... Ja, unsre Altväter hatten recht, welche die Fremde das Elend nannten, das fühle ich. Ich bin in der Fremde; ausgestoßen aus meiner süßen Heimat,...

„Die Sonne geht auf, die Tage sind so lang. ›Gottlob!‹ sage ich abends, ›nun wird es Nacht‹, aber die Nacht frommt mir nicht, denn nur die Glücklichen schlafen. Vor der Morgenröte wecke ich meinen Bedienten, das ganze Haus kommt in Alarm, Pferde müssen herbeigeschafft werden, ein Courier voraus, ich habe Eile, fort! Fort! Nur immer rasch vorwärts. Aber wohin? Die Wege, das Wetter sind entsetzlich, aber nur fort, und wohin? Weiß ich es denn? Gabriele! Mußte es denn sein? Mußten Sie mich denn verbannen?

Ich will nicht klagen, ich unterwerfe mich Ihrem Willen, und wenn ich nur den Gedanken so recht innig, so recht lebendig zu fassen vermag, daß ich durch diese Unterwerfung vielleicht Ihnen einige trübe Minuten erspare, dann segne ich mein Elend.


Ja, unsre Altväter hatten recht, welche die Fremde das Elend nannten, das fühle ich. Ich bin in der Fremde; ausgestoßen aus meiner süßen Heimat, zu der ich nie wiederkehren werde! Und wie elend!

Nun habe ich es erjagt! Ich habe Ihren Brief noch nicht gelesen, ich kann das Siegel nicht brechen, ich muß Ihnen erst danken; ich habe sie, ich halte sie, die unschätzbaren Züge, die Gabrielens Hand für mich niederschrieb. Dieses Papier hat sie berührt, ihr Atem wehte drüber hin, ihr Auge ruhte darauf; nein, ich kann noch nicht lesen, das Gefühl dieser Seligkeit duldet es nicht.

Ich wußte, daß ich hier das einzige Glück meines jetzigen Lebens zu finden hoffen durfte, sowie ich die wohl bekannten Türme von *** erblickte, warf ich mich auf das schnellste meiner Pferde, die ich vorausgeschickt hatte. So sprengte ich zum Tore hinein, die Straße hinauf vor das Posthaus; ich kenne die Stadt noch von vorigen Zeiten her. Am Ziel ergriff es mich mit tödlicher Angst, als wäre kein Brief an mich da. Eiseskälte in allen Gliedern vermochte ich es kaum, eine Karte mit meinem Namen aus meinem Taschenbuch zu nehmen und hinzureichen. Da – da – o Gabriele! Ich erkannte gleich das rosenfarbene Couvert. Segen über Sie, tausendfältigen, daß Sie es wählten! Welche Masse von Seligkeit ruft dieses gefärbte Papier mir zurück! Es war Regenwetter gewesen, mehrere Tage lang, Ida und Bella und ich, wir mußten artig sein und uns neben Ihnen sitzend mit nützlichem Fleiße beschäftigen. Ich Ungeschickter, ich konnte nichts Brauchbares hervorbringen als diese Briefcouverts und ward von den Mädchen verhöhnt, von Ihnen in Schutz genommen, und, o Gabriele! Sie haben die armen bunten Papierschnitzelchen nicht verworfen, Sie haben sie mit sich genommen, und nun fliegt eins davon zu mir herüber, von Ihnen gesandt, ein stummer Bote des Friedens und des Entzückens.

Ihr Brief ist ernst, er ist mehr als das, würde ich sagen, durchwehte ihn nicht bei aller anscheinender Strenge die himmlische Güte und Milde, die Sie niemalen verläßt. Ich hätte bei meinen Verwandten noch verweilen, ich hätte überall im Winter nicht reisen sollen! So war Ihr Wille. Teure Gabriele! Hätte ich ihn gekannt, ich hätte ihn erfüllt und wäre ich auch zugrunde darüber gegangen. So habe ich in meiner Unwissenheit von meinem Gefühl mich hinreißen lassen und wäre untröstlich, ohne die Überzeugung, daß Sie mir selbst würden geheißen haben fortzureisen, wenn Sie mich und meine Umgebungen in der Nähe gesehen hätten. Nein! Mit diesem wunden Herzen konnte Gabriele ihren armen Edelknaben nicht in den wildesten Strudel der Faschingslustbarkeiten stürzen wollen; nicht in jenes Tosen, wo der Schmerz am einsamsten sich fühlt, wo alle Wunden bluten, mit glühenden Krallen unnennbares Weh uns packt und hält und nicht losläßt, und fremdes Lachen um uns zum larvenartigen Grinsen wird, das uns in stummer Angst von Ort zu Ort treibt, aus wüsten Träumen uns wach schmettert, bis der fürchterliche Kontrast zwischen Außen und Innen uns zu wahnsinnigem Tun treibt, in welchem wir Betäubung suchen, weil es keine Ruhe mehr auf Erden gibt.

Gottlob! Der Winter ist überlebt, die Blumen knospen, die Natur erwacht! Alte liebe Bekannte suchen den armen Verbannten auch in der Fremde auf; die Nachtigallen singen mir auch hier den einen, einen Namen zu, der alle Harmonie der Welt in seinen süßen Tönen vereint. Und die Pappeln! Sie wiegen die grünlich goldigen Häupter hoch in der blauen Luft und flüstern miteinander, wie jene am Bassin im kleinen Gärtchen – o Gabriele, Gabriele, wie selig und wie elend macht mich Erinnerung! – Verzeihung, ich wage keine Silbe mehr. Aber zu Fuße will ich ganz allein die Schweiz durchstreifen, fortwandern, bis ich abends in todähnlicher Ermüdung hinsinke und mir im betäubenden Schlummer vielleicht Vergessenheit wird auf wenige Stunden. So will ich das Ziel meiner Verbannung erreichen; Sie wollen es; es sei! Das Meer und mächtige Ströme und himmelhohe Alpen sollen zwischen uns treten, ich soll sogar der Luft des Landes entsagen, in dem Sie atmen und leben, sogar den mir so lieb gewordenen Tönen Ihrer Sprache. Es sei! Aber Gabriele, es hilft Ihnen nichts! Nachts leuchten mir und Ihnen dieselben Sterne, und wenn ich die Augen schließe, stehen zwei dunkele, blitzende Sonnen vor mir und strahlen mild und warm mir bis ins innerste Herz. Sehnsucht spottet des Meers und der Ströme und der Alpen und zaubert ein unaussprechlich anmutiges Bild auf allen meinen Wegen mir vor. Freilich schwindet es bald wieder, und ach! In welche dunkle hoffnungslose Nacht!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele