesen wiederzugeben vermöchte! Er ist immer er selbst! Ganz und ungeteilt er selbst, in jeder seiner Bewegungen, in jedem seiner Worte, im Scherz wie im Ernst! Nur er, einzig er kann so dastehen, so sprechen, so aussehen, und doch ist es nicht seine Gestalt allein, die ihn vor allen auszeichnet, es ist der Einklang, die Übereinstimmung in seiner ganzen Erscheinung. Wo lebt der Künstler, der diese darzustellen vermöchte? Ohne sie bleiben meine Bilder leblos und starr, bei aller übrigen Ähnlichkeit gleichen sie Wachsbildern, die das Leben ungeschickt nachäffen wollen, und ich muß sie vernichten, denn sie erregen mir Grauen.
Nichts wollen, nichts wissen, nichts wünschen als lieben, sich selbst vergessen im Glück des geliebten Wesens, ohne Erwiderung zu hoffen oder zu wünschen, stellt uns den Engeln gleich, ist Vorgefühl himmlischen Glücks! So lehrtest du mich, meine Mutter! Warum bin ich denn nicht glücklich? Warum treibt unerklärliche Unruhe mich rastlos umher? Warum beklemmt meine Brust ein Wünschen, ein etwas Erwarten von der nächsten Minute, für das ich so gar nicht einen Namen habe? Könnte ich nur einmal recht Großes, recht Schweres für ihn vollbringen, ohne daß er ahnete, von wo es ausginge. Könnte ich, ungesehen von ihm, ein trübes Geschick, ein großes Unheil von seinem geliebten Haupte auf das meinige lenken und dann, in mich geschmiegt und still aus meinem Dunkel hinauf zu ihm blicken und mich in seinem freudigen Lächeln sonnen. Dann, dünkt mich, wäre ich ruhig und glücklich für mein ganzes übriges Leben.
Nie werde ich mich darüber trösten, daß meine Mutter starb, ohne ihn gesehen zu haben. Ach hättest du, Verklärte, ihn gekannt, wie lieb wäre er dir geworden! Wie glücklich ich im Anschaun von euch geliebten beiden!
Arme Pflanzen, die sie verstieß, weil ihr verblüht seid, wie will ich euch pflegen und lieben! Ich fand sie heute alle im Vorsaal, die schönen Blumen, welche Ottokar Aurelien an ihrem Geburtstage schenkte; verdorrt, losgerissen von ihren Stäben, mit Staub bedeckt, erkannte ich sie kaum. „Sie taugen nur noch zum Wegwerfen“, sprach Aurelia, „sie sind verblüht.“ – „Ja“, setzte sie mit komischem Pathos hinzu, „sieh hier, gutes Kind, das Bild der Vergänglichkeit aller Dinge und nimm dir ein Beispiel daran. Alles Fleisch vergeht wie Heu, singt die christliche Gemeine, darum verträume deine Blütenzeit nicht, sie kehrt dir so wenig wieder als diesen armen Sträuchern, die Anton alsobald wegschaffen soll.“ – „Liebe Aurelia“, erwiderte ich, „mit uns ist es wie es ist, aber diese Blumen können wirklich wieder blühen, nimm sie nur wieder in dein Zimmer, trage sie an die Sonne, begieße sie.“ – „Allerliebste Gabriele, tu du das selbst, ich schenke sie dir“, unterbrach mich Aurelia und machte mir nach ihrer lustigen Art einen tiefen Knicks. Ich erschrak; „aber du hast sie von Ottokar“, stammelte ich, und fühlte dabei, wie ich rot ward; weiß ich doch nicht ob vor Freuden über die Blumen oder vor Verdruß, daß ich Aurelien an ihren Geber erinnern mußte. „Mag er mir frische Blumen schicken, wenn er will, daß sein Andenken bei mir grüne und blühe“, antwortete sie lächelnd; „seit ich nicht mehr vierzehn Jahre alt bin, bewahre ich nichts länger auf, als es des Bewahrens wert ist. Damals freilich, da hatte ich auch ein Heumagazin von gedörrten Rosen, Vergißmeinnicht und sonst noch allerlei Grünlichkeiten so gut wie eine von euch zarten Seelen, wie ich aber einmal gewahr ward, daß ich alle das Zeug sogar nicht einmal zum Kräuterkissen bei Zahnweh brauchen konnte, warf ich es zum Fenster hinaus.“
Ottokar weiß, daß ich seine Blumen besitze, er hat Aurelien meine Zeichnung dafür geraubt und auf sein Zimmer getragen, gewiß nur im Scherz, gewiß er gibt sie ihr wieder. Warum hat mich denn Annettens Erzählung dieses unbedeutenden Umstandes so erschreckt? Warum strebe ich jetzt so ängstlich, mir diese Zeichnung Zug für Zug recht deutlich zu denken? Er wird sie ja doch nicht behalten.
Wenn er unglücklich würde! Nein, diese Möglichkeit kann ich mir nicht denken. Nicht einmal die, daß ich oder andere es in seiner Nähe sein könnten. Ihm gegenüber, seinem freundlich hellen Blick gegenüber, muß ja das Unglück eine so stille rührende Gestalt annehmen, daß es zur schmerzlich süßen Freude sich darüber umwandelt.
Sonst nannte Frau von Willnangen nie Ottokars Namen, jetzt höre ich ihn täglich aus dem Munde der geliebten Frau und lausche mit Freuden seinem Lobe. Während Gewohnheit und Arbeit mich zu Hause in meinem Zimmer festhalten, bringt er die Morgen bei ihr und Augusten zu. Meine Freundinnen streben auf vielfache Weise, mich zu einem Besuche zur nämlichen Zeit zu veranlassen, ohne jedoch mich geradezu einzuladen, und oft regt sich auch in mir der Wunsch, ihren Winken folgen zu dürfen, aber ein innres Widerstreben hält dennoch mich zurück.
Abends singt mir Auguste die Lieder, welche er ihr brachte, ihre Mutter gibt mir fast wörtlich den Inhalt ihrer Gespräche mit ihm. Ich bewundre die Freiheit des Geistes, welche es ihr möglich macht, sich mit ihm so in Rede und Gegenrede zu verständigen, sogar zuweilen anderer Meinung als er zu sein, denn in seiner Nähe wird mein ganzes Wesen nur ein Spiegel des seinen.
Ich wollte, ich könnte dichten oder komponieren; oft ist es mir, als müsse ich beides können, aber vergebens suche ich Worte oder Töne für das, was ich so gerne singen oder sagen möchte. Auch in meinen Büchern, in meinen Dichtern, finde ich nicht, was ich suche, nirgends, was auf ihn paßte. Alle Gestalten, welche sie mir vorführen, sind nicht wie er, mild und hoch, kräftig und bescheiden.
Er hat meine Zeichnung behalten, sie hängt über seinem Schreibtisch, freilich als ein Geschenk Aureliens. Ernesto sah sie bei ihm. Ich bin darüber froh wie ein Kind, ich möchte sagen, ich fühle mich geehrt, so wie sonst, wenn die geliebte Mutter irgendeine Arbeit von mir sich zum Gebrauch aneignete. Wenn er die Zeichnung ansieht, muß er nicht zuweilen meiner gedenken?
Heute abend war ich zeitiger als gewöhnlich zu Frau von Willnangen gegangen, ich fand die liebe Frau allein mit Augusten, trübe und traurig schien ein schmerzliches Andenken schwerer als sonst auf ihrem Gemüte zu lasten. Sie bat uns, etwas zu singen, und wir wählten das himmlische Duett aus Paers ›Sargino‹, das mir von jeher wie die Sprache klingt, in welcher Engel einander sagen, wie sie sich lieben. Dolce dell' anima, fing ich an; speme e dilleto di questo cor, und meine Seele schwebte auf den süßen Tönen himmelan. Da erscholl es dicht hinter mir, dolce dell' anima, es war nicht Augustens Stimme, es war seine, seine! Unbemerkt von mir war er ins Zimmer und an Augustens Stelle getreten. Ich wagte nicht, mich umzusehen, aber ich hatte den unbegreiflichen Mut, fortzusingen, la pura fiamma che m'arde in petto! Ich fühlte mir das Herz in der Brust, jeden Puls meines Lebens erzittern, aber meine Stimme bebte nicht, ich wußte kaum, daß ich sang, die Töne strömten unwillkürlich aus meiner tiefsten Brust, aus dem Herzen meines Herzens, und ich hörte mich selbst wie die Stimme eines Dritten. Atemlos, bewußtlos sogar, stand ich da, als das Duett geendet war, und konnte nichts als mich tiefer und immer tiefer vor Ottokar neigen, während er zu mir sprach. Auguste sagt, er habe viel zum Lobe meiner Stimme, meines einfachen Vortrags gesagt; ich weiß es nicht, ich habe sogar nicht gesehen, wie er sich bald darauf entfernte. Als er fort war, schloß mich Frau von Willnangen mit verdoppelter Zärtlichkeit in ihre Arme, Augustens schönes Auge blitzte freudig, beide waren den ganzen Abend unerschöpflich in seinem Lobe, in Erzählungen kleiner Züge von ihm. Zu jeder andern Zeit hätte diese Unterhaltung mich sehr glücklich gemacht, jetzt konnte ich kaum darauf achten. Ja, Musik ist die Sprache seliger Geister, das weiß ich jetzt mit Überzeugung, in Tönen konnte ich ihm singen, wofür ich nimmer Worte fände, und der Nachhall dieser Stunde wird mein ganzes kommendes Leben durchtönen.
Einmal, nur einmal möchte ich doch Aurelia sein, neben ihm sitzen, ihn ansehen und mit ihm sprechen können wie sie.
Es war mein Stolz und meine Freude, mit Ottokarn, wenngleich ihm unbewußt, ein Geheimnis zu teilen, etwas allen andern Verborgenes von ihm zu wissen, daher vertraute ich keiner lebenden Seele die Geschichte unsers ersten Zusammentreffens. Solange ich allein darum wußte, wähnte ich, sie sei ein unsichtbares Band, das mich allein vor allen andern mit ihm vereinte. Nun ist es zerrissen. Woran ich Wochen und Monde hindurch in der Stille mich freute, ist die Neuigkeit des Tages geworden und geht entstellt von Mund zu Mund. Die ganze ungewöhnlich zahlreiche Gesellschaft, Aurelien an der Spitze, strömte mir heut entgegen, so wie ich den Speisesaal betrat, nur Ottokar blieb in der Ferne. Mein Blick sucht immer ihn zuerst, ich bemerkte einen leisen Zug des Unmuts auf seinem Gesicht, ein vielleicht nur meinem Auge sichtbares schnell wieder verfliegendes, zorniges Erröten. Erstarrt blieb ich in der Türe stehen, Aurelia und alle übrigen mochten lange mit Fragen und Redensarten in mich hineingestürmt haben, ehe ich nur begriff, wovon eigentlich die Rede sei. Ich sah nur Ottokarn in dieser mir unerklärlichen Bewegung. Ernesto, der sonst um diese Stunde ein seltner Gast bei uns ist, kam mir zu Hülfe. Seit meinem ersten Eintritt in dieses Haus ist er mir immer nah, sobald ich seiner bedarf. Wie er es anfing, weiß ich nicht, ich war zu aufgeregt, um es zu bemerken, aber der ganze gesellige Knäuel drehte sich bald von uns ab, um Aurelien her, und ich stand mit Ernesto allein im Fenster. Hier erfuhr ich von ihm, daß Ottokars Kammerdiener Aureliens Kammerjungfer erzählt habe, wie sein Herr eine arme alte Frau unterweges in den Wagen genommen habe, auch daß ich damals mit ihnen in einem Gasthofe wohnend, die Geschichte mit großer Teilnahme gehört und durch Frau Dalling mich näher darnach erkundigt habe, denn obgleich Lorenz mich nicht zu Gesichte bekam, so hatte er diese doch dort gesehen und hier wiedererkannt. Die Jungfer hatte nichts Angelegentlicheres zu tun, als ihrer Gebieterin bei der nächsten Gelegenheit diese Anekdote wieder zuzutragen. „Sie können denken“, fuhr Ernesto fort, „wie willkommen ein solcher Stoff Aurelien sein muß, um ihren nie zu ermüdenden Mutwillen daran auszulassen. Gönnen Sie ihr die Freude, folgen Sie Ottokars Beispiel und lachen Sie mit, anstatt sich darüber zu ärgern.“ Die Tante trat zu uns, anscheinend recht fröhlich, aber in ihren Augen zuckte doch eine gewisse Unruhe, sie vermochte nicht ganz die Furcht zu verbergen, daß Aurelia den Scherz zu weit treiben könne; der lustige Tumult in dieser und Ottokars Nähe ward immer größer und lauter, die Tante immer ängstlicher und freundlicher, und mir ward das Herz schwer und schwerer mit jeder Minute. Mehrere Spottbilder, mit erklärenden Knittelversen, alle von Aurelien selbst, nur zu geistreich erfunden und ausgeführt, hatten bisher die Gesellschaft ergötzt, endlich gelangten sie auch zu uns. Ottokar war darauf als Don Quijote dargestellt, wie er seine durch Zauberkünste in die Gestalt einer alten häßlichen Frau verkappte Dulcinea von Tobosa in eine Schenke bringt, die er für ein Kastell ansieht. Auf einem andern Blatt erscheint er als ein Schäfer, der eine zur Bettlerin verwandelte Fee vom Tode befreit, und gleich daneben, wie er zum Danke dafür in einen wunderschönen Prinzen mit Krone und Zepter verwandelt wird. Dann sahen wir ihn auch in Hofgala, die Bettlerin am Arm, und mich im Hintergrunde, ganz in Ekstase vor Rührung und Bewunderung, neben mir eine ganze Reihe naßgeweinter Schnupftücher auf einer Leine zum Trocknen aufgehängt. Ottokar selbst näherte sich uns und betrachtete diese Ergießungen einer nichts schonenden, übermütigen Laune mit beifälligem Lächeln.
„Wir sind diesesmal Leidensgefährten, liebes Fräulein“, sprach er, indem er sich freundlich zu mir neigte, während ich, errötend vor Zorn und Verlegenheit, nicht wußte, wohin ich die Blicke wenden sollte. „Sie sehen so ernsthaft aus, tun Sie das nicht, nehmen Sie einen geselligen Scherz nicht höher auf, als er aufgenommen sein will“, setzte er leiser, fast bittend hinzu.
Alles schwamm vor meinen Augen bei dem unerwarteten Glück, einen von ihm ausgesprochenen Wunsch erfüllen zu können. Ich hätte Aurelien, auf die ich eben erst zürnte, jetzt mit Freuden an mein Herz drücken mögen, weil sie die Veranlassung dazu lieh, und ich hoffe, daß jede Spur des Unmuts in diesem Moment ebenso von meiner Stirne schwand wie aus meinem Herzen. Um meiner Zufriedenheit die Krone aufzusetzen, sammelte Ernesto die Zeichnungen alle sorgfältig zusammen und legte sie in seine Schreibtafel, mit der Erklärung, daß er sie als das gelungenste Werk seiner Schülerin aufbewahren wolle, und weder die Bitten der Gesellschaft noch Aureliens Zürnen konnten ihn bewegen, sie wieder herauszugeben.
Der einmal angestimmte Ton wollte bei Tische noch nicht gleich verhallen, aber Ernesto und Ottokar bemeisterten sich des Gesprächs, die Tante unterstützte sie auf das kräftigste, und so nahm es bald eine für mich erfreulichere Wendung, die ich mit angestrengter Aufmerksamkeit verfolgte. Ottokars Blick gleitete während des Gesprächs oft von dem neben mir sitzenden Ernesto auf mich herab, ich sah es nicht, denn meine Augen senken sich immer vor den seinen, aber ich fühlte seinen Blick wie einen Sonnenstrahl in meinem Innern.
Jetzt bin ich allein, und das durch Ottokars Nähe unterdrückte bittre Gefühl regt sich von neuem in meiner Brust. Ach ich fürchte, die Spottsucht, die flache Charakterlosigkeit der Gesellschaft um mich her wird auch mich noch ergreifen. Am besten war es wohl für mich, ich ginge. Aber wohin? Arme Gabriele, wohin? Wo er nicht ist? Freilich werden Tage kommen, an denen ich ihn nicht sehe, vielleicht ein Tag, der von ihm auf dieses ganze Leben mich scheidet; aber soll ich denn schon jetzt dem Licht der Sonne mich entziehen, weil vielleicht bald die Nacht hereinbrechen wird?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele