Vierter Abschnitt. - Einige Wochen später geschrieben.

Einige Wochen später geschrieben

„Max ruhte nicht, ich mußte ihm hieher folgen, zum uralten hochgetürmten Sitze meiner Ahnen, am Fuße der Karpaten. Er meinte: wo ich eigentlich zu Hause sei und hingehöre, müsse doch endlich jener Trübsinn weichen, der in meiner Nähe sogar ihn, den immer Lebensfrohen, wie ein böser Geist ergreift und ihn oft so seltsam beängstigt, daß er das Vorgefühl einer nahen schweren Krankheit zu empfinden glaubt. Und dennoch will der gute treue Freund nicht von mir lassen; mag er denn immerhin meinen einstweiligen Aufenthalt wählen; ich bin froh, dieser Mühe überhoben zu sein, ich gebe mich seiner Leitung hin, um so lieber, da ich, mit ihm allein, endlich einmal freier atmen kann.


Ehegestern langten wir ziemlich spät gegen Abend hier an. Aus Hütten und Bauerhöfen strömte jung und alt uns schon auf dem Wege entgegen mit Kränzen, mit grünen Zweigen und endlosen gutgemeinten lateinischen Reden. Hörner und Trompeten lärmten dazwischen und der Widerhall aus den nahen Bergen sandte uns das lustige Losknallen der Feuergewehre, zum fernen Donner umgewandelt, zurück.

Max suchte mit seelenvergnügter Erwartung, Freude über seine wohlgetroffenen Anstalten in meinen Augen zu lesen, während die trostloseste Erinnerung an unsern Einzug in Schloß Aarheim mir das Herz zerriß.

An unsern Einzug! Gabriele, an unsern! Wie war es möglich, daß dieser Ausdruck jetzt mir entschlüpfen konnte? Unser! Die Seligkeit des Himmels umfaßte sonst für mich dieses kleine Wort, ich suchte tausendfältige Gelegenheit, es auszusprechen. Jetzt ist's damit vorbei! Ich darf ja mit Gabrielen nichts mehr gemein haben als das Tageslicht. Doch still davon.

Ich stand denn ehegestern eine ziemliche Weile unter den hohen Bäumen vor dem Schlosse und war himmelweit von allen jenen Regungen entfernt, die Max in mir zu wecken gehofft hatte. Noch nie hatte ich so verwaist mich gefühlt als eben hier, in dem von meinen Vätern mir vererbten Eigentume; noch nie war es mir so schwer aufs Herz gefallen, wie ich doch nirgend und zu niemanden mehr hingehöre, seit der Stern meines Lebens mir nicht mehr leuchtet.

Alle diese Menschen blicken hoffend zu mir auf, alle dünken sich zu mir zu gehören, sie sind bereit, ihr Wünschen und Klagen und Bitten mir zu vertrauen, und ich will gern geben, was ich kann; doch das, was sie eigentlich und mit Recht von mir fordern, vermag ich doch nicht, ihnen zu gewähren. Ich stehe, in Sitte, Kleidung und Sprache ein Fremder, in meinem Vaterlande mitten unter meinem Volke.

Warum ließ mein Vater den mutterlosen Knaben nicht hier aufwachsen, in diesen alten Mauern, unter diesen Menschen, die so große Ansprüche an ihn haben? Ich wäre dann einfachen Sinnes und doch treu und brav wie mein Vetter Max; ich nähme wie er das Leben arglos hin, ohne große Ansprüche, wie es gerade käme. Es stände dann gewiß viel besser um meine Ruhe, und doch ergreift mich ein Schauder, wenn ich es mir recht ausmale, wie es mit mir sein könnte, wenn Gabriele mir nicht erschienen wäre, wenn Kunst, Wissen und jeder verfeinerte Schmuck des Lebens für mich gar nicht existierten, wenn ich, versunken in farblose Apathie, so hinlebte von einem Tage zum andern und die Jahre über mir hinrollten, ohne daß ich es anders als an meinen ergrauenden Haaren gewahr würde. Nein! Nein! Ich will fühlen, daß ich bin, sei es auch nur durch den Schmerz! Doch zurück zu meiner Erzählung unsrer Ankunft. Sie wollen ja, ich soll erzählen.

Immer peinlicher ward das beängstigende Gefühl, das unter meinen jubelnden Untertanen mich ergriffen hatte. Immer unmöglicher ward es mir, ihrer Freude, die mit jedem Augenblicke lauter sich aussprach, wenigstens auf halbem Wege zu begegnen. Ich weiß, was ich gesollt hätte; ich fühlte recht gut, welche Erwiderung die rührende Anhänglichkeit dieser Menschen, wenn auch nur an meinen durch die Zeit ihnen heilig gewordenen Namen von mir fordern durfte, und doch fürchte ich, teure Gabriele, ich fürchte, ich habe mich nicht benommen, wie ich sollte. Ich konnte es nicht; weder mich zu freuen noch Freude zu heucheln vermag ich, und so kam es denn wohl nicht ohne mein Zutun, daß das muntere Getöse um mich her allmählich verstummte. Alles begann nach und nach sich mit scheuem Blick, mit unsicherm Verneigen aus meiner Nähe zurückzuziehen und endlich sich zu zerstreuen, ehe noch völlige Dämmerung eintrat.

Max hat recht ernstlich mein Benehmen getadelt; ich stand beschämt vor ihm und wußte zuletzt nur körperliches Übelbefinden zu meiner Entschuldigung anzuführen. Er meint es so gut, und obgleich er mich oft eigensinnig schilt, ist doch sein Herz voll Mitleid mit mir; aber wie könnte er je Wunden schonend behandeln, deren Möglichkeit er nie begreifen wird. Ich bat ihn also nur, bei einem Feste, das ich allen meinen Untertanen zu geben willens bin, mich als Wirt zu vertreten. Dies stellte die treue Seele völlig zufrieden, nur mußte ich ihm noch versprechen, dabei zu erscheinen, sei es auch nur auf wenige Minuten.

Morgen also. Von Morgen an wird laute Freude drei Tage lang unten durch die weiten Hallen meiner Burg tosend dröhnen. Für mich hoffe ich indessen ein stilles Plätzchen zu finden, wohin kein Ton von dorther dringen kann, wo ich allein sein mag mit meinen lieben Gedanken an ehemals, an Gabrielen.

Sie tanzen, sie singen, sie lachen; wie das ferne Brausen des Meeres tönt es selbst zu dem kleinen runden Eckturm herüber, in welchen ich mich vor alle dem Lärmen geflüchtet habe. Ist das Freude? Die ungebändigste Lustigkeit eines Bauerngelages sowie die ausgesuchtesten Feste der vornehmen Welt, was sind sie im Grunde anders als Schlachtmusik, die der arme Mensch sich macht, um nur nicht zu sehen und zu hören, wie der vernichtende Arm der Zeit die Sichel führt?

Schon beim ersten Eintritt in dieses Schloß kam alles so bekannt mir vor. Das altmodisch gestickte goldene Laubwerk auf den schweren rotsamtnen Gardinen meines Bettes, die vergoldeten Löwenköpfe, welche meinen Schreibtisch tragen, die hohen geschnitzten Stühle, die kolossalen unbeweglichen Tische. Mir war, als hätte ich vor langer Zeit das alles schon gesehen und doch hatte ich dieses Schloß kaum jemals nennen gehört; mein Vater besuchte es nie, solange ich denken konnte, obgleich es unser Stammhaus ist. Von Unruhe getrieben, durchzog ich heute die lange Reihe unbewohnter Zimmer, die noch in ihrer altertümlichen verbleichenden Pracht genauso schon vor hundert Jahren dastehen. Ein großer Saal am Ende derselben hielt mich endlich fest. Von seinen Wänden schienen die Bilder meiner Vorfahren aus ihren breiten kunstreich geschnitzten Rahmen auf mich, den letzten trüben Sohn ihres Stammes, mitleidig herabzublicken, und ich betrachtete sie der Reihe nach. Zuletzt stand ich beim Bilde meines Vaters still, sein trauriges Alter und die Tage meiner, nicht freudiger bei ihm verlebten Kindheit traten mir vor die Seele. Ich versank in immer tieferes Sinnen, so, daß ich über die Stimme des alten Kastellans wirklich zusammenfuhr, der von mir unbemerkt hereingetreten war.

Er ist ein alter, fast kindischer Greis, der hier, wo er sein ganzes Leben hinbrachte, in spielender Geschäftigkeit den Tod erwartet. Mit der Redseligkeit des Alters begann er, mir die Geschichte aller Feste und großen Jagden, welche er zu meines Großvaters Zeiten hier erlebt hatte, herzuerzählen, bis ich, um ihn zu unterbrechen, nach einem Bilde fragte, von dessen Existenz der leere Raum neben dem meines Vaters zeugte und das augenscheinlich aus der Reihe weggenommen war. Der Alte wiegte bedächtig das schneeweiße Haupt, ›ich habs gerettet‹, flüsterte er mir endlich zu und öffnete dann eine verborgene Tapetentüre in einer Ecke des Saals. Beklemmend schlug mir die schwüle eingeschlossene Luft des wohl seit vielen Jahren nicht geöffneten dunkeln Zimmers entgegen, doch trat ich hinein, eigentlich ohne Neugier und ohne zu wissen warum. Der Alte öffnete die Fensterladen und ich sah mich in dem Kabinette einer Dame aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Auf dem mit Spitzen auf verblichener rosenfarbener Seide umkleideten Nachttische schimmerten noch die silbernen mit getriebener Arbeit gezierten Putzkästchen; ein dicht zugezogener Schleier von altmodischen Spitzen verhüllte den kleinen ebenfalls in silberne Schnörkel eingefaßten Spiegel und seitwärts stand eine reich mit Perlmutter und Elfenbein geschmückte Wiege, auf deren seidener Decke wohl längst zerfallene Hände mit mühsamer Kunst eine Grafenkrone gestickt hatten.

In ganz eigner Bewegung betrachtete ich die kleine Schlafstätte und die prunkenden Anstalten, welche Mutterliebe und Eitelkeit zum Empfange des hülflosen kleinen Erdenbürgers hier getroffen hatten, den das Schicksal späterhin wohl schwerlich wieder so weich gebettet haben wird, ehe er zu jener Ruhestätte gelangte, die der spanische Dichter die zweite umgekehrte Wiege nennt, und die uns noch tiefern ruhigern Schlaf verheißt. Der Alte machte mich jetzt auf das über der Wiege hängende Bild einer jugendlich schönen Frau aufmerksam. Sie lächelte mit so bekannten Zügen mich an, daß ich den Blick nicht wieder zu wenden vermochte. Plötzlich fiel es wie ein Schleier mir von den Augen, ich stand vor dem Bilde meiner Mutter, ich erkannte dies Kabinett, in welchem ich, ein glückliches Kind, bis in mein fünftes Jahr neben ihrem dicht daranstoßenden Zimmer gewohnt habe. Ich bin in diesem Schlosse geboren, teure Gabriele, ich wußte es nur nicht, aber der Greis sagte es mir jetzt. Es war meine Wiege, an der ich stand, in der auch mein Vater, vielleicht mein Großvater einst ruhten; denn seit einem Jahrhundert wenigstens ist hier nichts verändert worden. Die Morgensonne meines Lebens ging mir plötzlich wieder auf und leuchtete um mich her, so klar, daß ich alles, was mich umgab, in ihrem rosigen Abglanz wieder erkannte. Ich blickte auf zum Bilde meiner Mutter, in ihren Augen schienen mir jetzt Tränen zu glänzen wie in jener Nacht, da ich, halb erweckt von ihren heißen Küssen, sie weinen sah und mit ihr weinend, wieder einschlief. Am Morgen nach dieser Nacht, erwachte ich das erstemal zum Schmerz der Trennung, der bängsten Sehnsucht nach einem geliebten entschwundenen Wesen.

Die Fenster des Kabinetts gehen in einen kleinen Nebenhof; ich erkannte jetzt auch in ihm die Stelle, wo vor beinahe zwanzig Jahren der Wagen hielt, in welchen ich von ganz fremden Leuten getragen ward und dann still weinend und, bänglich neben dem ernsten schweigenden Vater sitzend, von allen Freuden meiner Kindheit Abschied nahm. Ich habe seit jener Nacht meine Mutter nicht wieder gesehen, nie hat man wieder mit mir von ihr gesprochen, und die unglückliche Ursache unsrer Trennung ist mir nie recht deutlich geworden. Ich weinte lange der Mutter nach, endlich vergaß ich sie doch nach Kinderart. Die Liebe blieb aber dennoch in meinem Herzen und hielt ihr Bild darin fest; darum erkannte ich es in dem Gemälde gleich wieder, sowie dieses mir vor die Augen trat. Es ist das einzige, was von ihr übrig ist. Dank sei es dem alten treuen Kastellan, der es heimlich gerettet. Alle andere sie darstellenden Gemälde, die sich im Schlosse befanden, wurden nach der Entdeckung ihrer Flucht von uns auf Befehl meines erzürnten Vaters verbrannt. Der Unglückliche! Das eine Bild in seinem Herzen vermochte er doch nicht zu vertilgen, das wie ein unheilbringender Dämon ihn überall hin verfolgte, alle seine Tage trübte, ihn in Lebenshaß und Bitterkeit erstarren ließ. War es Schuld meiner Mutter oder ihr Unstern, der hier vorwaltete? Fern von mir sei es, hierüber forschen zu wollen. Sie hat mich einst geliebt, sie hat um mich geweint, dies genügt meinem Herzen. Ich beziehe noch heut mein ehemaliges Kabinett, vielleicht senkt in der Wohnung meiner harmlosen Kindheit sich mir ein Strahl ehemaligen Friedens wieder in das wunde Herz.

Es ist vergebens. Auch hier, wo ich zuerst atmete, wohnt für mich keine Ruhe! Gabriele, hörten Sie je das Märchen von jenem Unglückseligen erzählen, der seit langen Jahrhunderten rastlos umherwandert, ohne den Tod zu finden; von den Menschen geflohen, in deren Mitte auch ihm grimmiges Schauern erkältend bis tief in das innerste Herz dringt und dem müden Fuße keine Ruhestätte gönnt? Ich dachte lange nicht mehr daran, aber hier in diesem Zimmer, wo ich als Kind mit ängstlichem Behagen daraufhorchte und es mir immer wieder und wieder erzählen ließ, hier fällt es mir oft recht grausenhaft ein. Von jeher dünkte mir das Geschick dieses Rastlosen ganz über allen Ausdruck entsetzlich und nun wandre auch ich so ohne Ruhe und Rast, und wohin ich mich wende, verstöre auch ich jedes glückliche Geschöpf. Lachen und Freude verstummen im Dorfe, sowie ich mich zeige; meine Bedienten schleichen leise wie Gespenster um mich her, wenn ihr Dienst oder der Zufall sie in meine Nähe bringt; die alten Leute, welche meinen Großvater, der stets hier gewohnt, noch gekannt haben, sehen meiner bleichen trüben Gestalt bedenklich nach und flüstern einander mitleidige Bemerkungen oder abenteuerliche Vermutungen über mich zu, wenn sie bei meinen einsamen Spaziergängen mir begegnen. Glauben Sie mir es, Gabriele, ich möchte gern Ihrem Willen folgen, ich möchte mich wenigstens zwingen, auszusehen, als nähme ich das Leben wie andre Leute tun; doch kann ich dafür, daß alles, was ich ergreifen müßte, um zu sein wie jene mir so schal, so abgeschmackt vorkommt?

Jede Not und jede Freude, jede Tugend und jedes Vergehen der Bewohner meiner Herrschaft während der ganzen Zeit, daß diese mein ist, möchte Max mir jetzt ans Herz legen, und quält mich dabei unaufhörlich, zu entscheiden, ob ich mit dieser oder jener seiner Einrichtungen zufrieden sei. Dazu wimmelt das Schloß von Nachbarn und Verwandten, die Max zwar allein besucht hat, weil er mit aller freundlichen Gewalt, die er über mich übt, es doch nicht vermochte, mich mit sich zehn Meilen in die Runde umher zu schleppen. Doch da er mein Hiersein nicht verschweigen konnte, so hat er mein Nichtkommen durch den üblen Zustand meiner Gesundheit zu entschuldigen versucht und nun strömt alles in freundlicher Teilnahme herbei, den Kranken zu besuchen. Fremde, nie gesehene Gestalten umschwärmen mich, deren Namen ich zu meiner großen Beschämung alle Augenblicke verwechsele und die doch durch Bande der Verwandtschaft oder des früheren nahen Umgangs mit meinen Eltern, bedeutende Ansprüche an mein Vertrauen und meine Zeit zu haben glauben. Nein, wenn es denn so sein muß, wenn ich denn im Geräusche leben soll, so will ich es doch lieber in einer großen lebensreichen Stadt, wo ich mitten im Getümmel mit meinem tiefen Herzeleid einsam und unbeachtet dastehen kann, und niemand fragt: Was fehlt dir? Warum blickst du so trübe? Ich folge den Einladungen meiner Verwandten, ich ziehe mit ihnen in ihren gewohnten Winteraufenthalt. – Und wenn ich nun dort sein werde, was denn?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gabriele