Zehnter Abschnitt. - Die Kinder wuchsen zum Jünglingsalter heran; mit diesem erschienen Jahre der Trennung, aber diese sollte ja den Zeitpunkt ewiger Vereinigung herbeiführen. ...

Die Kinder wuchsen zum Jünglingsalter heran; mit diesem erschienen Jahre der Trennung, aber diese sollte ja den Zeitpunkt ewiger Vereinigung herbeiführen. Adelbert fühlte die Notwendigkeit, sich erst für das Leben zu rüsten, sich Eigenschaften zu erwerben, die ihn einst berechtigen könnten, nach dem Preise zu streben, der in rosiger Glorie vor ihm stand. Auch lockte ihn, den in der Einsamkeit erzognen Jüngling, die ferne bunte Welt mit alle dem magischen Reiz, durch welchen sie jeden Unerfahrnen blendet, und so bestieg er, ziemlich gefaßt, den Reisewagen, der ihn nach einer entfernten Universität führen sollte, während Herminie in wildem Schmerz zu vergehen glaubte. Ein Briefwechsel mit dem Geliebten, zu welchem Eltern und Oheim, nach der feierlichen Verlobung des jungen Paars, ihre Einwilligung gegeben hatten, blieb ihr einziger Trost.

So vergingen drei Jahre. Adelbert verlebte sie unter Arbeit, Sehnsucht und Hoffnung. Herminiens Andenken hielt ihn hoch über den Strudel wüster Verwilderung, in welchen viele seiner jugendlichen Genossen neben ihm versanken. Herminiens Briefe zu beantworten, sein ganzes Herz ihr offen darzulegen, war die höchste Wonne seines Lebens. Er fühlte ganz den hohen Zauber, mit der diese Art, uns das Geliebte zu vergegenwärtigen, zuweilen sogar das Glück der wirklichen Gegenwart besiegt. Auge in Auge macht die Lippen verstummen, aber in der einsamen Beschäftigung mit einem geliebten Wesen reihen sich die Worte zum Ausdruck unsrer innigsten Gefühle von selbst aneinander, und wir vermögen zu schreiben, was wir nimmermehr sagen könnten.


Dennoch nannte Herminie Adelberts Briefe oft kalt und liebeleer, und obgleich sie von allem, was ihn nur auf die entfernteste Weise berührte, unterrichtet zu werden verlangte, so konnte sie doch auch oft darüber zürnen, daß er fähig wäre, irgend etwas anders zu erwähnen als seine Liebe. „Du kannst Mannichfaltigkeit in deine Briefe bringen“, schrieb sie ihm, „du bist ein Mann, du lebst in der Welt. Ich Einsame lebe nur in dir, ich kann nichts denken als dich, darum vergib, wenn ich langweilig dir nur von dir schreibe; du bist ja meine Welt, von der ich jetzt nur träumen darf.“

Endlich war der Zeitpunkt ganz nahe, in welchem Adelbert zu seinem Oheim zurückkehren sollte, um wenige Wochen später mit Herminien auf ewig vereint zu werden. Mit kaum zu mäßigender Ungeduld sah er dem nicht mehr fernen Tage seiner Abreise von der Universität entgegen, als ganz unerwartet ein vom General abgesandter Eilbote erschien, mit dem Auftrage, ihn zur möglichsten Beschleunigung seiner Rückkehr in die Heimat zu mahnen. Dieser an sich höchst willkommne Befehl seines Oheims überraschte dennoch Adelberten, besonders da der in höchster Eil abgesandte Bote ihm durchaus nichts Näheres darüber zu sagen wußte. Adelbert eilte rastlos Tag und Nacht, bis er das Schloß seines Oheims erreichte. Dort fand er den edlen Greis gerüstet, um in den Kampf gegen die Feinde zu ziehen, deren Horden damals aufs neue unser Vaterland zerstörend zu überschwemmen drohten. Ob Adelbert ihn auf diesem Zuge begleiten würde, blieb nicht die Frage eines einzigen Augenblicks; der General hatte schon alles dazu vorbereitet, der nächste Morgen war zur Abreise bestimmt, und beiden Liebenden blieb nur dieser einzige Abend zum Wiedersehn und zum Scheiden.

Schweigend betrachteten sie sich einander in der Stunde des Wiedersehns. Mit süßem Erröten schlug Herminie die langen seidnen Augenwimpern nieder vor den liebeglühenden Blicken des hoch und schön vor ihr stehenden, zum Mann heranblühenden Jünglings, während dieser, verloren in Entzücken, den unbegreiflichen Zauber anstaunte, welchen drei kurze Jahre hier geübt hatten. Die Stunde der Trennung schlug unter den heiligsten Schwüren ewiger Liebe in Not und Tod. Bewußtlos sank Herminie aus Adelberts Armen in die ihrer Mutter, während er die glänzenden Augen seitwärts wendete, indem er sein Roß bestieg, damit keiner der alten Krieger, die mit ihm und seinem Oheim auszogen, die still über seine Wange hinrollende Träne gewahren möge.

Von neuem begann der Briefwechsel der Liebenden. Herminie lebte nur mit der Feder in der Hand, Adelbert verwandte für sie jede freie Minute, bis die immer steigenden Unruhen des Krieges alle Möglichkeit einer freien Mitteilung vernichteten. Unglück häufte sich auf Unglück, Jammer auf Jammer.

Nach der Schlacht bei E..... blieb Adelbert unter den Toten liegen und ward nur durch ein halbes Wunder vom lebendig Begrabenwerden gerettet. Als Kriegsgefangner wurde er in ein Hospital gebracht. Seine Jugendkraft ließ ihn die Behandlung der französischen Wundärzte überleben. Nach abgeschlossenem Frieden erschien sein Oheim selbst, ihn abzuholen. Traurig wandten sich beide der Heimat zu, aber die Hoffnung, Herminien dort zu finden, glänzte wie ein heller Stern dem alten wie dem jungen Krieger durch die dunkle Nacht der Trauer, die jede andre Hoffnung ihnen verhüllte. „Herminiens sanfte Hand wird unsre Wunden heilen, sie wird künftig dich führen, dich stützen, armer Adelbert“, sprach der General, wenn er den Gelähmten sich mühsam an Krücken forthelfen sah. „Jetzt in einer Stunde sehen wir sie wieder“, sprach er endlich.

Aber sie fanden sie nicht. Ihr Schloß war öde und leer, ihre Eltern waren, aus Furcht vor den auf dem flachen Lande sich immer weiter verbreitenden Unruhen des Krieges, in eine ziemlich entfernte Residenz mit ihr gezogen, man wußte nicht, ob und wann sie wiederkehren würden.

Nach wenigen, der notwendigen Erholung vergönnten Stunden, saßen Adelbert und der General wieder im Wagen auf dem Wege zu ihr. Kein Zweifel an Herminiens Treue kam in ihnen auf. Adelbert dachte nur ihre Freude, ihn lebend wieder zu sehen. Daß der Arm, den er noch in der Binde trug, der gelähmte Fuß, das bleiche Gesicht, die nach der langen Krankheit nur spärlich es umwehenden Locken Herminien von ihm zurückscheuchen könnten, fiel ihm nicht ein. „Sie wird dich um so mehr lieben, je mehr du ihrer Hülfe bedarfst“, sprach der General, „denn die Weiber sind alle Engel des Trostes in Menschengestalt, sie sind am glücklichsten, wenn sie etwas zu pflegen und zu heilen haben.“

Sie kamen an. Wie wenig glich dieses Wiedersehen dem vorigen! Herminie erbebte, sichtbar erschrocken über Adelberts Anblick; sie wollte sich überwinden, man sah deutlich, wie sie sich deshalb Gewalt antat, aber sie vermochte es doch nicht, den Entstellten anders als mit heißen Tränen, mit bittern Klagen über dieses Geschick zu empfangen, und keine Silbe verriet ein frohes Gefühl über sein wunderbar gerettetes Leben. Auch Adelbert fand Herminien verändert. Zwar stand sie im sorgsam gewählten schimmernden Putz fast reizender noch vor ihm, als da er sie verließ, aber ihre Erscheinung hatte etwas Fremdartiges, etwas Theatralisches angenommen, wovon bei dem einfachen Landmädchen sonst keine Spur zu finden gewesen war, und Tanzmeisterkünste suchten die Stelle der natürlichen, alle Herzen gewinnenden Anmut zu ersetzen, welche ehedem jede ihrer Bewegungen begleitet hatte.

Adelbert ward tief betrübt über diese in so kurzer Zeit aus dem Geräusch des Stadtlebens hervorgegangene Verwandlung der Vielgeliebten, aber er blieb doch noch immer ihr eigen und tröstete sich mit schönen Hoffnungen von der Zukunft. „Gewiß sie kehrt zurück, gewiß sie wird wieder, was sie war, wenn wir erst dem Gewühl glücklich entgangen sind, welches jetzt durch seine Neuheit sie betäubt.“ Mit diesen Worten suchte er oft sich und seinen Oheim zufrieden zu sprechen. Plötzlich aber zerstörte Herminiens Mutter jede Hoffnung, indem sie mit der Erklärung hervortrat, daß ihre Pflicht ihr nicht erlaube, die junge schöne Herminie für ihre ganze Lebenszeit zur Krankenwärterin auf einem Dorfe zu verurteilen, daß Herminie selbst ihre Kraft einem solchen Opfer nicht gewachsen fühle und daß sie deshalb sich gezwungen sähe, das früher unter günstigeren Aussichten gegebene Versprechen zurückzunehmen. Adelbert verlor bei dieser Erklärung alle Besinnung, aber der General bestand darauf, sie von Herminien selbst bekräftigen zu hören, und als dies, obgleich unter Tränenströmen und mit vielen schönen Worten, dennoch wirklich geschah, da blieb dem edlen Greise nichts weiter übrig, als seinen unglücklichen Adelbert an seine väterliche Brust zu nehmen und mit ihm hinaus zu fahren in die Welt. Wenige Wochen darauf kam die Nachricht, daß Herminie einem der Angesehensten aus Napoleons Gefolge ihre Hand gegeben habe und sich mit ihm auf dem Wege nach Paris befinde.

Nicht in so zusammengedrängter Kürze, sondern in wechselndem Gespräch, belebt durch mehrere Nebenumstände, die hier wegbleiben mußten, hatte Adelbert die Geschichte seiner Leiden Gabrielen anvertraut. Vertieft in klagender und tröstender Rede und Gegenrede, mochten beide wohl lange nebeneinander gesessen haben, ohne den Blick ins Freie zu wenden, als ein heftiger Donnerschlag sie plötzlich aufschreckte. Ein schweres Gewitter war mit der in Gebirgen nicht ungewöhnlichen Schnelle, von ihnen unbemerkt, heraufgezogen und entlud sich jetzt gerade über ihren Häuptern in schmetternden Donnerschlägen, in unzähligen, einander durchkreuzenden, gelben, zischenden Blitzen. Heulender Sturm durchtosete die Wipfel der Bäume, laut krachte der Fall einzelner Tannen durch den Widerhall des Donners, bis endlich, gleich einem Wolkenbruch, mit wildem Brausen herabströmender Regen den allgemeinen lauten Aufruhr der Natur allmählich beschwichtigte.

„Und unsre Freunde oben auf dem Gipfel des unwirtbaren Berges, ohne alles Obdach, dem Zorn der Elemente ausgesetzt!“ rief klagend Gabriele. „Gewiß sind sie längst im Schutz einer Bauernhütte am Fuße des Berges“, erwiderte tröstend Adelbert, „das Gewitter konnte sie auf der Höhe, auf welcher sie sich befanden, nicht so hinterrücks überschleichen als uns. In der Tat“, setzte er nach einem Blick auf seine Uhr etwas verlegen hinzu – „in der Tat, obgleich ich die Möglichkeit davon nicht begreife, aber ich muß glauben, daß alle längst zu Hause angelangt sind und nun um uns in der größten Sorge schweben, denn die Mittagsstunde ist eigentlich schon lange vorüber. Die engelgleiche Güte, mit der Sie, mein Fräulein! einem Unglücklichen den Trost freundlicher Teilnahme gewährten, hat uns die Stunde vergessen lassen. Wir sind viel länger hier geblieben, als wir es dachten oder eigentlich sollten.“

Gabriele blickte ängstlich hinaus ins Freie, der Regen strömte zwar minder heftig, aber um so eindringender, Wege und Fußpfade glichen rieselnden Bächen. Sie sprach kein Wort, aber Adelbert bemerkte nur zu deutlich, wie der Gedanke an Frau von Willnangen und Augusten sie mit banger Sorge erfüllte. „Was fangen wir nun an?“ seufzte sie endlich mit einem Blick auf ihre seidnen Schuhe. „Der Arzt hat mich besonders vor aller Erkältung gewarnt.“ – „Ach! Wie fröhlich, wie leicht, liebes Fräulein! hätte ich Sie ehemals auf meinen Armen hinuntergetragen!“ rief Adelbert, und blickte traurig und finster auf seine Krücke. „Jetzt, ich muß es Ihnen leider gestehen, jetzt könnte ich Sie auf diesen schlüpfrig gewordenen Pfaden, ohne eine festere Stütze als diese, nicht einmal hinunterbegleiten, selbst wenn der Regen nachließe. Hätte ich es ahnen können, daß ich noch heute die erste Stunde des Trostes, seit ich alles verlor, so bitter bereuen würde! Aber so will es das jammervolle Los, das mir zuteil ward“, setzte er im finstersten Unmut hinzu.

„Briccone maledetto! Verwünschter Taschenspieler! Damn'd Juggler!“ erscholl es in diesem Augenblick dicht neben ihnen, und eine wunderliche ganz durchnäßte Gestalt schlüpfte in den Tempel hinein, ohne die schon Anwesenden sogleich zu bemerken, warf dann einen ungewöhnlich dicken keulenartigen Stock von sich und arbeitete darauf mit Zähnen und Nägeln an dem Knoten eines Bandes, welches ein kleines braunes Päckchen zusammen hielt. Dabei schimpfte der neue Ankömmling in einem weg und in verschiedenen Sprachen, bald auf den Knoten, bald auf den Regen.

Adelbert und Gabriele betrachteten höchst verwundert die sonderbare Gestalt. Nach seinem Äußern zu urteilen, hätte man den Fremden für einen Taschenspieler oder für den Pagliasso einer herumziehenden Seiltänzerbande halten können, und doch lag etwas in der Art, mit der er Adelbert und Gabrielen, ihrer gewahr werdend, begrüßte, das eine feinere Bildung verriet. Seine vom Regen triefende Kleidung bestand aus einer kurzen Jacke und weiten wunderlichen Pantalons von weißem buntstreifigen Leinenzeuge, in Schuhen von gelbbraunem Leder, Kamaschen von Nanking und einem großen Strohhut mit breitem Rande und flachem Kopf. Eigentlich war er ziemlich treu nach Ebels Vorschrift für Reisende in der Schweiz gekleidet, was aber hier in Böhmen und zu seiner kurzen gedrängten Gestalt sich sehr lächerlich ausnahm, besonders da er wenigstens fünfzig Jahre alt zu sein schien.

Eines der gewöhnlichen Gespräche, wie man sie in ähnlichen Fällen zu führen pflegt, entspann sich jetzt zwischen Adelbert und dem Fremden, der dabei unermüdet, aber mit allen Zeichen der höchsten Ungeduld, daran arbeitete, den Knoten zu lösen, welchen er dabei immerfort und in allen möglichen europäischen Sprachen halb laut vermaledeite.

„ Mercè di Dio!“ rief er endlich, denn der Knoten war plötzlich aufgegangen. „ Mais voyez, monsieur! Sehen Sie nur, ob es nicht zum Verzweifeln war“, sprach er zu Adelberten, der verwundert auf den Inhalt des Päckchens blickte; „ vraiement c'étoit fait pour enrager. Gestern lasse ich mir von einem herumreisenden Physiker im Alexandersbad lehren, einen Knoten zu schlingen, der fester als alle Schlösser ist, weil er nur der Hand des mit dem Geheimnis Bekannten weicht, ich knüpfe meinen Regenmantel, my Patent Cloak, den ich immer mit mir trage, auf diese Weise zu, und jetzt, da mich der Platzregen überrascht, habe ich Unglückseliger die Lösung des Knotens vergessen. Ich habe einen Mantel in der Hand, mit dem ich unter dem Staubbach hingehen könnte, ohne daß mir ein Tropfen Wasser an die Haut käme, und muß mich durchregnen lassen. No it is too bad, too bad; es ist zu toll.“

Während der Zeit zog er den Regenmantel von dünnem durchsichtigen Wachstaffet an, setzte eine gleiche von allen Seiten herabhängende Kapuze auf den Kopf und sah in dieser Vermummung noch viel abenteuerlicher aus als zuvor, fast wie ein in Bernstein inkrustierter Käfer. „Könnte ich mich nur auf das Geheimnis des heillosen Knotens wieder besinnen“, murmelte der Fremde vor sich hin, „ich muß es doch zufällig getroffen haben, weil er aufsprang.“ Dabei arbeitete er wieder aufs emsigste und mit großer Anstrengung an den dicken Stock, den er beim Eintritt weggeworfen, hernach aber wieder hervorgesucht hatte, bis es ihm gelang, ihn auseinander zu schrauben und in mehrere Stücke zu zerlegen. „ Oserois-je, Madame, Ihnen diesen Patent Umbrella zum Heimgehen anzubieten?“ sprach er zu Gabrielen, indem er ihr einen sehr zerbrechlichen Regenschirm, ebenfalls mit Wachstaffet überzogen, darreichte, den er aus einem Teil seines Stocks zusammengesetzt hatte. „ Avouez, que c'est l'invention la plus belle, la plus commode, enfin es gibt nichts Bequemeres“, sprach er weiter, indem er aus vier dünnen Messingstäbchen und einem Stückchen Leinen eine Art von kleinem Feldstuhl zusammenfügte und Gabrielen nötigte, sich darauf zu setzen. „Sehen Sie“, sprach er mit sehr großer Selbstzufriedenheit, „so trage ich in diesem Stock gleichsam ein kleines Haus mit mir, das mir selbst auf den höchsten Bergen Schutz gegen die Witterung und einen bequemen Ruhesitz gewährt. Das Futteral, welches Schirm und Sessel beherbergt, dient mir obendrein nicht nur zum Wanderstab, sondern auch zum Fernrohr, wenn ich die dazu gehörigen Gläser hineinschraube, und ich denke nur noch auf eine Vorrichtung, um diesen Stuhl zu einem vollständigen Fauteuil zu vervollkommnen.“

Der Regen hörte endlich auf und der wunderliche Fremde erbot sich auf die gutmütigste Weise, Adelberten auf dem Wege nach Karlsbad zum Führer zu dienen. Dabei bedauerte er nur, daß diesem nicht das gelähmte Bein bis an das Knie abgenommen sei, ohnerachtet ihm Adelbert wiederholt versicherte, daß er hoffe, nicht zeitlebens lahm zu bleiben. „ N'importe“, sprach der Fremde, „ich könnte Ihnen ein ganz vortreffliches hölzernes Bein verschaffen, Sie sollten damit gehen, reiten, sogar tanzen können, il n'y a rien de plus beau et de plus commode au monde, indessen kommen Sie nur, ich will Sie gewiß nicht fallen lassen.“ Adelbert dankte ihm lächelnd und äußerte zugleich die Besorgnis, daß seine Begleiterin in ihren seidnen Schuhen wohl schwerlich würde den Weg zu Fuß machen können. „ Ah Cospetto di bacco!“ rief der Fremde, „warum habe ich nicht ein einziges Paar der Pattens der Dutchess of Devonshire bei mir! Auf diesen zierlichen Kothurnen könnte das Fräulein gerade durch einen Bach gehen, ohne naß zu werden; sie sind die allervortrefflichste Erfindung.“ – „Ich erkenne höchst dankbar Ihre Güte, mit der Sie wünschen mir helfen zu können“, unterbrach ihn Gabriele. „Da es indessen auf diese Weise nicht möglich ist, so wage ich es, Sie zu bitten, die Meinigen baldmöglichst zu beruhigen, die gewiß um mich in der größten Besorgnis sind. Haben Sie die Gefälligkeit, Frau von Willnangen im steinernen Hause auf der Wiese aufzusuchen und ihr zu sagen, daß Gabriele von Aarheim“ –

„Aarheim? Sie sind ein Fräulein von Aarheim? Aarheim? Von Schloß Aarheim?“ rief im größten Entzücken der Fremde, „ mais permettez que je vous embrasse, mon aimable petite Cousine, ich bin Ihr Vetter, Ihr nächster Verwandter, Moritz von Aarheim, Ihr Vater und ich sind Cousins à la mode de Bretagne. Ihr Älter-Vater war der Bruder meines Großvaters. Haben Sie denn nie von mir sprechen gehört?“

„Mein Vater lebt so fern von der Welt“, stotterte Gabriele etwas erschrocken. „Es ist wahr, das tut er“, erwiderte Moritz von Aarheim, „ich habe ihm einmal vor vielen langen Jahren geschrieben, er hat mich aber keiner Antwort gewürdigt. Mais je ne lui porte pas rancune, seine Tochter ist die Krone unsers alten Geschlechts, and I forgive him. Ich will ihn besuchen, den alten Herrn, ich habe mich schon nach ihm erkundigt, ich höre, er beschäftigt sich mit alchimistischen Untersuchungen der Färbestoffe. Ich habe die göttlichsten Vorschriften zum Färben aus England mitgebracht, auch aus der Türkei habe ich deren mir zu verschaffen gewußt, er soll sie alle haben, er hat zwar auf meinen Brief nicht geantwortet, but I do not care for it, er soll sie doch haben.“

So schwatzte Moritz von Aarheim noch lange fort und legte dabei seine Freude über Gabrielen in fast allen lebendigen Sprachen an den Tag, bis ihm plötzlich der Nachteil einfiel, der aus diesem langen Verweilen in der feuchten Luft für Gabrielens Gesundheit entstehen konnte. So schnell als möglich eilte er nun fort, auch währte es nicht lange, bis der General Lichtenfels und Ernesto mit einer Sänfte für Gabrielen im Tempel anlangten, um das dorthin vom Sturm verschlagene Paar heim zu geleiten.

Gabriele fand bei ihrer Nachhausekunft den neuen Vetter so eingewohnt, als wäre er Zeit seines Lebens der vertrauteste Freund der Frau von Willnangen gewesen. Alle Tische und Stühle in ihrem Zimmer waren mit kleinen Modellen und Zeichnungen von neuen Erfindungen belastet, deren Erklärung und Nutzen er dem altern Herrn von Wallburg auf das eifrigste zu demonstrieren suchte. Die Damen und Leo hielten sich dabei in einiger Entfernung, um nicht an dem Streite teilzunehmen, der sich zwischen jenen beiden schon entsponnen hatte, denn Herr von Wallburg war der abgesagteste Feind aller Neuerungen. Gabrielens Erscheinung machte indessen dem Zwist ein Ende. Moritz von Aarheim ließ alles im Stich, um seiner neugefundenen Cousine unter einem halben Dutzend Fläschchen mit Präservativen gegen Erkältung die Auswahl anzubieten, und suchte auf alle Weise sie zu bewegen, wenigstens aus einem derselben ein paar Tropfen zu nehmen. Sein zudringliches Bitten hatte zwar etwas ungemein Lästiges, so wie im Grunde auch sein ganzes übriges Betragen, aber es lag auch wieder etwas so ausgezeichnet Gutmütiges selbst in dieser Zudringlichkeit, daß es Gabrielen wirklich schwer ward, ihm seinen Wunsch nicht zu gewähren.

Mehr aber als alles übrige war ihr der vertrauliche Ton unangenehm, zu welchem er als ein naher Verwandter gegen sie berechtigt zu sein glaubte, und es ward ihr beinah unmöglich, sich daran zu gewöhnen, noch unmöglicher, ihn zu erwidern. Nie zuvor war es ihr eingefallen, daß sie außer der Gräfin Rosenberg und Aurelien noch Blutsverwandte in der Welt haben könne, nie hatte sie solche nennen hören, und nun kam gerade eine der lächerlichsten Erscheinungen und wollte Familienverbindungen geltend machen, welche sie kaum imstande war zu begreifen.

Den durchnäßten Schweizeranzug hatte Herr von Aarheim zwar abgelegt, und alles, was er jetzt trug, war wirklich so neu und elegant als möglich, aber er sah deshalb nicht minder abenteuerlich aus. Seine Kleidung war wie seine Sprache allen Nationen abgeborgt; kein Stück seines Anzugs paßte zu den übrigen, alle aber verdankten der allerneusten und dabei barocksten Erfindung ihren Ursprung. Auch seine Bewegungen hatten etwas Unstetes, das mit seinen grauen Haaren und seiner ganzen Gestalt auf eine widerliche Weise kontrastierte. Übrigens waren die Züge seines Gesichts nicht unangenehm und wurden zuweilen durch einen gewissen Ausdruck von treuherzigem Wohlwollen sogar recht leidlich. Da er im Gespräch immer von einem Gegenstand zu dem andern überging, ohne sich und andern zum gehörigen Auffassen eines einzigen Zeit zu lassen, so war sein Umgang höchst ermüdend, und der ganze Kreis wäre seiner gewiß sehr überdrüssig geworden, wenn er längere Zeit in Karlsbad verweilt hätte. Aber er eilte schon am dritten Tage zum kunstliebenden Scharfrichter nach Eger, den er durchaus sprechen zu müssen behauptete, obgleich er sich augenscheinlich höchst ungern so schnell von Gabrielen trennen mochte. Er verließ sie mit der Erklärung, daß er sie auf Schloß Aarheim wiederzusehen gedenke, und wollte sich durchaus nicht daran kehren, daß ihr Vater keinen Besuch annähme. Er war auf jeden Fall überzeugt, daß er ihm mit den englischen und türkischen Farbengeheimnissen willkommen sein würde, wenn jener auch ihre nahe Verwandtschaft bei der Annahme seines Besuchs nicht in Betracht ziehen wollte. Übrigens hielt ihn ein innres Zartgefühl ab, Gabrielen zu gestehen, daß er des Freiherrn nächster Agnat und der künftige Besitzer von Schloß Aarheim sei, der als solcher doch einigermaßen sich berechtigt glauben konnte, bei seinem Verwandten, den er nie beleidigt hatte, vorgelassen zu werden.

Ganz nahe den die Gesellschaftssäle von Karlsbad umgebenden Alleen steht eine der Madonna geweihte kleine Kapelle zwischen hohen Bäumen und dichtem Gebüsch. Die Mädchen und Frauen der Umgegend schmücken das in ihr wohnende freundliche Muttergottesbild mit dem Schönsten, was sie nur aufzubringen wissen. Nie mangelt es ihm an strahlenden Flittern, an schönen Bändern und Perlen. Frische Blumensträuße duften jeden Morgen auf dem kleinen Altar, solange die Jahreszeit dies vergönnt, und an jedem Abend werden helle Kerzen vor dem Bilde angezündet, von denen oft ein funkelnder Strahl durch das dichte Laub bis mitten in die fröhlichen Kreise der vornehmen Welt den Weg findet und auch da manches stille fromme Herz mit heiliger Sehnsucht erfüllt. Sobald der Abend hereinbricht, bevölkert sich der kleine Betstuhl vor dem Bilde mit Andächtigen; gr?ßtenteils sind es Weiber und Mädchen aus den umliegenden Dörfern, die von der Arbeit kommen und zuvor an dieser heiligen Stätte ihr Abendgebet verrichten, ehe sie heimkehren.

Auch Gabriele weilte oft und gern bei der kleinen Kapelle. Wenn frühere Schmerzen sich wieder regten, wenn Ergebung, Hoffnung und die schwer errungene Ruhe des Gemüts im Geräusch ihr fremder werden wollten, dann flüchtete sie sich hierher und kehrte nach kurzem Verweilen immer mit einer Brust voll Frieden zu ihren Umgebungen zurück. Die unerwartete Ankunft ihres Vetters, die unruhige Bewegung, in welche alles um sie her während der Zeit seines Dableibens geraten war, und nun zuletzt noch sein sehr tumultuarischer Abschied und seine Abreise machten ihr am Abende nach letzterer eine einsame Stunde höchst wünschenswert. Ohnehin waren diesmal die Stunden nach Sonnenuntergang zu der jüngsthin verabredeten allgemeinen Versammlung in einem der Säle bestimmt, und Gabriele wußte wohl, daß sie alle ihre Freunde beunruhigen und betrüben würde, wenn sie nicht dabei erschien. Daher flüchtete sie sich eben, als die Sonne hinter die Felsen zu sinken begann, zu dem Ort, an welchem sie schon oft Trost und Beruhigung fand, um sich für das Geräusch der nächsten Stunden in ruhiger Stille zu erholen, zu stärken und zu sammeln. Sie traf nur eine einzige, auf ihren Knien in tiefer Andacht hingesunkene Beterin in der Kapelle und schlich sich leise an die andere äußere Ecke des Betstuhls, um durch ihre Gegenwart so wenig als möglich störend zu werden.

Lange hatte sie sich nicht so durchaus beklommen, so recht innerlich betrübt gefühlt als heute. Durch Adelberts Erzählung seines unwürdigen trüben Geschicks war nicht nur ihr wärmstes Mitgefühl in Anspruch genommen, es hatte solche auch alle ihre eignen Schmerzen und Sorgen wieder angeregt. Ottokars Bild stand seitdem lebendiger als je wieder vor ihrem Geist, begleitet von einer düstern bangen Ahnung, die ihr weder Rast noch Ruhe ließ und sie um so mehr beängstigte, je undeutlicher und verworrener die Vorstellungen waren, durch welche ihr aufgeregtes Gemüt sich mit Grausen erfüllte.

In der Kapelle ward ihr indessen bald ruhiger zumute. Die Stille des Orts, die Abendsonne, welche zwischen dem hohen Gezweige der ihn umgebenden Bäume hindurch ihre goldnen Lichter auf das Marienbild streute, stimmten sie zu süßer seliger Wehmut. Bald erleichterten Tränen ihr gepreßtes Herz, sie weinte recht herzlich, ohne doch eigentlich zu wissen, wem ihre Tränen flossen; aber sie fühlte, daß sie ihr unendlich wohl taten.

„Gelobt sei Jesus Christus!“ Mit dieser in Karlsbad gewöhnlichen Begrüßung hörte sie sich plötzlich von der Frau angeredet, die vorhin in der Kapelle gebetet hatte und jetzt dicht neben ihr stand. „In Ewigkeit!“ erwiderte Gabriele und stand auf, um sie an sich vorbeigehen zu lassen; aber die Frau ging nicht, sondern begrüßte Gabriele nochmals mit dem zweiten, in Karlsbad üblichen Gruß: „Gott schenk' Euer Gnaden die Gesundheit!“

„Ich danke Euch, gute Frau!“ sprach Gabriele und blickte etwas verwundert auf. Ihr Auge traf in das fromme, stille, halb erloschene Auge eines uralten, ärmlich, aber höchst reinlich gekleideten Mütterchens mit schneeweißen, glatt gekämmten Haaren, das mit unaussprechlicher Freundlichkeit sie betrachtete. „Ihr habt recht andächtig gebetet, fromme alte Mutter! Euch muß Gott erhören; gedenkt auch meiner künftig in Eurem Gebete!“Mit diesen Worten reichte Gabriele der Alten eine Gabe.

„Das will ich“, antwortete die Frau in einer diesen Gegenden fremden Mundart, „recht herzlich will ich für Sie beten, aber nicht um Ihres Geschenks willen. Doch nehme ich es gern, Sie sind reich und gut, und ich will meinen Urenkelchen eine Freude damit machen.“

„Für diese Urenkelchen habt Ihr auch wohl hier gebetet?“ fragte Gabriele.

„Alle Tage bete ich für sie und segne sie“, war die Antwort; „aber nicht hier, hier bete ich weder für mich noch die Meinen, nur für einen, den ich nicht einmal zu nennen weiß. Aber Gott kennt ihn und hat den Namen in sein Buch geschrieben; Er weiß, wen ich in meiner Einfalt meine, und wird mich wohl erhören. Liebes gnädiges Fräulein!“ fuhr die Alte fort, indem sie sich neben Gabrielen setzte, „halten Sie mir's zugut. Als ich Sie vorhin so jung, so schön, so vornehm und so reich und doch so herzlich betrübt weinen sah, da konnte ich nicht anders, ich mußte mich zu Ihnen stellen und mit Ihnen zu reden suchen. Glauben Sie mir nur, Gott wird seinen Engel senden, Sie zu trösten, wenn es Zeit ist, bleiben Sie nur in der Geduld und in der Hoffnung. Hat er ihn doch auch mir gesendet, als meine Margarethe gestorben war und ich deshalb zu meinem Sohn nach Böhmen wandern mußte. Da blieb ich in einem wildfremden Lande, von aller Welt verlassen, in Todesnöten auf freiem Felde liegen, ringsum war es Nacht und kalt, ich konnte die Lippen nicht mehr regen und betete nur noch innerlich: ›Vater unser, der du bist im Himmel‹, und er hörte mich doch und sandte den Retter.“

Freudiges Schrecken durchrieselte Gabrielen bei diesen Worten; sie fragte, die Frau antwortete, und bald fand es sich, daß es so sei, wie sie es geahnt hatte. Es war die nämliche alte Mutter, welche Ottokar vor ungefähr Jahresfrist vorn Verschmachten gerettet hatte. Mit heißen Freudentränen fiel Gabriele ihr um den Hals.

„Er ist Ihnen wohl nahe verwandt?“ fragte die Frau.

„Ja wohl verwandt! Nahe verwandt!“ erwiderte Gabriele, die nassen Augen gen Himmel gerichtet.

„Das hätte ich gleich sehen können, daß Sie Schwester und Bruder sind, Sie sind beide so gut und so schön. Sagen Sie Ihrem Bruder doch, wenn Sie ihn sehen, wie seine Wohltat mir Segen gebracht hat, ich denke, es muß ihn freuen, wenn er es hört. Überall fand ich weiterhin gute Seelen, die sich einer armen alten Mutter annahmen, und so habe ich von seinem Gelde so viel erübrigt, daß ich meinem Aloys eine Kuh kaufen konnte. Und nun lebe ich bei ihm und meinen Enkeln und Urenkeln dort unten im Dorfe. Aber alle Abende steige ich hier herauf, sobald es Vesperzeit wird, im Winter und im Sommer, im Regen, im Schnee, im Sonnenschein, nichts hält mich ab, denn ich habe ein Gelübde getan und das will ich halten, solange Gott mir die Kräfte verleiht. Hier bete ich immer einen Rosenkranz für meinen Erretter und empfehle ihn dem Schutz aller lieben Heiligen, besonders der heiligen Jungfrau, denn so habe ich es gelobt. Lieber Gott, denke ich, er ist zwar ein Engel an Güte, aber doch ein junger, reicher, vornehmer Herr. Da kann es wohl geschehen, daß solch ein junges Blut mitten im Vergnügen einmal das Beten vergißt, und mein einfältiges Gebet kommt doch aus treuem Herzen, das muß ihm frommen, wo er auch sein mag.“

„Wo er auch sein mag! Wo er auch sein mag! O gute Mutter, vergiß ja nie dein Gelübde und gedenke auch meiner, wenn du für ihn den Himmel anrufst!“ Mit diesen, in hoher Bewegung ausgesprochenen Worten drückte Gabriele der Alten ihr Taschenbuch mit Bankzetteln in die Hand und eilte mit verhülltem Gesicht ihrer Wohnung zu.

Jetzt war es ihr unmöglich geworden, noch heute den Abendzirkel zu besuchen, und Frau von Willnangen, der sie mit wenigen Worten das Vorgefallene mitteilte, war auch sehr bereit sie zu entschuldigen. Allein in ihrem Zimmer gab sie sich ganz den Erinnerungen hin, welche der Anblick jener Frau aufs neue belebt hatte. Jede in Ottokars Nähe verlebte Stunde ging an ihrem Geiste vorüber, vor allen die erste, in der sie ihn sah, ohne ihn nennen zu können, und dann die letzte entscheidende.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele