Neunter Abschnitt. - So verkehrte er die Ordnung der Zeiten. Dennoch verhehlte er sich nicht die bei dieser unnatürlichen Lebensweise für seine Gesundheit obwaltende Gefahr. ...
So verkehrte er die Ordnung der Zeiten. Dennoch verhehlte er sich nicht die bei dieser unnatürlichen Lebensweise für seine Gesundheit obwaltende Gefahr. Er wußte bestimmt, daß er auf keine lange Reihe von Jahren mehr rechnen dürfe, in denen er die Früchte seiner Arbeit zu genießen hoffen könne, aber er achtete dieses nicht, denn er strebte nach keinem dauernden Genuß. In nie gesehenem Glanz aus dem Dunkel seiner Ahnenburg hervortreten, sein uraltes Geschlecht aufs neue in seiner Tochter erstehen sehen, aufs neue für kommende Jahrhunderte der Stifter desselben werden, seine alten Feinde, knirschend vor Neid, in ohnmächtiger Wut erbleichen sehen und dann sich hinlegen und sterben; das war es, was er vom Geschick zu erzwingen dachte; und nur der Gedanke, daß irgendeiner von denen, welche er haßte, vor dem Gelingen seines großen Werkes dieses Leben verlassen könne, machte ihn beben.
Nicht weniger, als dieses rastlose Treiben, ängstigte ihn ein ewiges Überlegen, wie er sein Geheimnis auf das schnellste und vorteilhafteste benutzen könne, sobald es ihm gelungen wäre, es ganz zu entschleiern. Sollte er seine Tochter zur Erbin seines durch mühseliges, unablässiges Forschen und tausendfache Opfer erworbenen Wissens einsetzen? Sollte er sich daran genügen lassen, ihr noch bei seinem Leben unermeßliche Schätze zuzuwenden und sein Geheimnis mit sich in die Gruft seiner Ahnen hinabzunehmen? Diese Zweifel erregten einen nie zu stillenden Zwiespalt in seinem Innern, der, zerstörender als Wachen und Arbeit, ihn langsam verzehrte. Es war ihm unmöglich, einem weiblichen Wesen den Mut, die Klugheit, ja selbst die Verschwiegenheit zuzutrauen, welche unumgänglich dazu gehören, ein solches Geheimnis nicht nur zu verwalten, sondern auch zu verbergen. Die Gefahren, welche jedem drohen, den die Gewaltigen dieser Erde im Besitz solcher Kenntnisse wähnen, waren ihm nur zu bekannt, und das Geschick Böttchers, des unglücklichen Erfinders des sächsischen Porzellans, trat oft warnend vor seinen Geist. Alle diese Überlegungen machten ihn geneigt, sein Geheimnis mit sich sterben zu lassen; dann aber ergriff ihn der Gedanke, wie groß es sei, die Erbin seines Namens, mit dieser mächtigsten aller irdischen Gewalten ausgerüstet, zurückzulassen. Ihn schwindelte, ein neuer Kampf entstand in seinem Gemüt, und so konnte der unglückliche Greis nimmer zur Ruhe gelangen. Rastlos schwankte er ewig in banger Sorge von einem Entschlusse zum andern und verwachte die langen, endlosen Stunden des Tages auf seinem Lager, bis die Abendsonne die Zinnen seiner Burg rötete und ihn mahnte, aufzustehen, um sein nächtliches Tagewerk zu beginnen.
Frau von Willnangen zögerte keinen Augenblick, die Erlaubnis des Barons zu benutzen und die Reise in das Bad anzutreten, denn der Sommer war indessen schon ziemlich weit vorgerückt, und da der Herbst dem rauhen Klima der Gebirge selten günstig ist, so hatte sie keine Zeit zu verlieren.
Ernesto suchte und erhielt sehr leicht die Erlaubnis, sich der kleinen Karawane seiner Freundinnen anschließen zu dürfen, welche ihrerseits froh waren, ihn zum Beschützer auf der Reise zu haben. Nicht Furcht vor der während der schönen Jahreszeit mit jedem Tag überhandnehmenden Öde der Stadt hatte ihn zu diesem Entschlusse bewogen, wie Auguste im fröhlichen Mute ihm oft Schuld gab, sondern wahrhaft väterliche, treue Liebe für die verwaisete Tochter der Frau, deren Andenken ihm noch immer wie ein hell leuchtender Stern am fernen Horizont seiner längst hinter ihm zurückgebliebenen Jugend strahlte. Gabrielens Geschick und der Zustand ihres Gemüts waren dem treuen, beobachtenden Freunde nicht verborgen geblieben, obgleich ihm niemand darüber etwas anvertraut hatte.
Zwischen ihm, Frau von Willnangen und auch Gabrielen war sogar eine Art von stillschweigender Übereinkunft darüber entstanden; man behandelte ihn, als wisse er alles, ohne doch je ausdrücklich irgendeines nähern Umstandes zu erwähnen. Er, der lebenskundige Mann, sah Gabrielens Zustand in weit hellerem Licht, als Frau von Willnangen. Er glaubte Gabrielens Ruhe nicht für immer zerstört, er hielt sie sogar in diesem Augenblick nicht für unglücklich. Er wußte, wie der Zauber der Jugend alles, selbst den Schmerz, zu verschönern vermag und ihn zuletzt in das süßeste aller Spiele umwandelt, das aber zugleich auch das gefährlichste ist, weil es dem Gemüte die Kraft entzieht für den Ernst des Lebens in später kommenden Jahren. Die Tränen jener nie wiederkehrenden Frühlingszeit gleichen den Tautropfen auf der Rosenknospe, sie verhauchen in süßen Düften, solange der Morgen frisch atmet, aber wenn die glühenden Strahlen der Mittagssonne sie noch finden, so brennen sie sie ätzend zu unzerstörbaren Flecken ein; die entstellten, früh welkenden Blätter bleiben geschlossen und vermögen es nie, sich in der ihnen von der Natur bestimmten Herrlichkeit zu entfalten.
Übrigens wußte Ernesto auch, daß der Frauen Herz ewig jung bleibt, wenngleich ihre Locken unter der Hand der Zeit erbleichen; daß sie immer geneigt bleiben, mit ihren jüngern Freundinnen sich aufs neue den Wonnen und Schmerzen hinzugeben, welche einst auch ihren Frühling erhellten und trübten und die der Machtspruch des späten Alters nur entschlummern hieß, aber nicht vernichten konnte. Deshalb fürchtete er Frau von Willnangens zu weiche Teilnahme für Gabrielen, jetzt da diese an dem ihre ganze Zukunft bestimmenden Wendepunkt ihres Lebens stand, und achtete es für Pflicht, in ihrer Nähe zu bleiben, um sie mit starker väterlicher Hand zu fassen, zu stützen, zu leiten, sobald es Not täte.
Die kleine Reise ward in wenigen Tagen und ohne alle Abenteuer zurückgelegt. Gabrielens stille Heiterkeit während derselben hatte zwar oft einen höchst wehmütigen Ausdruck, der aber nie in wilderen Schmerz, in tiefere Trauer ausartete.
Die Reisegesellschaft kam über Eger nach Karlsbad, und die Gegend in der Nähe dieses ersten Ziels ihrer Reise, besonders aber die mit keinem andern Badeorte zu vergleichende Einfahrt in das Städtchen selbst, entzückte sie alle. „Wahrlich“, rief Auguste, „es verlohnt sich der Mühe, alle Jahre nach Karlsbad zu reisen, einzig um darin anzukommen. Ich wollte, ich könnte, solange wir hier bleiben, wenigstens jede Woche einmal die Freude haben, mich so lustig vom Türmer anblasen zu hören, während ich am Fuß dieser prächtigen Felsen unter den wilden Rosenbüschen hinrolle und ihre Wälder, ihre schimmernden Kreuze, ihre Pyramidenzacken hoch über mir sehe.“
Gabriele lehnte indessen schweigend zum Wagen hinaus, ihr Blick ruhte auf den Felsen, ihre Gedanken flogen der Heimat zu. So, ja ebenso umstarrte hohes Gebirge das alte Schloß, in welchem sie das Licht der Sonne zuerst erblickt hatte. Nicht so geschmückt mit jeder Anmut der Kultur und einer üppigen Vegetation, aber doch diesem ähnlich, nur beinah enger noch und tiefer war das stille Tal, in welchem sie an der Hand ihrer Mutter zu wandeln pflegte. Seit sie Schloß Aarheim verließ, war sie immer in der Ebene geblieben, nur ganz von ferne hatte sie mit der allen im Gebirge Gebornen eignen Sehnsucht ihre lieben blauen Berge zu sich herüberschimmern gesehen. Beinahe ein Jahr war vorübergezogen, seit sie von ihnen schied. Ihr war, als kehre sie in diesem Augenblick wieder heim zu ihnen aus der fernen Welt, welche sie mit so wenig Erwartungen betreten hatte, in der sie so unendlich viel fand, was nur noch in der Erinnerung ihr gehörte, und von der sie, ohnerachtet ihrer Jugend, jetzt zu wissen glaubte, daß sie ihr nichts weiter mehr zu bieten habe als ein Grab.
Der wirkliche Eintritt in Karlsbad und in ihre freundliche Wohnung riß sie aus ihren trüben Träumen, und Augustens herzliche Freude an allen neuen Umgebungen erweckte auch sie zur Teilnahme. Bald gewahrte sie sich selbst in einer neuen Welt. Die geputzten Brunnengäste, welche an dem wunderschönen lauen Sommerabend unter ihrem Fenster auf- und abgingen, schienen ihr unzählbar, so daß die große lebensreiche Stadt, welche sie eben verlassen hatte, ihr wie tot dünkte gegen diesen kleinen, einem Ameisenhaufen ähnlichen Fleck Erde und sie sich an dem ungewohnten Schauspiel fast ebensosehr ergötzte als Auguste.
Der Julimonat, und mit ihm die Zeit, während welcher Karlsbad am glänzendsten erscheint, war über die Hälfte vorübergezogen, als Frau von Willnangen mit ihren Begleitern dort anlangte. Einige fürstliche Personen, die bisher einen kleinen Hof gebildet hatten, welcher den vornehmern Brunnengästen einen, alle übrigen ausschließenden Vereinigungspunkt gewährte, hatten sich schon zur Nachkur in andere Bäder begeben. Täglich sah man lange Reihen mit Koffern hochgepackter großer Berlinen über die Wiese ziehen, in welchen vornehme Familien ihnen nacheilten. Dennoch blieb die Gesellschaft noch immer zahlreich genug, um keine Lücke merkbar werden zu lassen, und neue Ankömmlinge ersetzten täglich die Stelle der Abreisenden.
Frau von Willnangen besaß unter vielen angenehmen Eigenschaften auch die, sich überall, wohin sie kam, leicht anzusiedeln und heimisch zu werden. Auf Reisen wußte sie dem allerungemütlichsten Gasthofszimmer in wenigen Minuten ein wohnliches Ansehen zu geben, ohne daß man sonderlich bemerken konnte, was sie darin verändert habe. Wo sie an fremden Orten längere Zeit blieb, da gewannen alle ihre Umgebungen bald einen so behaglich-häuslichen Anstrich, daß jedem wohl darin ward, dem es erlaubt war, sich ihr zu nahen.
Darum sammelte sich auch in Karlsbad wie überall ein sehr angenehmer Kreis der Liebenswürdigsten und Gebildetsten um sie her. Es war als ob sie durch einen Zauberspruch alle an sich zöge, die zu diesen gezählt werden durften, oder als ob sie ein Zeichen an sich trüge, an dem die Gleichgestimmten sie erkannten. Dennoch wunderte sich jeder, der sie zum ersten Mal sah, wie diese einfache, weder durch jugendlichen Reiz noch glänzenden Witz ausgezeichnete Frau dazu gekommen sei, der Mittelpunkt der Gesellschaft zu werden, so anspruchlos und zuvorkommend war sie in ihrem Betragen gegen alle.
Gabrielen hatte der Arzt nur ein paar Gläser des Theresienbrunnens, als des schwächsten von allen, zu trinken erlaubt, damit sie sich doch auch mit Ehren in die Reihe der Brunnengäste stellen dürfe; denn es ist nichts unangenehmer, als bei einem, allen gemeinschaftlichen Zweck, allein ausgeschlossen zu bleiben. Frühes Aufstehen, Bewegung in der vom Duft der Bergkräuter und frischem Waldeshauch erfüllten Luft und vor allem Rückkehr zu der regelmäßigen Lebensart, deren sie während dieses Winters sich hatte entwöhnen müssen, waren die eigentlich ihr vom Arzt verordnete Kur, und der Erfolg bewies, daß er in der Wahl nicht geirrt hatte. Gabriele, die jetzt eben ihr siebzehntes Jahr vollendete, blühte von Tage zu Tage schöner auf. Der Rosenglanz der Gesundheit gab ihr einen neuen Reiz, ohne den fast ätherischen Ausdruck zu zerstören, der von ihrer frühsten Jugend an sie ausgezeichnet und ihr das Ansehn einer Bewohnerin andrer Welten gegeben hatte. Dabei lag in ihrem freundlich-anspruchslosen Wesen etwas so unaussprechlich Liebliches, daß jedermann sich zu ihr gezogen fühlen mußte, obgleich der stille Ernst, mit dem sie das Leben nur als Zuschauerin zu betrachten schien, niemanden zu näherer Vertraulichkeit aufforderte.
Unter den Reisegesellschaftern der Frau von Willnangen war Ernesto der einzige, der mit dem Ton und überhaupt dem Leben in Karlsbad nicht recht zufrieden sein wollte. Sie selbst war zu oft sowohl hier als an ähnlichen Orten gewesen, um mehr von ihnen zu fordern, als sie ihrer jetzigen Einrichtung nach leisten können. Augustens heitere Natur befand sich in ihrer Mutter und Gabrielens Gesellschaft überall wohl, und diese freute sich zwar der herrlichen Umgegend, war aber in ihrer innern Welt noch zu befangen, um sonst noch Ansprüche irgendeiner Art an die äußere zu machen.
Anders aber verhielt es sich mit Ernesto. Dieser hatte noch nie zuvor einen Brunnenort besucht, denn zu der Zeit, da er im frühen Jünglingsalter Deutschland verließ, um die Ausbildung seines Talents in Italien zu suchen, war es noch nicht wie jetzt Gebrauch, die Bäder als Erholungsorte zu betrachten. Eine Badereise wurde damals als ein großer Entschluß und fast immer nur als der letzte Versuch zu genesen angesehen, ja der Ausspruch des Arztes, welcher die Kranken dorthin verwies, klang den mehresten von ihnen wie ein halbes Todesurteil. Daher kannte sie Ernesto nur aus lobpreisenden Aufsätzen in Zeitschriften und hochtönenden, an Ort und Stelle verfertigten Beschreibungen, die ihn freilich weit mehr erwarten ließen, als er fand.
„Wir sitzen hier ganz vortrefflich“, sprach er einst in halb unmutiger, halb zufriedner Stimmung zu der Gesellschaft, die sich an einem warmen Nachmittag im Schatten der schönen Bäume vor dem böhmischen Saal recht häuslich niedergelassen hatte. „Wir sitzen hier ganz vortrefflich. Frau von Willnangen macht die angenehme Wirtin als wäre sie zu Hause, die übrigen Damen arbeiten an allerliebsten Kleinigkeiten, und wir Männer führen weise Gespräche. Uns ist wohl! Aber wir bilden doch einen Staat im Staate, und das ist hier nicht recht. Mir wenigstens tut mitten in meiner Glückseligkeit das Herz weh, wenn ich die einzelnen Paare ansehe, die dort auf der Wiese und hier in den Alleen langweilig und langsam nebeneinander herschlendern. Da Gott hier für alle und jede seinen Segen in die Quellen fließen läßt, so sollten auch wir niemanden von unsern Vergnügungen ausschließen und alle zusammen darnach streben, daß allgemeine Freude die ganze Brunnengesellschaft zu einer Familie vereine.“
Die Gesellschaft, an welche Ernesto diese Worte richtete, bestand außer den Hausgenossen der Frau von Willnangen noch aus der im nördlichen Deutschland einheimischen Familie des Baron Wallburg. Dieser bewohnte mit seiner Frau, zwei Töchtern und einem Sohne den obern Stock des nämlichen Hauses, von welchem Frau von Willnangen die erste Etage innehatte. Nicht sowohl diese nahe Nachbarschaft, als vielmehr eine gewisse Übereinstimmung in ihrer Lebensweise hatte beide Familien zuerst einander nähergebracht. Gegenseitiges Gefallen, besonders des jüngern Teils derselben, machte sie in kurzer Zeit zu unzertrennlichen Gefährten in allen der Geselligkeit geweihten Stunden.
General Lichtenfels, ein heitrer Greis, und sein Neffe Adelbert gehörten als frühere Bekannte des Baron Wallburg mit zu dem kleinen Kreise, in welchem Adelbert der einzige bedeutend Kranke war. Ehrenvoll im Kriege erhaltene, aber übel geheilte Wunden hatten diesen nach Karlsbad geführt, um Genesung oder doch wenigstens Linderung zu suchen. Im Innern schien er noch schmerzlicher verletzt zu sein, als im Äußern, denn alle seine Züge trugen tiefe Spuren eines verzehrenden Kummers. Gewöhnlich nahm er nur schweigenden Anteil an der Gesellschaft und schien gern in Gabrielens Nähe sich zu halten, deren ebenfalls nicht fröhliche Stimmung der seinen am besten zusagte. Sein ihn väterlich liebender und von ihm kindlich verehrter Oheim war, einzig ihn zu begleiten, nach Karlsbad gekommen, und es gewährte einen eignen rührenden Anblick, wenn der alte eisgraue, aber noch immer rüstige Krieger die schöne hohe Gestalt des Jüngern unterstützte, der, von einer Fußwunde gelähmt, sich nur mühsam und gebeugt fortbewegen konnte. Allwill, ein junger Dichter, und Wollmer, ein ausgezeichneter Tonkünstler, hatten sich auch diesmal, wie gewöhnlich, der Gesellschaft angeschlossen. Beide waren wegen ihrer Talente und ihres angenehmen Humors immer höchst willkommen.
Ernestos Klage über den Mangel allgemeiner Geselligkeit regte sogleich alle Mitglieder des Kreises zum lebhaftesten Widerspruch auf, denn sie befanden sich in dieser Abgeschlossenheit von den übrigen nicht minder behaglich als im Grunde Ernesto selbst und nahmen sie deshalb gern gegen ihn in Schutz. Auguste und Rosalie von Wallburg überhäuften den italienisierten Signor, wie sie ihn spottend nannten, mit Vorwürfen über seinen Wankelmut, der ihn verleite, sich nach andrer Gesellschaft zu sehnen, und die kleine zwölfjährige Luzie Wallburg sprang gar von der Stelle neben ihm auf, wo sie als seine erklärte Geliebte gewöhnlich zu sitzen pflegte, indem sie versicherte, von einem so zur Untreue geneigten Liebhaber wollte sie nichts weiter wissen.
Frieden und Ruhe wurden indessen bald wieder hergestellt, und Frau von Willnangen nahm den Faden des Gesprächs wieder auf, indem sie Karlsbad gegen Ernestos Tadel verteidigte. „Kommen Sie nur nach Töplitz oder überall hin“, sprach sie, „wo nur gebadet wird und nicht getrunken. Dort, wo morgens kein Brunnen Gelegenheit zum Bekanntschaftenmachen bietet, dort mag es Ihnen allenfalls erlaubt sein, über Isolierung der einzelnen und alle die tausend Schwierigkeiten zu klagen, die sich jeder nur einigermaßen allgemeineren Geselligkeit entgegenstellen.“
„Damit, daß es anderswo noch ärger ist, wird aber dem nicht abgeholfen, was ich hier als mangelhaft schelte“, erwiderte Ernesto. „Ich bleibe dabei, daß der größte Teil der Brunnengäste sich noch immer in Karlsbad mehr langweilt, als recht und billig ist und sogar als es bei einem solchen Zusammenfluß von Leuten möglich sein sollte, die alle nichts zu tun haben, als sich zu belustigen.“
„Ich muß hier auf Ernestos Seite treten“, nahm der Kapellmeister Wollmer das Wort. „Blicken Sie nur um sich her, die Sonne beginnt zu sinken, längstens in einer Stunde verweist der Ärzte strenges Gebot uns alle aus der Abendluft unter Dach und Fach, und dennoch werden dann noch vor Schlafengehen ein paar Abendstündchen übrig bleiben, die wohl jedermann gern auf angenehme Weise in Gesellschaft zubrächte. Sehen Sie indessen nur, wie sich schon alles vereinzelt und nach seiner vielleicht ziemlich unbequemen Wohnung hinzieht, während beide Säle leer bleiben, in denen man sich doch recht bequem noch zum erheiternden Gespräch versammeln könnte.“
Leo von Wallburg meinte, wenigstens der Bälle lobend erwähnen zu dürfen, die zweimal die Woche einen allgemeinen Vereinigungspunkt bieten, ward aber von Ernesto schnell unterbrochen. „Geht mir“, sprach dieser, „mit euren Bällen, auf welchen niemand tanzt, als wer seine Mittänzer gleich mitbringt. Diese beweisen gerade, wie sehr der Koterie-Geist hier herrschend ist. Tanzte wohl am verwichnen Sonntag im sächsischen Saal noch irgendeine Seele außer den verwünscht hübschen Polinnen? Und auch sie nur mit den Herren, welche sie auf den Ball geführt hatten. Freilich schweben diese Sarmatinnen wie Grazien einher; aber ringsum an den Wänden des Saals saßen auch deutsche und andre Grazien die Menge in langen Reihen da, ohne daß es einem von den vielen jungen Herren eingefallen wäre, sie zum Tanz aufzufordern.“
„Eigentlich“, nahm der General wieder das Wort, „eigentlich fehlt es uns hier nur an jemanden, der Aufopferung, Geschicklichkeit und Ansehen genug besäße, um sich an die Spitze aller Übrigen stellen zu können und nicht nur bei Festen und Bällen, sondern überall als Wirt die Honneurs zu machen. Ohne einen solchen Mittelpunkt gedeiht bei uns keine Geselligkeit. Wir Deutsche sind nun einmal bei solchen Gelegenheiten nicht sowohl träge als unbehülflich. Genau wie die Kinder, die, wenn sie zum ersten Mal zusammen kommen, um miteinander zu spielen, lange verschämt dastehen, einander kaum ansehen und dabei tun, als läge ihnen im mindesten nichts am Spiel, während sie sich vor innerlicher Ungeduld darnach nicht zu lassen wissen. Da muß durchaus jemand eintreten, der jedem zeigt, was es zu tun hat, um sich zu belustigen, und alle mit linder Gewalt aneinander treibt, sonst bleibt jeder für sich und ärgert sich dabei über den Nachbar, der nicht den ersten Schritt tun will.“
„Tun Sie diesen ersten Schritt und machen Sie der allgemeinen Not ein Ende, lieber Herr General“, sprach lächelnd Frau von Willnangen; „in jeder Hinsicht eignet sich niemand zu unserm Anführer besser als Sie, und ich bin im voraus überzeugt, daß jedermann dies dankbar anerkennen wird.“
Der General verbeugte sich und fuhr fort zu reden. „In jüngern Jahren habe ich oft aus eignem Antrieb es versucht, den Ehrenposten zu bekleiden, den Sie, meine gütige Freundin! mir jetzt wieder zuteilen möchten, dem ich mich aber um keinen Preis wieder unterziehen würde. In Bädern, in Garnisonen oder wo sonst der Zufall eine ungewohnte Zahl Menschen aus allen Ständen zusammenführt, welchen geselliges Vergnügen Bedürfnis ist, bin ich oft von eigner Lebenslust verleitet worden, mich zum maître de plaisir aufzuwerfen, aber lag es an meiner Ungeschicklichkeit oder an etwas anderm, ich weiß nur, es ist mir jedes Mal so schlecht bekommen, daß ich noch jetzt nicht ohne Ärger daran denken kann.“
„In der Tat“, sprach Baron Wallburg, „das Amt eines Zeremonien-, oder wenn Sie wollen, Vergnügen-Meisters ist eines der anerkannt mühseligsten und unbelohnendsten, am Hofe wie in der Stadt, vor allem aber in einer Republik, wie doch jeder Brunnenort eine ist, und ich begreife nicht, wie man anders, als durch den Drang der Umstände dazu gezwungen, sich ihm unterziehen mag.“
„Sollten Sie mich auch wieder der Anglomanie beschuldigen, lieber Vater!“ sprach Leo, „ich muß hier doch bemerken, daß das Talent der Briten, überall das Komfortabelste zu erfinden, sich auch in dem vorliegenden Fall bewährt. Unerachtet ihrer, jeder geselligen Verbindung mit Unbekannten noch weit mehr als die der Deutschen widerstrebenden Natur trafen sie dennoch den rechten Weg, alle zufriedenzustellen. In jedem bedeutenden Brunnenort wählen die Badegäste einen Zeremonienmeister, dessen Anordnungen jeder gern Folge leistet und der um einen anständigen Ehrensold für die gesellige Unterhaltung aller, wie jedes einzelnen, unermüdlich besorgt ist. So darf dort niemand über Vernachlässigung oder Langeweile klagen, der dies nicht selbst durch sein Betragen verschuldet.“
„Dacht' ich's doch, daß die große Erfindung auf etwas Fabrikmäßiges hinauslaufen würde“, sprach Baron Wallburg, „denn hoffentlich hat dieser Zeremonienmeister auch Gehülfen, die ihm vorarbeiten, und der Fremde, der amüsiert werden soll, geht dabei aus einer Hand in die andre wie ein englischer Knopf.“
„Haben Sie nicht auch aus Holz und Stahl vortrefflich gearbeitete Herrn und Damen, die eingeschoben werden, wenn es an lebendigen Tänzern fehlt?“ fragte Ernesto.
Die Idee solcher unermüdlichen Tänzer erweckte großes Vergnügen bei dem jüngern Teil der Gesellschaft. Vor allem äußerte die kleine Luzie den sehnlichen Wunsch, daß auf dem nächsten Ball deren ein halbes Dutzend, womöglich in Husarenuniform, erscheinen möchte. Dann, meinte sie, käme auch wohl einmal die Reihe an sie, mit so einem hölzernen Husaren zu tanzen, denn die großen Mädchen nähmen ihr die lebendigen Tänzer alle weg.
„Auch ich kenne die Badekönige, denn so pflegt man in England sie zu nennen“, nahm endlich der Kapellmeister das Wort, „und ich habe mich während meines vieljährigen Aufenthalts in jenem Lande zu wohl unter ihrem sanften Zepter befunden, als daß ich mich nicht laut für sie erklären sollte. Aus Reisebeschreibungen ist zwar jedermann von den Statuten ihres Reichs unterrichtet, aber den ganzen wohltätigen Einfluß derselben auf das Badeleben kann nur der ermessen, der wie ich einst zu ihren Untertanen gezählt ward.“
Noch vieles sprach man, bald lobend, bald tadelnd über diese englische Einrichtung, deren Einzelheiten selbst dabei sehr umständlich zur Sprache kamen. „Leo hatte in der Tat recht“, entschied endlich der General, „und ich wünsche herzlich, recht bald solche Könige auf deutschem Grund und Boden zu begrüßen. Ernestos fromme Wünsche können wahrhaftig nur durch ihre Einführung bei uns in Erfüllung gehen, aber ich fürchte aus mancherlei Gründen, daß sich unendliche Schwierigkeiten ihr entgegenstellen würden. Indessen käme es auf einen Versuch an, und wäre die Brunnenzeit nicht ihrem Ende so nahe, so möchte ich sie wohl, wenigstens als Probestück, auf einige Wochen in Vorschlag bringen, obgleich ich nicht weiß, wo ich sogleich einen würdigen Kandidaten zu diesem sehr schweren Posten finden würde.“ – „Ein Mann vom Stande könnte sich doch unmöglich dazu entschließen“, meinte Frau von Wallburg. „Und warum denn nicht? Meine gnädige Frau!“ erwiderte ihr schnell Ernesto. „Ich halte die Stelle eines solchen Königs für recht ehrenvoll, und um so mehr, da nicht gemeine Eigenschaften dazu gehören, sie mit Würde zu bekleiden.“ – „Glauben Sie vielleicht, daß die Stelle eines Bankiers am Pharao-Tische, die so mancher Sprößling eines sehr edeln Stammes ausfüllt, für ehrenvoller gelten dürfe?“ setzte der General lächelnd hinzu.
Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne mahnten jetzt die Gesellschaft zum Aufbruch, doch traf man noch vorher die Verabredung, es an einem der nächsten Abende zu versuchen, ob nicht der größere Teil der in Karlsbad gegenwärtigen Fremden zu einer zahlreichen Versammlung in einem der Säle zu veranlassen sei, um so vielleicht den Grund zu künftiger allgemeiner Geselligkeit zu legen. Niemand wandte gegen diesen Plan etwas ein außer Frau von Wallburg. „Ich weiß nicht“, sprach sie, „warum wir uns um die Übrigen, die sich um uns nicht bekümmern, soviel Mühe geben wollen, da wir ihrer doch nicht bedürfen, um uns recht wohl zu befinden. Unser Zirkel genügt uns, er ist groß genug, um uns zu amüsieren, und wir werden uns da eine Menge Bekanntschaften aufladen, unter denen sich gewiß Leute befinden, die gar nicht zu uns passen und die uns in Zukunft vielleicht recht lästig und beschwerlich in unserm eignen Hause werden können.“
Herr von Wallburg tröstete indessen seine Frau mit der Versicherung, daß Badebekanntschaften sich nie über die wenigen Wochen hinaus erstrecken dürfen, die man miteinander verlebt, und daß es anerkannt herkömmlich sei, auch die genausten dieser Art in seiner Heimat zu ignorieren, sobald man nicht durch eigne Beweggründe sich veranlaßt finde sie fortzusetzen; und so wanderte sie beruhigt mit der übrigen Gesellschaft ihrer Wohnung zu.
Die letzten, auf eine eigne, gleichsam etwas bezeichnen sollende Weise betonten Worte des Baron Wallburg machten indessen auf Frau von Willnangen einen nichts weniger als angenehmen Eindruck. Sie hörte sie mit dem prophezeienden Vorgefühl, mit welchem der kundige Schiffer bei sonst heiterem Himmel das kleine dunkle Wölkchen am fernsten Horizonte erblickt, welches ihm den nahenden Orkan verkündigt. Überhaupt wohnt in vielen Frauen ein Vorahnen dessen, was sie von denen, welchen sie auf ihrem Lebenspfade begegnen, zu erwarten haben, sei es Freude, sei es Schmerz. Liebe oder Feindseligkeit, sie empfinden beide lange im voraus, ehe sich noch die Person ihrer bewußt wird, in deren Brust diese Empfindungen später erwachen. Von diesem wunderbaren Gefühl geleitet, würde Frau von Willnangen den Umgang mit dem Baron Wallburg und seiner Frau vielleicht gänzlich vermieden haben, aber sie hielt es für unbillig und töricht, auf eine Ahnung zu achten, für welche sich durchaus kein vernünftiger Grund erdenken ließ, und überdem erschien ihr der jüngere Teil dieser Familie so liebenswürdig, daß sie um seinetwillen manches ihr minder Angenehme gern übersehen mochte.
Nicht ohne Wohlgefallen hatte sie das Aufkeimen einer Neigung Leos von Wallburg zu ihrer Tochter bemerkt, deren Erwiderung von Augustens Seite ihr durchaus nicht unerwünscht gekommen wäre. Leo zeichnete sich in der Tat auf eine vorteilhafte Weise vor andern jungen Männern aus. Mit einem sehr gebildeten Geist und einem angenehmen Äußern verband er die schätzenswertesten Eigenschaften des Gemüts, die sich auf das unverkennbarste bei jeder Gelegenheit, besonders aber im Umgang mit den Seinen äußerten. Und so war es wohl sehr verzeihlich, wenn Frau von Willnangen sich bisweilen süßen, allmählich zu Wünschen und Hoffnungen ausartenden Träumen vom künftigen Glück ihrer Tochter überließ, besonders da der einstigen Erfüllung derselben sich auch im Äußern nichts entgegen zu stellen schien. Dennoch hütete sie sich wohl, mit Augusten darüber zu sprechen, sie ließ das Herz ihrer Tochter ungestört seinen stillen Gang gehen; der Reue Schmerzen, die sie noch immer bei Gabrielens Anblick empfand, lehrten sie jetzt Vorsicht üben, da es vielleicht der ganzen Zukunft ihres geliebten einzigen Kindes galt.
Das vom Baron Wallburg über die Badebekanntschaften ausgesprochene Urteil wäre vielleicht von ihr unbeachtet geblieben, hätte es sie nicht plötzlich an ein Gespräch erinnert, welches sie am nämlichen Morgen mit dem General auf einem einsamen Spaziergange gehalten hatte. Er, der immer offen zu Werke zu gehen gewohnt war, hatte mit einer höchst auffallenden Absichtlichkeit die Gelegenheit gesucht, vom Baron Wallburg und dessen Gemahlin zu sprechen. Beide wurden zwar als sehr vorzüglich in jeder Hinsicht von ihm gepriesen, dabei aber zu wiederholten Malen und fast warnend des Ahnenstolzes erwähnt, der in ihrem Vaterland überall mehr als in irgendeinem andern Teile Deutschlands vorherrsche. Auch dieses sonst so liberal gesinnte Paar sollte, nach des Generals Versicherung, in dieser Hinsicht mit unüberwindlichen Vorurteilen erfüllt sein; nur feine Sitte verhindere es, diese auch im gewöhnlichen Leben laut werden zu lassen.
Die Dazwischenkunft des Barons selbst und die übrigen Zerstreuungen des Tages hatten Frau von Willnangen abgehalten, dieses Gespräch mit dem Ernst zu würdigen, zu welchem es augenscheinlich des Generals Absicht war, sie zu stimmen. Jetzt aber stand jedes Wort desselben plötzlich wieder vor ihrem Geist, und dabei fiel der Gedanke ihr mit Zentnerschwere auf das Herz, daß Augustens Stammbaum wirklich nicht von der Art sei, um vor strengen Richtern als gültig zu bestehen. Ihr Vater war der Sohn eines sehr angesehenen, aber bürgerlichen Hauses, seinen später erworbenen Adel verdankte er nur seinen Verdiensten und dem Range, den er bekleidete. Die lange Reihe von Ahnen, welche Frau von Willnangen als eine geborene Rosenberg zählte, vermochte es leider nicht, die ihm fehlenden zu ersetzen.
Frau von Willnangen fühlte sich bei ihrer Zuhausekunft von diesen Gedanken so verstimmt, daß sie es ausschlug, noch, wie sonst gewöhnlich, ein paar Stunden bei der Gesellschaft zu bleiben, und sich vielmehr mit den Ihrigen in ihr Zimmer zurückzog. Diese Verstimmung teilte sich auch den Übrigen mit, alle vereinzelten sich, und der Abend nach diesem so fröhlich begonnenen Nachmittag, der eine allgemeine Geselligkeit einzuführen bestimmt schien, war der erste, an dem jedermann sich bestmöglichst zu isolieren strebte.
Ein wunderschöner, wenngleich schwüler Morgen folgte diesem Abend. Die ganze, durch das Hinzutreten mehrerer entfernteren Bekannten sehr vergrößerte Gesellschaft beschloß deshalb, einen längst entworfenen Plan auszuführen. Das Frühstück sollte auf dem höchsten der über dem schönen Tal thronenden Berge eingenommen werden, neben den drei Kreuzen, die dessen Gipfel bezeichnen. Auch Frau von Willnangen hatte sich mit ihrer Tochter von dem allgemeinen Vergnügen nicht ausschließen mögen. Ernesto mit der fröhlichen Luzie waren als Heerführer an die Spitze der kleinen Schar gestellt, die singend und jubelnd vom Brunnen weg durch den blinkenden Morgentau hinzog. Allwill hatte einen eignen Rundgesang für diese Wallfahrt gedichtet, der Kapellmeister erfand auf der Stelle eine Melodie dazu, dies erhöhte die laute Freude, mit der alle sich auf den Weg machten.
Nur Adelbert und Gabriele blieben einsam zurück. Mit seinem gelähmten Fuß konnte ersterer gar nicht daran denken, eine solche Wanderung zu unternehmen, und Gabriele durfte es auch noch nicht wagen, sich der Ermüdung eines so weiten Spaziergangs auszusetzen. Nach dem Scheiden der fröhlichen Gesellschaft begleitete Adelbert Gabrielen schweigend und langsam nach Hause, aber der Morgen war zu schön, um ihn ganz ungenossen vergehen zu lassen, und so wandten sie sich daher bald den lieblichen Schattengängen zu, die das anmutige Tal von allen Seiten bekränzen.
Nie zuvor hatten beide Gelegenheit gehabt, so ganz allein miteinander zu sein. Adelbert fühlte sich zwar vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an durch die stille sanfte Schwermut zu ihr hingezogen, die wie ein Schleier über Gabrielens ganzes Wesen sich verbreitete, und der milde Strahl ihres schönen dunkeln Auges war oft wie ein erwärmendes Licht in seine wunde Brust gedrungen, aber die reine Güte ihres Gemüts und selbst ihre hohe geistige Bildung konnten ihm dennoch nie zuvor, wie jetzt im ungestörten Gespräch mit ihr, in dieser Klarheit sichtbar werden. Auch hatte sie sich ihm noch nie so unaussprechlich freundlich und vertrauend gezeigt.
Beide waren heute durch ähnliche Leiden von der allgemeinen Freude ausgeschlossen geblieben, und Gabriele fühlte sich dadurch Adelberten gewissermaßen schwesterlich verwandt. Sie neigte sich deshalb zu ihm und sprach mit ihm wie eine liebende Schwester mit ihrem kranken leidenden Bruder sprechen könnte. Ein wahrhaft und tief verwundetes Gemüt erkennt das andre ohne Worte, daher wußte Gabriele recht wohl, daß Adelbert freundlicher Teilnahme weit bedürftiger sei, als es selbst seine im Äußern zerstörte Jugendblüte vermuten ließ, und daß vielleicht nur diese ihn von völligem Untergang in Tiefsinn und Schwermut erretten könne. Sie wandte sich deshalb unendlich mitleidig zu ihm; alles was sie sagte und tat, drückte das Bestreben aus, ihm tröstlich zu werden. Ihre ohnehin sanfte melodische Stimme klang wie das Flöten einer Nachtigall, denn sie suchte sie noch mehr zu mildern, indem sie zu ihm sprach, und Adelberten ging dabei in lange nicht empfundener Seligkeit das Herz auf.
So in ernstes und vertrauliches Gespräch verloren, wanderten beide langsam nebeneinander hin, länger und weiter, als sie selbst es bemerkten. An sich unbedeutende Anhöhen, die Adelberten aber noch gestern unübersteiglich geschienen hatten, ging er jetzt, seiner Krücke nicht gedenkend, an Gabrielens Seite hinauf und hinab, ohne es zu gewahren. An den Stellen, welche ihr am schwierigsten dünkten, bot sie ihm hülfreich die kleine weiße Hand, und indem er sie berührte, war ihm, als ob unsichtbare Engel ihn mit ihren Flügeln unterstützten. Zwar dachte Gabriele nicht ohne Sorge an den Rückweg, indem sie neben ihm herging; aber sie vermochte es nicht über sich zu bringen, ihn aus dem augenblicklichen Vergessen seines traurigen Zustandes zu erwecken, und verschwieg daher ihre Besorgnisse.
Endlich erreichten sie den kleinen Tempel, welcher den Namen des Lords Findlater, des Verschönerers dieser Gegend, trägt, und mit ihm die beinahe äußerste Grenze der eigentlichen Promenaden. Bei ihrer, ihnen jetzt erst recht fühlbar werdenden Ermüdung und der ungewöhnlichen Schwüle des Tages war ihnen dieser Ruhepunkt höchst willkommen. Sie setzten sich traulich nebeneinander und fuhren in dem Gespräche fort, dessen Interesse sie so unvermerkt bis zu diesem, von ihrer Wohnung ziemlich weit abgelegnen Platz hingeführt hatte.
Die Unterhaltung war zuerst von der Poesie und dem verschiednen Wert der neusten Erzeugnisse unserer Dichter ausgegangen, unmerklich aber hatte sie sich der Liebe und ihren Leiden und Freuden zugewendet. Gabrielens beredtes Auge hatte Adelberten längst eine unglückliche Liebe als das stille Geheimnis ihres Herzens verraten, obgleich sie auch nicht auf die leiseste Art darauf hindeutete. Er strebte daher mit der zarten Schonung, alles zu vermeiden, was ihm das Ansehen geben konnte, als suche er ihr Vertrauen zu erschleichen oder wolle die nähern Umstände eines Geschicks erspähen, das er nicht umhin konnte, sich dem eigenen ähnlich zu denken. Der Anblick des unaussprechlich anmutigen und doch so tief verletzten Wesens an seiner Seite stimmte ihn dabei immer wehmütiger, indem er doch zugleich über seine eignen Schmerzen für den Augenblick sich beruhigter fühlte.
„Nur eines kann ich mir denken, wogegen kein Trost zu finden wäre“, sprach Gabriele im Verlauf des Gespräches zu Adelbert. „Trennung, Tod des Geliebten, sind zwar ein unnennbares Weh, das schwache Herz möchte darüber brechen, wenn nicht die Liebe selbst und der schöne Hoffnungsstrahl von jenseits es hielten, aber dieser Schmerz reicht doch nicht an jenen, alle Hoffnung sogar jeden Wunsch nach Trost vernichtenden, vor dessen Möglichkeit ich zurückbebe. – Er heißt Unwert des Geliebten, Verachten dessen, was wir dennoch lieben müssen. – Nein, die menschliche Natur kann dies Entsetzliche nicht ertragen!“
Totenblässe überzog bei diesen Worten Adelberts Gesicht, das er im nächsten Moment krampfhaft zitternd mit beiden Händen verhüllte. „Und doch, mein Fräulein! Und doch“, stammelte er fast unhörbar. „Sie haben in zwei Worten die traurige Bestimmung meines Daseins ausgesprochen. Lieben und Verachten! Die menschliche Natur erträgt es wohl, Sie sehen, ich lebe noch.“
Gabriele hätte vor Reue darüber vergehen mögen, daß sie ihn, den sie beruhigen und trösten zu wollen sich bewußt war, so unvorsichtig verletzt hatte. Sie fand und suchte kein Wort zu ihrer Entschuldigung, aber Adelbert hob den getrübten Blick zu ihr auf und las in ihrem schimmernden Auge innigere Teilnahme, schmerzlichere Reue, als sie mit aller Beredsamkeit ihm hätte ausdrücken können. Sein Herz öffnete sich zum ersten Mal wieder nach langer Zeit im Ergusse des reinsten Vertrauens; auch sie fand allmählich herzliche beschwichtigende Worte für ihn, und bald vernahm sie die Geschichte seiner glücklich verlebten früheren Zeit und die Ursache des jetzt ihn zerstörenden Kummers, die er mit der allen Unglücklichen eignen Umständlichkeit ihr vertrauend mitteilte.
Früh verwaiset, wuchs Adelbert im Schlosse seines edlen Oheims auf, der das hoffnungsvolle Kind mit wahrhaft väterlicher Liebe erzog. Zwei Knaben und ein jüngeres Mädchen, Herminie genannt, teilten mit ihm die Stunden des Unterrichts wie die der Erholung. Sie waren die Kinder einer benachbarten Familie, welche durch enge Bande der Freundschaft mit seinem Oheim von jeher vereinigt, fast immer in seiner Nähe lebte. Adelberts Auge strahlte noch einmal im Widerschein der untergegangenen Sonne seines Frühlingslebens, als er jetzt erwähnte, wie schon in früher Jugend die innigste Liebe zu Herminien ihn zu allem Guten entflammte, wie er stets sich auszuzeichnen strebte, um ihr zu gefallen, und wie auch sie mit unverkennbarer Zärtlichkeit an ihm hing. Sein Oheim und Herminiens Eltern blickten lächelnd auf die frühe Liebe ihrer Kinder, und bauten darauf goldene Pläne für ihre Zukunft. „O wäre ich damals gestorben!“ rief Adelbert mit schimmernden Augen, „damals in der Morgenröte des Lebens, die den herrlichsten aller Tage schien verkünden zu wollen, der jetzt mir untergegangen ist in Nacht und Graus.“
Nicht weniger, als dieses rastlose Treiben, ängstigte ihn ein ewiges Überlegen, wie er sein Geheimnis auf das schnellste und vorteilhafteste benutzen könne, sobald es ihm gelungen wäre, es ganz zu entschleiern. Sollte er seine Tochter zur Erbin seines durch mühseliges, unablässiges Forschen und tausendfache Opfer erworbenen Wissens einsetzen? Sollte er sich daran genügen lassen, ihr noch bei seinem Leben unermeßliche Schätze zuzuwenden und sein Geheimnis mit sich in die Gruft seiner Ahnen hinabzunehmen? Diese Zweifel erregten einen nie zu stillenden Zwiespalt in seinem Innern, der, zerstörender als Wachen und Arbeit, ihn langsam verzehrte. Es war ihm unmöglich, einem weiblichen Wesen den Mut, die Klugheit, ja selbst die Verschwiegenheit zuzutrauen, welche unumgänglich dazu gehören, ein solches Geheimnis nicht nur zu verwalten, sondern auch zu verbergen. Die Gefahren, welche jedem drohen, den die Gewaltigen dieser Erde im Besitz solcher Kenntnisse wähnen, waren ihm nur zu bekannt, und das Geschick Böttchers, des unglücklichen Erfinders des sächsischen Porzellans, trat oft warnend vor seinen Geist. Alle diese Überlegungen machten ihn geneigt, sein Geheimnis mit sich sterben zu lassen; dann aber ergriff ihn der Gedanke, wie groß es sei, die Erbin seines Namens, mit dieser mächtigsten aller irdischen Gewalten ausgerüstet, zurückzulassen. Ihn schwindelte, ein neuer Kampf entstand in seinem Gemüt, und so konnte der unglückliche Greis nimmer zur Ruhe gelangen. Rastlos schwankte er ewig in banger Sorge von einem Entschlusse zum andern und verwachte die langen, endlosen Stunden des Tages auf seinem Lager, bis die Abendsonne die Zinnen seiner Burg rötete und ihn mahnte, aufzustehen, um sein nächtliches Tagewerk zu beginnen.
Frau von Willnangen zögerte keinen Augenblick, die Erlaubnis des Barons zu benutzen und die Reise in das Bad anzutreten, denn der Sommer war indessen schon ziemlich weit vorgerückt, und da der Herbst dem rauhen Klima der Gebirge selten günstig ist, so hatte sie keine Zeit zu verlieren.
Ernesto suchte und erhielt sehr leicht die Erlaubnis, sich der kleinen Karawane seiner Freundinnen anschließen zu dürfen, welche ihrerseits froh waren, ihn zum Beschützer auf der Reise zu haben. Nicht Furcht vor der während der schönen Jahreszeit mit jedem Tag überhandnehmenden Öde der Stadt hatte ihn zu diesem Entschlusse bewogen, wie Auguste im fröhlichen Mute ihm oft Schuld gab, sondern wahrhaft väterliche, treue Liebe für die verwaisete Tochter der Frau, deren Andenken ihm noch immer wie ein hell leuchtender Stern am fernen Horizont seiner längst hinter ihm zurückgebliebenen Jugend strahlte. Gabrielens Geschick und der Zustand ihres Gemüts waren dem treuen, beobachtenden Freunde nicht verborgen geblieben, obgleich ihm niemand darüber etwas anvertraut hatte.
Zwischen ihm, Frau von Willnangen und auch Gabrielen war sogar eine Art von stillschweigender Übereinkunft darüber entstanden; man behandelte ihn, als wisse er alles, ohne doch je ausdrücklich irgendeines nähern Umstandes zu erwähnen. Er, der lebenskundige Mann, sah Gabrielens Zustand in weit hellerem Licht, als Frau von Willnangen. Er glaubte Gabrielens Ruhe nicht für immer zerstört, er hielt sie sogar in diesem Augenblick nicht für unglücklich. Er wußte, wie der Zauber der Jugend alles, selbst den Schmerz, zu verschönern vermag und ihn zuletzt in das süßeste aller Spiele umwandelt, das aber zugleich auch das gefährlichste ist, weil es dem Gemüte die Kraft entzieht für den Ernst des Lebens in später kommenden Jahren. Die Tränen jener nie wiederkehrenden Frühlingszeit gleichen den Tautropfen auf der Rosenknospe, sie verhauchen in süßen Düften, solange der Morgen frisch atmet, aber wenn die glühenden Strahlen der Mittagssonne sie noch finden, so brennen sie sie ätzend zu unzerstörbaren Flecken ein; die entstellten, früh welkenden Blätter bleiben geschlossen und vermögen es nie, sich in der ihnen von der Natur bestimmten Herrlichkeit zu entfalten.
Übrigens wußte Ernesto auch, daß der Frauen Herz ewig jung bleibt, wenngleich ihre Locken unter der Hand der Zeit erbleichen; daß sie immer geneigt bleiben, mit ihren jüngern Freundinnen sich aufs neue den Wonnen und Schmerzen hinzugeben, welche einst auch ihren Frühling erhellten und trübten und die der Machtspruch des späten Alters nur entschlummern hieß, aber nicht vernichten konnte. Deshalb fürchtete er Frau von Willnangens zu weiche Teilnahme für Gabrielen, jetzt da diese an dem ihre ganze Zukunft bestimmenden Wendepunkt ihres Lebens stand, und achtete es für Pflicht, in ihrer Nähe zu bleiben, um sie mit starker väterlicher Hand zu fassen, zu stützen, zu leiten, sobald es Not täte.
Die kleine Reise ward in wenigen Tagen und ohne alle Abenteuer zurückgelegt. Gabrielens stille Heiterkeit während derselben hatte zwar oft einen höchst wehmütigen Ausdruck, der aber nie in wilderen Schmerz, in tiefere Trauer ausartete.
Die Reisegesellschaft kam über Eger nach Karlsbad, und die Gegend in der Nähe dieses ersten Ziels ihrer Reise, besonders aber die mit keinem andern Badeorte zu vergleichende Einfahrt in das Städtchen selbst, entzückte sie alle. „Wahrlich“, rief Auguste, „es verlohnt sich der Mühe, alle Jahre nach Karlsbad zu reisen, einzig um darin anzukommen. Ich wollte, ich könnte, solange wir hier bleiben, wenigstens jede Woche einmal die Freude haben, mich so lustig vom Türmer anblasen zu hören, während ich am Fuß dieser prächtigen Felsen unter den wilden Rosenbüschen hinrolle und ihre Wälder, ihre schimmernden Kreuze, ihre Pyramidenzacken hoch über mir sehe.“
Gabriele lehnte indessen schweigend zum Wagen hinaus, ihr Blick ruhte auf den Felsen, ihre Gedanken flogen der Heimat zu. So, ja ebenso umstarrte hohes Gebirge das alte Schloß, in welchem sie das Licht der Sonne zuerst erblickt hatte. Nicht so geschmückt mit jeder Anmut der Kultur und einer üppigen Vegetation, aber doch diesem ähnlich, nur beinah enger noch und tiefer war das stille Tal, in welchem sie an der Hand ihrer Mutter zu wandeln pflegte. Seit sie Schloß Aarheim verließ, war sie immer in der Ebene geblieben, nur ganz von ferne hatte sie mit der allen im Gebirge Gebornen eignen Sehnsucht ihre lieben blauen Berge zu sich herüberschimmern gesehen. Beinahe ein Jahr war vorübergezogen, seit sie von ihnen schied. Ihr war, als kehre sie in diesem Augenblick wieder heim zu ihnen aus der fernen Welt, welche sie mit so wenig Erwartungen betreten hatte, in der sie so unendlich viel fand, was nur noch in der Erinnerung ihr gehörte, und von der sie, ohnerachtet ihrer Jugend, jetzt zu wissen glaubte, daß sie ihr nichts weiter mehr zu bieten habe als ein Grab.
Der wirkliche Eintritt in Karlsbad und in ihre freundliche Wohnung riß sie aus ihren trüben Träumen, und Augustens herzliche Freude an allen neuen Umgebungen erweckte auch sie zur Teilnahme. Bald gewahrte sie sich selbst in einer neuen Welt. Die geputzten Brunnengäste, welche an dem wunderschönen lauen Sommerabend unter ihrem Fenster auf- und abgingen, schienen ihr unzählbar, so daß die große lebensreiche Stadt, welche sie eben verlassen hatte, ihr wie tot dünkte gegen diesen kleinen, einem Ameisenhaufen ähnlichen Fleck Erde und sie sich an dem ungewohnten Schauspiel fast ebensosehr ergötzte als Auguste.
Der Julimonat, und mit ihm die Zeit, während welcher Karlsbad am glänzendsten erscheint, war über die Hälfte vorübergezogen, als Frau von Willnangen mit ihren Begleitern dort anlangte. Einige fürstliche Personen, die bisher einen kleinen Hof gebildet hatten, welcher den vornehmern Brunnengästen einen, alle übrigen ausschließenden Vereinigungspunkt gewährte, hatten sich schon zur Nachkur in andere Bäder begeben. Täglich sah man lange Reihen mit Koffern hochgepackter großer Berlinen über die Wiese ziehen, in welchen vornehme Familien ihnen nacheilten. Dennoch blieb die Gesellschaft noch immer zahlreich genug, um keine Lücke merkbar werden zu lassen, und neue Ankömmlinge ersetzten täglich die Stelle der Abreisenden.
Frau von Willnangen besaß unter vielen angenehmen Eigenschaften auch die, sich überall, wohin sie kam, leicht anzusiedeln und heimisch zu werden. Auf Reisen wußte sie dem allerungemütlichsten Gasthofszimmer in wenigen Minuten ein wohnliches Ansehen zu geben, ohne daß man sonderlich bemerken konnte, was sie darin verändert habe. Wo sie an fremden Orten längere Zeit blieb, da gewannen alle ihre Umgebungen bald einen so behaglich-häuslichen Anstrich, daß jedem wohl darin ward, dem es erlaubt war, sich ihr zu nahen.
Darum sammelte sich auch in Karlsbad wie überall ein sehr angenehmer Kreis der Liebenswürdigsten und Gebildetsten um sie her. Es war als ob sie durch einen Zauberspruch alle an sich zöge, die zu diesen gezählt werden durften, oder als ob sie ein Zeichen an sich trüge, an dem die Gleichgestimmten sie erkannten. Dennoch wunderte sich jeder, der sie zum ersten Mal sah, wie diese einfache, weder durch jugendlichen Reiz noch glänzenden Witz ausgezeichnete Frau dazu gekommen sei, der Mittelpunkt der Gesellschaft zu werden, so anspruchlos und zuvorkommend war sie in ihrem Betragen gegen alle.
Gabrielen hatte der Arzt nur ein paar Gläser des Theresienbrunnens, als des schwächsten von allen, zu trinken erlaubt, damit sie sich doch auch mit Ehren in die Reihe der Brunnengäste stellen dürfe; denn es ist nichts unangenehmer, als bei einem, allen gemeinschaftlichen Zweck, allein ausgeschlossen zu bleiben. Frühes Aufstehen, Bewegung in der vom Duft der Bergkräuter und frischem Waldeshauch erfüllten Luft und vor allem Rückkehr zu der regelmäßigen Lebensart, deren sie während dieses Winters sich hatte entwöhnen müssen, waren die eigentlich ihr vom Arzt verordnete Kur, und der Erfolg bewies, daß er in der Wahl nicht geirrt hatte. Gabriele, die jetzt eben ihr siebzehntes Jahr vollendete, blühte von Tage zu Tage schöner auf. Der Rosenglanz der Gesundheit gab ihr einen neuen Reiz, ohne den fast ätherischen Ausdruck zu zerstören, der von ihrer frühsten Jugend an sie ausgezeichnet und ihr das Ansehn einer Bewohnerin andrer Welten gegeben hatte. Dabei lag in ihrem freundlich-anspruchslosen Wesen etwas so unaussprechlich Liebliches, daß jedermann sich zu ihr gezogen fühlen mußte, obgleich der stille Ernst, mit dem sie das Leben nur als Zuschauerin zu betrachten schien, niemanden zu näherer Vertraulichkeit aufforderte.
Unter den Reisegesellschaftern der Frau von Willnangen war Ernesto der einzige, der mit dem Ton und überhaupt dem Leben in Karlsbad nicht recht zufrieden sein wollte. Sie selbst war zu oft sowohl hier als an ähnlichen Orten gewesen, um mehr von ihnen zu fordern, als sie ihrer jetzigen Einrichtung nach leisten können. Augustens heitere Natur befand sich in ihrer Mutter und Gabrielens Gesellschaft überall wohl, und diese freute sich zwar der herrlichen Umgegend, war aber in ihrer innern Welt noch zu befangen, um sonst noch Ansprüche irgendeiner Art an die äußere zu machen.
Anders aber verhielt es sich mit Ernesto. Dieser hatte noch nie zuvor einen Brunnenort besucht, denn zu der Zeit, da er im frühen Jünglingsalter Deutschland verließ, um die Ausbildung seines Talents in Italien zu suchen, war es noch nicht wie jetzt Gebrauch, die Bäder als Erholungsorte zu betrachten. Eine Badereise wurde damals als ein großer Entschluß und fast immer nur als der letzte Versuch zu genesen angesehen, ja der Ausspruch des Arztes, welcher die Kranken dorthin verwies, klang den mehresten von ihnen wie ein halbes Todesurteil. Daher kannte sie Ernesto nur aus lobpreisenden Aufsätzen in Zeitschriften und hochtönenden, an Ort und Stelle verfertigten Beschreibungen, die ihn freilich weit mehr erwarten ließen, als er fand.
„Wir sitzen hier ganz vortrefflich“, sprach er einst in halb unmutiger, halb zufriedner Stimmung zu der Gesellschaft, die sich an einem warmen Nachmittag im Schatten der schönen Bäume vor dem böhmischen Saal recht häuslich niedergelassen hatte. „Wir sitzen hier ganz vortrefflich. Frau von Willnangen macht die angenehme Wirtin als wäre sie zu Hause, die übrigen Damen arbeiten an allerliebsten Kleinigkeiten, und wir Männer führen weise Gespräche. Uns ist wohl! Aber wir bilden doch einen Staat im Staate, und das ist hier nicht recht. Mir wenigstens tut mitten in meiner Glückseligkeit das Herz weh, wenn ich die einzelnen Paare ansehe, die dort auf der Wiese und hier in den Alleen langweilig und langsam nebeneinander herschlendern. Da Gott hier für alle und jede seinen Segen in die Quellen fließen läßt, so sollten auch wir niemanden von unsern Vergnügungen ausschließen und alle zusammen darnach streben, daß allgemeine Freude die ganze Brunnengesellschaft zu einer Familie vereine.“
Die Gesellschaft, an welche Ernesto diese Worte richtete, bestand außer den Hausgenossen der Frau von Willnangen noch aus der im nördlichen Deutschland einheimischen Familie des Baron Wallburg. Dieser bewohnte mit seiner Frau, zwei Töchtern und einem Sohne den obern Stock des nämlichen Hauses, von welchem Frau von Willnangen die erste Etage innehatte. Nicht sowohl diese nahe Nachbarschaft, als vielmehr eine gewisse Übereinstimmung in ihrer Lebensweise hatte beide Familien zuerst einander nähergebracht. Gegenseitiges Gefallen, besonders des jüngern Teils derselben, machte sie in kurzer Zeit zu unzertrennlichen Gefährten in allen der Geselligkeit geweihten Stunden.
General Lichtenfels, ein heitrer Greis, und sein Neffe Adelbert gehörten als frühere Bekannte des Baron Wallburg mit zu dem kleinen Kreise, in welchem Adelbert der einzige bedeutend Kranke war. Ehrenvoll im Kriege erhaltene, aber übel geheilte Wunden hatten diesen nach Karlsbad geführt, um Genesung oder doch wenigstens Linderung zu suchen. Im Innern schien er noch schmerzlicher verletzt zu sein, als im Äußern, denn alle seine Züge trugen tiefe Spuren eines verzehrenden Kummers. Gewöhnlich nahm er nur schweigenden Anteil an der Gesellschaft und schien gern in Gabrielens Nähe sich zu halten, deren ebenfalls nicht fröhliche Stimmung der seinen am besten zusagte. Sein ihn väterlich liebender und von ihm kindlich verehrter Oheim war, einzig ihn zu begleiten, nach Karlsbad gekommen, und es gewährte einen eignen rührenden Anblick, wenn der alte eisgraue, aber noch immer rüstige Krieger die schöne hohe Gestalt des Jüngern unterstützte, der, von einer Fußwunde gelähmt, sich nur mühsam und gebeugt fortbewegen konnte. Allwill, ein junger Dichter, und Wollmer, ein ausgezeichneter Tonkünstler, hatten sich auch diesmal, wie gewöhnlich, der Gesellschaft angeschlossen. Beide waren wegen ihrer Talente und ihres angenehmen Humors immer höchst willkommen.
Ernestos Klage über den Mangel allgemeiner Geselligkeit regte sogleich alle Mitglieder des Kreises zum lebhaftesten Widerspruch auf, denn sie befanden sich in dieser Abgeschlossenheit von den übrigen nicht minder behaglich als im Grunde Ernesto selbst und nahmen sie deshalb gern gegen ihn in Schutz. Auguste und Rosalie von Wallburg überhäuften den italienisierten Signor, wie sie ihn spottend nannten, mit Vorwürfen über seinen Wankelmut, der ihn verleite, sich nach andrer Gesellschaft zu sehnen, und die kleine zwölfjährige Luzie Wallburg sprang gar von der Stelle neben ihm auf, wo sie als seine erklärte Geliebte gewöhnlich zu sitzen pflegte, indem sie versicherte, von einem so zur Untreue geneigten Liebhaber wollte sie nichts weiter wissen.
Frieden und Ruhe wurden indessen bald wieder hergestellt, und Frau von Willnangen nahm den Faden des Gesprächs wieder auf, indem sie Karlsbad gegen Ernestos Tadel verteidigte. „Kommen Sie nur nach Töplitz oder überall hin“, sprach sie, „wo nur gebadet wird und nicht getrunken. Dort, wo morgens kein Brunnen Gelegenheit zum Bekanntschaftenmachen bietet, dort mag es Ihnen allenfalls erlaubt sein, über Isolierung der einzelnen und alle die tausend Schwierigkeiten zu klagen, die sich jeder nur einigermaßen allgemeineren Geselligkeit entgegenstellen.“
„Damit, daß es anderswo noch ärger ist, wird aber dem nicht abgeholfen, was ich hier als mangelhaft schelte“, erwiderte Ernesto. „Ich bleibe dabei, daß der größte Teil der Brunnengäste sich noch immer in Karlsbad mehr langweilt, als recht und billig ist und sogar als es bei einem solchen Zusammenfluß von Leuten möglich sein sollte, die alle nichts zu tun haben, als sich zu belustigen.“
„Ich muß hier auf Ernestos Seite treten“, nahm der Kapellmeister Wollmer das Wort. „Blicken Sie nur um sich her, die Sonne beginnt zu sinken, längstens in einer Stunde verweist der Ärzte strenges Gebot uns alle aus der Abendluft unter Dach und Fach, und dennoch werden dann noch vor Schlafengehen ein paar Abendstündchen übrig bleiben, die wohl jedermann gern auf angenehme Weise in Gesellschaft zubrächte. Sehen Sie indessen nur, wie sich schon alles vereinzelt und nach seiner vielleicht ziemlich unbequemen Wohnung hinzieht, während beide Säle leer bleiben, in denen man sich doch recht bequem noch zum erheiternden Gespräch versammeln könnte.“
Leo von Wallburg meinte, wenigstens der Bälle lobend erwähnen zu dürfen, die zweimal die Woche einen allgemeinen Vereinigungspunkt bieten, ward aber von Ernesto schnell unterbrochen. „Geht mir“, sprach dieser, „mit euren Bällen, auf welchen niemand tanzt, als wer seine Mittänzer gleich mitbringt. Diese beweisen gerade, wie sehr der Koterie-Geist hier herrschend ist. Tanzte wohl am verwichnen Sonntag im sächsischen Saal noch irgendeine Seele außer den verwünscht hübschen Polinnen? Und auch sie nur mit den Herren, welche sie auf den Ball geführt hatten. Freilich schweben diese Sarmatinnen wie Grazien einher; aber ringsum an den Wänden des Saals saßen auch deutsche und andre Grazien die Menge in langen Reihen da, ohne daß es einem von den vielen jungen Herren eingefallen wäre, sie zum Tanz aufzufordern.“
„Eigentlich“, nahm der General wieder das Wort, „eigentlich fehlt es uns hier nur an jemanden, der Aufopferung, Geschicklichkeit und Ansehen genug besäße, um sich an die Spitze aller Übrigen stellen zu können und nicht nur bei Festen und Bällen, sondern überall als Wirt die Honneurs zu machen. Ohne einen solchen Mittelpunkt gedeiht bei uns keine Geselligkeit. Wir Deutsche sind nun einmal bei solchen Gelegenheiten nicht sowohl träge als unbehülflich. Genau wie die Kinder, die, wenn sie zum ersten Mal zusammen kommen, um miteinander zu spielen, lange verschämt dastehen, einander kaum ansehen und dabei tun, als läge ihnen im mindesten nichts am Spiel, während sie sich vor innerlicher Ungeduld darnach nicht zu lassen wissen. Da muß durchaus jemand eintreten, der jedem zeigt, was es zu tun hat, um sich zu belustigen, und alle mit linder Gewalt aneinander treibt, sonst bleibt jeder für sich und ärgert sich dabei über den Nachbar, der nicht den ersten Schritt tun will.“
„Tun Sie diesen ersten Schritt und machen Sie der allgemeinen Not ein Ende, lieber Herr General“, sprach lächelnd Frau von Willnangen; „in jeder Hinsicht eignet sich niemand zu unserm Anführer besser als Sie, und ich bin im voraus überzeugt, daß jedermann dies dankbar anerkennen wird.“
Der General verbeugte sich und fuhr fort zu reden. „In jüngern Jahren habe ich oft aus eignem Antrieb es versucht, den Ehrenposten zu bekleiden, den Sie, meine gütige Freundin! mir jetzt wieder zuteilen möchten, dem ich mich aber um keinen Preis wieder unterziehen würde. In Bädern, in Garnisonen oder wo sonst der Zufall eine ungewohnte Zahl Menschen aus allen Ständen zusammenführt, welchen geselliges Vergnügen Bedürfnis ist, bin ich oft von eigner Lebenslust verleitet worden, mich zum maître de plaisir aufzuwerfen, aber lag es an meiner Ungeschicklichkeit oder an etwas anderm, ich weiß nur, es ist mir jedes Mal so schlecht bekommen, daß ich noch jetzt nicht ohne Ärger daran denken kann.“
„In der Tat“, sprach Baron Wallburg, „das Amt eines Zeremonien-, oder wenn Sie wollen, Vergnügen-Meisters ist eines der anerkannt mühseligsten und unbelohnendsten, am Hofe wie in der Stadt, vor allem aber in einer Republik, wie doch jeder Brunnenort eine ist, und ich begreife nicht, wie man anders, als durch den Drang der Umstände dazu gezwungen, sich ihm unterziehen mag.“
„Sollten Sie mich auch wieder der Anglomanie beschuldigen, lieber Vater!“ sprach Leo, „ich muß hier doch bemerken, daß das Talent der Briten, überall das Komfortabelste zu erfinden, sich auch in dem vorliegenden Fall bewährt. Unerachtet ihrer, jeder geselligen Verbindung mit Unbekannten noch weit mehr als die der Deutschen widerstrebenden Natur trafen sie dennoch den rechten Weg, alle zufriedenzustellen. In jedem bedeutenden Brunnenort wählen die Badegäste einen Zeremonienmeister, dessen Anordnungen jeder gern Folge leistet und der um einen anständigen Ehrensold für die gesellige Unterhaltung aller, wie jedes einzelnen, unermüdlich besorgt ist. So darf dort niemand über Vernachlässigung oder Langeweile klagen, der dies nicht selbst durch sein Betragen verschuldet.“
„Dacht' ich's doch, daß die große Erfindung auf etwas Fabrikmäßiges hinauslaufen würde“, sprach Baron Wallburg, „denn hoffentlich hat dieser Zeremonienmeister auch Gehülfen, die ihm vorarbeiten, und der Fremde, der amüsiert werden soll, geht dabei aus einer Hand in die andre wie ein englischer Knopf.“
„Haben Sie nicht auch aus Holz und Stahl vortrefflich gearbeitete Herrn und Damen, die eingeschoben werden, wenn es an lebendigen Tänzern fehlt?“ fragte Ernesto.
Die Idee solcher unermüdlichen Tänzer erweckte großes Vergnügen bei dem jüngern Teil der Gesellschaft. Vor allem äußerte die kleine Luzie den sehnlichen Wunsch, daß auf dem nächsten Ball deren ein halbes Dutzend, womöglich in Husarenuniform, erscheinen möchte. Dann, meinte sie, käme auch wohl einmal die Reihe an sie, mit so einem hölzernen Husaren zu tanzen, denn die großen Mädchen nähmen ihr die lebendigen Tänzer alle weg.
„Auch ich kenne die Badekönige, denn so pflegt man in England sie zu nennen“, nahm endlich der Kapellmeister das Wort, „und ich habe mich während meines vieljährigen Aufenthalts in jenem Lande zu wohl unter ihrem sanften Zepter befunden, als daß ich mich nicht laut für sie erklären sollte. Aus Reisebeschreibungen ist zwar jedermann von den Statuten ihres Reichs unterrichtet, aber den ganzen wohltätigen Einfluß derselben auf das Badeleben kann nur der ermessen, der wie ich einst zu ihren Untertanen gezählt ward.“
Noch vieles sprach man, bald lobend, bald tadelnd über diese englische Einrichtung, deren Einzelheiten selbst dabei sehr umständlich zur Sprache kamen. „Leo hatte in der Tat recht“, entschied endlich der General, „und ich wünsche herzlich, recht bald solche Könige auf deutschem Grund und Boden zu begrüßen. Ernestos fromme Wünsche können wahrhaftig nur durch ihre Einführung bei uns in Erfüllung gehen, aber ich fürchte aus mancherlei Gründen, daß sich unendliche Schwierigkeiten ihr entgegenstellen würden. Indessen käme es auf einen Versuch an, und wäre die Brunnenzeit nicht ihrem Ende so nahe, so möchte ich sie wohl, wenigstens als Probestück, auf einige Wochen in Vorschlag bringen, obgleich ich nicht weiß, wo ich sogleich einen würdigen Kandidaten zu diesem sehr schweren Posten finden würde.“ – „Ein Mann vom Stande könnte sich doch unmöglich dazu entschließen“, meinte Frau von Wallburg. „Und warum denn nicht? Meine gnädige Frau!“ erwiderte ihr schnell Ernesto. „Ich halte die Stelle eines solchen Königs für recht ehrenvoll, und um so mehr, da nicht gemeine Eigenschaften dazu gehören, sie mit Würde zu bekleiden.“ – „Glauben Sie vielleicht, daß die Stelle eines Bankiers am Pharao-Tische, die so mancher Sprößling eines sehr edeln Stammes ausfüllt, für ehrenvoller gelten dürfe?“ setzte der General lächelnd hinzu.
Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne mahnten jetzt die Gesellschaft zum Aufbruch, doch traf man noch vorher die Verabredung, es an einem der nächsten Abende zu versuchen, ob nicht der größere Teil der in Karlsbad gegenwärtigen Fremden zu einer zahlreichen Versammlung in einem der Säle zu veranlassen sei, um so vielleicht den Grund zu künftiger allgemeiner Geselligkeit zu legen. Niemand wandte gegen diesen Plan etwas ein außer Frau von Wallburg. „Ich weiß nicht“, sprach sie, „warum wir uns um die Übrigen, die sich um uns nicht bekümmern, soviel Mühe geben wollen, da wir ihrer doch nicht bedürfen, um uns recht wohl zu befinden. Unser Zirkel genügt uns, er ist groß genug, um uns zu amüsieren, und wir werden uns da eine Menge Bekanntschaften aufladen, unter denen sich gewiß Leute befinden, die gar nicht zu uns passen und die uns in Zukunft vielleicht recht lästig und beschwerlich in unserm eignen Hause werden können.“
Herr von Wallburg tröstete indessen seine Frau mit der Versicherung, daß Badebekanntschaften sich nie über die wenigen Wochen hinaus erstrecken dürfen, die man miteinander verlebt, und daß es anerkannt herkömmlich sei, auch die genausten dieser Art in seiner Heimat zu ignorieren, sobald man nicht durch eigne Beweggründe sich veranlaßt finde sie fortzusetzen; und so wanderte sie beruhigt mit der übrigen Gesellschaft ihrer Wohnung zu.
Die letzten, auf eine eigne, gleichsam etwas bezeichnen sollende Weise betonten Worte des Baron Wallburg machten indessen auf Frau von Willnangen einen nichts weniger als angenehmen Eindruck. Sie hörte sie mit dem prophezeienden Vorgefühl, mit welchem der kundige Schiffer bei sonst heiterem Himmel das kleine dunkle Wölkchen am fernsten Horizonte erblickt, welches ihm den nahenden Orkan verkündigt. Überhaupt wohnt in vielen Frauen ein Vorahnen dessen, was sie von denen, welchen sie auf ihrem Lebenspfade begegnen, zu erwarten haben, sei es Freude, sei es Schmerz. Liebe oder Feindseligkeit, sie empfinden beide lange im voraus, ehe sich noch die Person ihrer bewußt wird, in deren Brust diese Empfindungen später erwachen. Von diesem wunderbaren Gefühl geleitet, würde Frau von Willnangen den Umgang mit dem Baron Wallburg und seiner Frau vielleicht gänzlich vermieden haben, aber sie hielt es für unbillig und töricht, auf eine Ahnung zu achten, für welche sich durchaus kein vernünftiger Grund erdenken ließ, und überdem erschien ihr der jüngere Teil dieser Familie so liebenswürdig, daß sie um seinetwillen manches ihr minder Angenehme gern übersehen mochte.
Nicht ohne Wohlgefallen hatte sie das Aufkeimen einer Neigung Leos von Wallburg zu ihrer Tochter bemerkt, deren Erwiderung von Augustens Seite ihr durchaus nicht unerwünscht gekommen wäre. Leo zeichnete sich in der Tat auf eine vorteilhafte Weise vor andern jungen Männern aus. Mit einem sehr gebildeten Geist und einem angenehmen Äußern verband er die schätzenswertesten Eigenschaften des Gemüts, die sich auf das unverkennbarste bei jeder Gelegenheit, besonders aber im Umgang mit den Seinen äußerten. Und so war es wohl sehr verzeihlich, wenn Frau von Willnangen sich bisweilen süßen, allmählich zu Wünschen und Hoffnungen ausartenden Träumen vom künftigen Glück ihrer Tochter überließ, besonders da der einstigen Erfüllung derselben sich auch im Äußern nichts entgegen zu stellen schien. Dennoch hütete sie sich wohl, mit Augusten darüber zu sprechen, sie ließ das Herz ihrer Tochter ungestört seinen stillen Gang gehen; der Reue Schmerzen, die sie noch immer bei Gabrielens Anblick empfand, lehrten sie jetzt Vorsicht üben, da es vielleicht der ganzen Zukunft ihres geliebten einzigen Kindes galt.
Das vom Baron Wallburg über die Badebekanntschaften ausgesprochene Urteil wäre vielleicht von ihr unbeachtet geblieben, hätte es sie nicht plötzlich an ein Gespräch erinnert, welches sie am nämlichen Morgen mit dem General auf einem einsamen Spaziergange gehalten hatte. Er, der immer offen zu Werke zu gehen gewohnt war, hatte mit einer höchst auffallenden Absichtlichkeit die Gelegenheit gesucht, vom Baron Wallburg und dessen Gemahlin zu sprechen. Beide wurden zwar als sehr vorzüglich in jeder Hinsicht von ihm gepriesen, dabei aber zu wiederholten Malen und fast warnend des Ahnenstolzes erwähnt, der in ihrem Vaterland überall mehr als in irgendeinem andern Teile Deutschlands vorherrsche. Auch dieses sonst so liberal gesinnte Paar sollte, nach des Generals Versicherung, in dieser Hinsicht mit unüberwindlichen Vorurteilen erfüllt sein; nur feine Sitte verhindere es, diese auch im gewöhnlichen Leben laut werden zu lassen.
Die Dazwischenkunft des Barons selbst und die übrigen Zerstreuungen des Tages hatten Frau von Willnangen abgehalten, dieses Gespräch mit dem Ernst zu würdigen, zu welchem es augenscheinlich des Generals Absicht war, sie zu stimmen. Jetzt aber stand jedes Wort desselben plötzlich wieder vor ihrem Geist, und dabei fiel der Gedanke ihr mit Zentnerschwere auf das Herz, daß Augustens Stammbaum wirklich nicht von der Art sei, um vor strengen Richtern als gültig zu bestehen. Ihr Vater war der Sohn eines sehr angesehenen, aber bürgerlichen Hauses, seinen später erworbenen Adel verdankte er nur seinen Verdiensten und dem Range, den er bekleidete. Die lange Reihe von Ahnen, welche Frau von Willnangen als eine geborene Rosenberg zählte, vermochte es leider nicht, die ihm fehlenden zu ersetzen.
Frau von Willnangen fühlte sich bei ihrer Zuhausekunft von diesen Gedanken so verstimmt, daß sie es ausschlug, noch, wie sonst gewöhnlich, ein paar Stunden bei der Gesellschaft zu bleiben, und sich vielmehr mit den Ihrigen in ihr Zimmer zurückzog. Diese Verstimmung teilte sich auch den Übrigen mit, alle vereinzelten sich, und der Abend nach diesem so fröhlich begonnenen Nachmittag, der eine allgemeine Geselligkeit einzuführen bestimmt schien, war der erste, an dem jedermann sich bestmöglichst zu isolieren strebte.
Ein wunderschöner, wenngleich schwüler Morgen folgte diesem Abend. Die ganze, durch das Hinzutreten mehrerer entfernteren Bekannten sehr vergrößerte Gesellschaft beschloß deshalb, einen längst entworfenen Plan auszuführen. Das Frühstück sollte auf dem höchsten der über dem schönen Tal thronenden Berge eingenommen werden, neben den drei Kreuzen, die dessen Gipfel bezeichnen. Auch Frau von Willnangen hatte sich mit ihrer Tochter von dem allgemeinen Vergnügen nicht ausschließen mögen. Ernesto mit der fröhlichen Luzie waren als Heerführer an die Spitze der kleinen Schar gestellt, die singend und jubelnd vom Brunnen weg durch den blinkenden Morgentau hinzog. Allwill hatte einen eignen Rundgesang für diese Wallfahrt gedichtet, der Kapellmeister erfand auf der Stelle eine Melodie dazu, dies erhöhte die laute Freude, mit der alle sich auf den Weg machten.
Nur Adelbert und Gabriele blieben einsam zurück. Mit seinem gelähmten Fuß konnte ersterer gar nicht daran denken, eine solche Wanderung zu unternehmen, und Gabriele durfte es auch noch nicht wagen, sich der Ermüdung eines so weiten Spaziergangs auszusetzen. Nach dem Scheiden der fröhlichen Gesellschaft begleitete Adelbert Gabrielen schweigend und langsam nach Hause, aber der Morgen war zu schön, um ihn ganz ungenossen vergehen zu lassen, und so wandten sie sich daher bald den lieblichen Schattengängen zu, die das anmutige Tal von allen Seiten bekränzen.
Nie zuvor hatten beide Gelegenheit gehabt, so ganz allein miteinander zu sein. Adelbert fühlte sich zwar vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an durch die stille sanfte Schwermut zu ihr hingezogen, die wie ein Schleier über Gabrielens ganzes Wesen sich verbreitete, und der milde Strahl ihres schönen dunkeln Auges war oft wie ein erwärmendes Licht in seine wunde Brust gedrungen, aber die reine Güte ihres Gemüts und selbst ihre hohe geistige Bildung konnten ihm dennoch nie zuvor, wie jetzt im ungestörten Gespräch mit ihr, in dieser Klarheit sichtbar werden. Auch hatte sie sich ihm noch nie so unaussprechlich freundlich und vertrauend gezeigt.
Beide waren heute durch ähnliche Leiden von der allgemeinen Freude ausgeschlossen geblieben, und Gabriele fühlte sich dadurch Adelberten gewissermaßen schwesterlich verwandt. Sie neigte sich deshalb zu ihm und sprach mit ihm wie eine liebende Schwester mit ihrem kranken leidenden Bruder sprechen könnte. Ein wahrhaft und tief verwundetes Gemüt erkennt das andre ohne Worte, daher wußte Gabriele recht wohl, daß Adelbert freundlicher Teilnahme weit bedürftiger sei, als es selbst seine im Äußern zerstörte Jugendblüte vermuten ließ, und daß vielleicht nur diese ihn von völligem Untergang in Tiefsinn und Schwermut erretten könne. Sie wandte sich deshalb unendlich mitleidig zu ihm; alles was sie sagte und tat, drückte das Bestreben aus, ihm tröstlich zu werden. Ihre ohnehin sanfte melodische Stimme klang wie das Flöten einer Nachtigall, denn sie suchte sie noch mehr zu mildern, indem sie zu ihm sprach, und Adelberten ging dabei in lange nicht empfundener Seligkeit das Herz auf.
So in ernstes und vertrauliches Gespräch verloren, wanderten beide langsam nebeneinander hin, länger und weiter, als sie selbst es bemerkten. An sich unbedeutende Anhöhen, die Adelberten aber noch gestern unübersteiglich geschienen hatten, ging er jetzt, seiner Krücke nicht gedenkend, an Gabrielens Seite hinauf und hinab, ohne es zu gewahren. An den Stellen, welche ihr am schwierigsten dünkten, bot sie ihm hülfreich die kleine weiße Hand, und indem er sie berührte, war ihm, als ob unsichtbare Engel ihn mit ihren Flügeln unterstützten. Zwar dachte Gabriele nicht ohne Sorge an den Rückweg, indem sie neben ihm herging; aber sie vermochte es nicht über sich zu bringen, ihn aus dem augenblicklichen Vergessen seines traurigen Zustandes zu erwecken, und verschwieg daher ihre Besorgnisse.
Endlich erreichten sie den kleinen Tempel, welcher den Namen des Lords Findlater, des Verschönerers dieser Gegend, trägt, und mit ihm die beinahe äußerste Grenze der eigentlichen Promenaden. Bei ihrer, ihnen jetzt erst recht fühlbar werdenden Ermüdung und der ungewöhnlichen Schwüle des Tages war ihnen dieser Ruhepunkt höchst willkommen. Sie setzten sich traulich nebeneinander und fuhren in dem Gespräche fort, dessen Interesse sie so unvermerkt bis zu diesem, von ihrer Wohnung ziemlich weit abgelegnen Platz hingeführt hatte.
Die Unterhaltung war zuerst von der Poesie und dem verschiednen Wert der neusten Erzeugnisse unserer Dichter ausgegangen, unmerklich aber hatte sie sich der Liebe und ihren Leiden und Freuden zugewendet. Gabrielens beredtes Auge hatte Adelberten längst eine unglückliche Liebe als das stille Geheimnis ihres Herzens verraten, obgleich sie auch nicht auf die leiseste Art darauf hindeutete. Er strebte daher mit der zarten Schonung, alles zu vermeiden, was ihm das Ansehen geben konnte, als suche er ihr Vertrauen zu erschleichen oder wolle die nähern Umstände eines Geschicks erspähen, das er nicht umhin konnte, sich dem eigenen ähnlich zu denken. Der Anblick des unaussprechlich anmutigen und doch so tief verletzten Wesens an seiner Seite stimmte ihn dabei immer wehmütiger, indem er doch zugleich über seine eignen Schmerzen für den Augenblick sich beruhigter fühlte.
„Nur eines kann ich mir denken, wogegen kein Trost zu finden wäre“, sprach Gabriele im Verlauf des Gespräches zu Adelbert. „Trennung, Tod des Geliebten, sind zwar ein unnennbares Weh, das schwache Herz möchte darüber brechen, wenn nicht die Liebe selbst und der schöne Hoffnungsstrahl von jenseits es hielten, aber dieser Schmerz reicht doch nicht an jenen, alle Hoffnung sogar jeden Wunsch nach Trost vernichtenden, vor dessen Möglichkeit ich zurückbebe. – Er heißt Unwert des Geliebten, Verachten dessen, was wir dennoch lieben müssen. – Nein, die menschliche Natur kann dies Entsetzliche nicht ertragen!“
Totenblässe überzog bei diesen Worten Adelberts Gesicht, das er im nächsten Moment krampfhaft zitternd mit beiden Händen verhüllte. „Und doch, mein Fräulein! Und doch“, stammelte er fast unhörbar. „Sie haben in zwei Worten die traurige Bestimmung meines Daseins ausgesprochen. Lieben und Verachten! Die menschliche Natur erträgt es wohl, Sie sehen, ich lebe noch.“
Gabriele hätte vor Reue darüber vergehen mögen, daß sie ihn, den sie beruhigen und trösten zu wollen sich bewußt war, so unvorsichtig verletzt hatte. Sie fand und suchte kein Wort zu ihrer Entschuldigung, aber Adelbert hob den getrübten Blick zu ihr auf und las in ihrem schimmernden Auge innigere Teilnahme, schmerzlichere Reue, als sie mit aller Beredsamkeit ihm hätte ausdrücken können. Sein Herz öffnete sich zum ersten Mal wieder nach langer Zeit im Ergusse des reinsten Vertrauens; auch sie fand allmählich herzliche beschwichtigende Worte für ihn, und bald vernahm sie die Geschichte seiner glücklich verlebten früheren Zeit und die Ursache des jetzt ihn zerstörenden Kummers, die er mit der allen Unglücklichen eignen Umständlichkeit ihr vertrauend mitteilte.
Früh verwaiset, wuchs Adelbert im Schlosse seines edlen Oheims auf, der das hoffnungsvolle Kind mit wahrhaft väterlicher Liebe erzog. Zwei Knaben und ein jüngeres Mädchen, Herminie genannt, teilten mit ihm die Stunden des Unterrichts wie die der Erholung. Sie waren die Kinder einer benachbarten Familie, welche durch enge Bande der Freundschaft mit seinem Oheim von jeher vereinigt, fast immer in seiner Nähe lebte. Adelberts Auge strahlte noch einmal im Widerschein der untergegangenen Sonne seines Frühlingslebens, als er jetzt erwähnte, wie schon in früher Jugend die innigste Liebe zu Herminien ihn zu allem Guten entflammte, wie er stets sich auszuzeichnen strebte, um ihr zu gefallen, und wie auch sie mit unverkennbarer Zärtlichkeit an ihm hing. Sein Oheim und Herminiens Eltern blickten lächelnd auf die frühe Liebe ihrer Kinder, und bauten darauf goldene Pläne für ihre Zukunft. „O wäre ich damals gestorben!“ rief Adelbert mit schimmernden Augen, „damals in der Morgenröte des Lebens, die den herrlichsten aller Tage schien verkünden zu wollen, der jetzt mir untergegangen ist in Nacht und Graus.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele