Paris.

Die Engigkeit der Röcke überschreitet auch das, was man früher für zulässig gehalten hätte. Ausserdem dauern die Trägerinnen mich wegen der Stöckelschuhe, deren Absätze eine Höhe erreicht haben, die einen sicheren, hübschen Gang einfach zur Unmöglichkeit macht. Dazu noch weisse Gamaschen. Und das soll schön sein!

Eine hübsche Seinefahrt vom Trocadero aus und dem imposanten Eiffelturm, entlang an der nun so still daliegenden einstigen Rue des Nations mit ihren längst verschwundenen stolzfröhlichen Gebäuden beschloss den Tag, und ich war froh, meine müden Knochen zur Ruhe bringen zu können, nachdem ich ihnen durch den nicht enden wollenden Boulevard de Sebastopol noch eine ziemliche Zumutung gemacht hatte.


Heute morgen galt es nun, um keinen Preis den um 10:20 Uhr abgehenden Sonderzug zu verfehlen. Jede Möglichkeit, das Schiff mit einem spätern Zuge zu erreichen, wäre ausgeschlossen gewesen. Zu einem kleinen Gang über den Boulevard du Montmartre reichte es aber doch, und da sah ich zu meiner Freude, dass das alte Paris noch lebt. Standen da, morgens um 8:30 Uhr, drei Musiker auf dem Trottoir, wo es etwas breiter war, ein Geiger, der eben sein Instrument stimmte, ein Gitarren- und ein Mandolinenspieler, und nun legten sie los. Der Geiger hatte einen weichen, sehnsüchtigen Ton, und die beiden andern begleiteten gut, und jetzt begann der Gitarrenspieler auch zu singen: La dernière valse de Dickson „Puisque ton coeur n’a plus d’amour, pourquoi tes yeux ont-ils des larmes“ etc. Im Augenblick hatte sich eine Gruppe um die Spielenden gebildet, Arbeiter, junge Leute, kleine Midinettes, der Ausläufer eines Modegeschäfts mit seinem Turm von Schachteln auf dem Rücken. Niemand hat Zeit, denn Bummler gibt es so früh noch nicht auf der Strasse. Aber so ein paar süsse Töne im Ohr, wer brächte es fertig, vorüberzurennen, ohne sie mitzunehmen. Sie sind wie der Duft der Rose; ist’s auch nur ein tiefer Atemzug, er bringt ein kurzes Glück. Und damit es länger dauert, verkauft der Mandolinenspieler den Text. Jetzt kann man’s zu Hause nachlesen, das schwermütige Liedchen, und sogar singen. Kaum fünfzig Schritte weiter steht schon wieder ein Kreis von Menschen. Am Boden hat sich ein Mann auf ein Knie niedergelassen und zeichnet mit Kohle auf den gesäuberten Asphalt mit geschickter Hand die geschwungenen Beine eines Tänzers. Zu was? Um aufmerksam zu machen auf ein kleines, wenige Centimeter langes Rohr, durch das er jemand von den Zuschauern blicken lässt. Er nimmt eine alte Taschenuhr, legt einen Sou in das leere Gehäuse, — man sieht den Sou durch die Metallschale hindurch, ebenso eine Tabakpfeife durch ein Futteral hindurch. Gab das ein Geschäft! Von allen Seiten streckten sich Hände aus, um dieses Röntgenfernglas für 20 Cts. zu erwerben.
Beim „Matin“ wurde gerade neues Druckpapier abgeladen. Zwei mächtige Wagen, etwa von der Grösse der bekannten Automobil-Kohlenwagen, jeder von einer kleinen Dampfmaschine getrieben, hielten vor dem Hause. 14 mächtige Rollen lagen auf jedem. Hinten am Wagen ist eine Metallrinne angebracht, breit und stark genug, solche Rollen aufzunehmen. Eine Rolle nach der andern wird auf sie gewälzt. Die Rinne kippt nach unten, das Papier rutscht hinunter, wird von einem zweirädrigen Stosswerkzeug aufgefangen, in den Hausgang geschoben, ein Aufenthalt von wenigen Sekunden auf einer im Boden angebrachten Wage, der Kontrolleur schreibt das Gewicht auf, und weiter rollt das Papier auf schräger Fläche in den Druckraum, wo die Rotationsmaschinen, die 100,000 Bogen per Stunde drucken, auf ihr neues Futter harren. Zisch, zisch, dampft der erste Wagen ab und der zweite kann vorfahren, und der Kutscher kann seinen „Matin“, den er, die Zigarette im Mund, eifrig studiert, einstecken. Wie viele Tannenwälder hat so ein einziges Blatt für sein Zellulosepapier wohl schon verschlungen ?

Auf der Gare St. Lazare hielt unser Zug. Sechs Wagen I. Klasse, ein Speisewagen, ein Gepäck- und Küchenwagen (das grosse Gepäck hatte man vorausschicken müssen) und eine Lokomotive. Jeder Wagen zu sieben Abteilungen und durchschnittlich vier bis fünf Personen, mögen es also um 200 Passagiere gewesen sein. Da gab es nichts von den rührenden Abschiedsszenen von Auswanderern, die ihre Heimat verlassen. Ich war vielleicht der einzige Nichtamerikaner. Alles United States-Leute, die von einem Besuch in Europa zurückkehrten und denen eine Fahrt übers Meer nicht viel anderes ist, als wenn wir nach Berlin oder Wien fahren. In meinem Coupe traf sich’s, dass drei Begleiter von hohen Herrschaften mitfuhren, ein Chinese mit unbeweglichem Gesicht, der die dicke Aktenmappe seines Herrn zu bewachen hatte, eine magere, gouvernantenartig aussehende Negerin mit Brille und eine dicke Amerikanerin, die sich gegenseitig ihr Leid über ihre Herrschaft klagten. Sechs Monate war die Weisse mit ihrer Herrin in Florenz gewesen und hatte nicht mehr als die Strasse zu sehen bekommen, an der sie wohnten. Die Negerin war wohl von ihren Vorfahren her an stilles Leiden gewöhnt und hatte dadurch etwas Sympathisches. Aber, dass es den Weissen Überwindung kostet, die schwarze Rasse als gleichberechtigt anzuerkennen, das begriff man, wenn man das gegen das Fenster sich abzeichnende Profil mit dem die Nasenspitze überragenden Mund und die an der Innenseite hellern Hände sah, ganz wie man es bei unsern „Vorfahren“ in den zoologischen Gärten trifft.

Ist das eine schöne Fahrt durch la belle France! Wenig Kornbau, meistens Matten mit weidendem, buntscheckigem Vieh, leicht bewegtes Hügelland mit Flüssen und viel Baumwuchs aller Art, Wald- und Obstbäumen. Hie und da im Grün versteckt ein anmutiges Schlösschen mit Türmen, von Zeit zu Zeit eine Stadt mit alter Kathedrale und viele Dörfer mit kleinen, aber ansehnlich soliden, vielfach steingedeckten Häusern mit jenen charakteristischen stattlichen Kaminen, die den Giebelseiten der Häuser einen beinahe monumentalen Abschluss geben. Dazwischen ausgedehnte, ganz flache Weidestrecken, so dass man meint, jetzt komme das Meer. Aber im Gegenteil, gegen die Küste zu wachsen die Hügel wieder höher, beginnt der Baumwuchs von neuem, und nirgends bemerkt man, dass die Baumkronen durch den ständig wehenden Meerwind verkrüppelt und nach einer Seite gedreht sind, wie es an der deutschen Nord-und Ostseeküste der Fall ist

Der Lloyd Vertreter geht durch den Zug und ruft in alle Abteilungen hinein: The steamer is expected about 6 o’clock, the tender will go at half past five. Wir halten an der Schiffbrücke, wo der Tender „Willkommen“ schon bereit liegt. Im Galopp werden unsere Wagen von Gepäckträgern gestürmt, die unser Handgepäck hinüberschaffen möchten. Dann kommen vier Eisenbahnwagenladungen mit Postsäcken an die Reihe. Die schmucken, schnellen Männer in ihrer Matrosenkleidung folgen einander ununterbrochen immer von neuem wieder mit den farbig gestreiften Säcken Correos de Espana, Poste italiane, Postes France, auch Geneve sah ich dabei. Endlich können wir abdampfen, aber nicht, bevor auch ich noch einen letzten Gruss erhalten hatte von meinen Lieben! Wie schon bei der Einfahrt des Zuges, so begleiten auch jetzt wieder eine Anzahl Buben das Schiff im Galopp, ununterbrochen schreiend: one penny!