Zweite Fortsetzung

Die Kunstbewegung, die in Uhde ihren Vorkämpfer fand, wurde in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kurzweg als Naturalismus bezeichnet. Diese Bezeichnung hat heut jede Berechtigung verloren; denn man hat im Laufe der Zeit erkannt, dass die Maler von damals ebenso wenig die Natur an sich geschildert haben wie alle übrigen Maler, dass auch sie nur ihre Vorstellungen von der Natur, nicht diese selbst zur Darstellung zu bringen vermocht. Was in jenen Jahren naturalistisch anmutete, war lediglich der Gegenstand, aber doch auch nur als Gegensatz. Denn unmittelbar vor dem Einsetzen jener Bewegung hatte das historische Genre und die festliche Renaissancemode geherrscht, und man geriet außer sich, dass nun plötzlich Erscheinungen gemalt wurden, die höchst alltäglich, ja sogar hässlich und gewissen Kreisen widerwärtig waren. Aus Standesbewusstsein oder Überhebung protestierte man gegen die Gestalten der Arbeit und der Armut, die plötzlich in Scharen in den Bildern anrückten. Natürlich ohne Erfolg; denn die Bewegung in der Kunst war durchaus nicht willkürlicher Art, sondern stand in innigstem Zusammenhang mit der großen sozialen Bewegung, die in den siebziger Jahren des neunzehnten Säkulums eingesetzt hatte. Das große Mitleid mit den Enterbten des Glücks war erwacht. Man begann sich um ihre Welt zu kümmern, und die Künstler entdeckten darin Schönheiten, die dem Volke nahezubringen sie verlangte. Dass sie dafür Revolutionäre gescholten wurden, war ein Unrecht; denn in Wahrheit suchten sie die Gegensätze auszugleichen. Es sollte nicht mehr das Vorrecht der höheren Stände und des Reichtums sein, die Künstler zu Taten anzuregen — auch das arbeitende und leidende Volk sollte erfahren, dass sein Dasein schönheitsdurstige Augen zu reizen vermochte. Nur aus einer missverständlichen Auffassung dieser Bestrebungen sind die Künstler, die sie vertraten, Naturalisten genannt worden, ja sogar in den Verdacht gekommen, dem Anarchismus zu huldigen. Die Entrüstung des in seinen heiligsten Gefühlen gekränkten Publikums von damals wirkt umso komischer, als dieses selbe Publikum sich begeistert zeigte für Rubens, Rembrandt, Brouwer und andre große Meister der Vergangenheit, die ungleich naturalistischere, derbere Szenen und oft fragwürdigere Existenzen geschildert haben als die Armeleutemaler jener Jahre.

Uhde griff in diese unerquickliche Situation sehr eigenartig ein. Er hatte die Phasen der Entwicklung von der falschen Renaissance bis zum realistischen Freilichtbilde sehr schnell durcheilt, weil er in ziemlich vorgerückten Jahren mit der gereiften Erkenntnis und der ohne viel Umwege zum Ziele strebenden Kraft des Mannes erst zur Kunst kam. Über seine Fähigkeiten klar und seiner Mittel gewiss, zögerte er nicht einen Augenblick, mit seiner Kunst das auszusprechen, was ihm am Herzen lag. In ihm, dem Sohne eines hohen kirchlichen Verwaltungsbeamten, dem früheren Offizier, der während des Deutsch-Französischen Krieges dem Tode mehr als einmal ins Auge gesehen, steckte ein aufrichtig frommer Sinn, der zur Grundlage ein intensives Gefühlsleben hatte. Der Gedanke, als Maler etwas für die Hebung des allgemeinen religiösen Bewusstseins zu tun, reizte ihn mächtig. Aber dem durch die schwächlichen und äußerlichen Nachfolger der deutschen Nazarener völlig diskreditierten Kirchenbilde sich zuzuwenden, schien ihm, der seine Erlebnisse und Beobachtungen vor der Wirklichkeit für sein bestes künstlerisches Besitztum hielt, ganz unmöglich. Da kam ihm der Vater so vieler glücklicher Entdeckungen und der Freund aller ehrlich strebenden Künstler, der Zufall, zur Hilfe. Uhde gelangte einmal in eine Dorfschulstube, in deren Mitte auf einem Stuhl ein freundlicher Pfarrer saß, dem von Eltern und Geschwistern die Kleinen zugeführt wurden. Die Art dieses Mannes, sein anmutiges Plaudern mit den Kindern und deren Zutraulichkeit zu dem ihnen bis vor wenigen Augenblicken gänzlich Fremden, gab ihm plötzlich die Idee, dass hier das Bibelwort zur Wirklichkeit geworden sei: Lasset die Kindlein zu mir kommen! Christus wandelt noch immer unter den Menschen. Man muss ihn nur erkennen können. Uhde empfand es als Gewissenszwang, die Szene so zu malen, wie er sie gesehen hatte. Nur dass er an Stelle des jungen Geistlichen den setzte, den er in jenem erkannt hatte. Es schien ihm selbstverständlich, dass der Christus, der unter diese Dörfler trat, nicht der schöne imposante, sich pathetisch bewegende Gottessohn der Italiener sein dürfe, sondern dass er ihm etwas geben müsse von dem Aussehen jenes schlichten Dieners der Kirche. Und er hat damit zweifellos das Rechte getroffen. Vor allem ist es ihm gelungen, der germanischen Auffassung von dem irdisch-himmlischen Vertreter der göttlichen Liebe so nahe wie möglich zu kommen. Seit Rembrandt ist ein Christus von dieser tiefinnerlichen und reingeistigen Auffassung nicht gemalt worden. Das Publikum von damals zeigte freilich für die feine Absicht Uhdes sehr wenig Verständnis. Man konnte durchaus nicht begreifen, warum der Maler die ehrwürdige Gestalt des Begründers der christlichen Religion in Verbindung brachte mit modernen Menschen, noch dazu mit so armseligen. Und ganz empört zeigten sich die kirchlich gesinnten Kreise, die hinter diesem ungewohnten Christustypus ein Attentat auf geheiligte Traditionen und das Ansehen der Kirche vermuteten. Diese Entrüsteten hatten offenbar vergessen, dass sie das, was sie Uhde zum Vorwurf machten, bei Dürer, Veronese, Rembrandt und vielen andern großen Meistern der Vergangenheit in aller Gemütsruhe hinnahmen, ja ehrlich bewunderten. Immerhin brachten die heftigen Diskussionen, zu denen Uhdes Bild „Lasset die Kindlein zu mir kommen!“ den Anlass gab, den Vorteil, dass man nicht nur auf die Idee Uhdes, sondern auch auf die von ihm vertretenen künstlerischen Anschauungen zu achten begann. Das Für und Wider verstummte umso weniger bald, als der Künstler auf dem in jenem Bilde eingeschlagenen Wege weiterschritt und es vielleicht nicht in der Empfindung, ohne Frage aber im Künstlerischen übertraf. Uhde ist durch den Erfolg jenes Bildes gewissermaßen genötigt worden, die Rolle des Begründers einer neuen Richtung in der religiösen Malerei in aller Form zu übernehmen. Freilich würde er es nie weit gebracht haben, wenn bei ihm nicht die erforderliche Veranlagung vorhanden gewesen wäre. Aus dieser heraus ist es ihm gelungen, aus einem Einfall eine Tat, aus einer Überlegung eine Weltanschauung zu machen. Und sicher ist es, dass dem lyrischen Grundzug in Uhdes Wesen keine bessere Gelegenheit zur Betätigung hätte geboten werden können als auf dem Gebiete der religiösen Malerei. Denn die Bibel wäre nicht das Buch der Bücher, wenn sie nicht alle Situationen des Lebens, alle Gefühle des Menschenherzen, alle Gebiete des Denkens und Wollens umschlösse, die nur neu gedeutet und aufgeschlossen zu werden brauchen, um die Menschheit immer wieder in tiefster Seele zu bewegen, zu trösten und zu erheben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz von UHDE 1848-1911 Sein Leben und seine Kunst
Uhde VS 013 Studie zu einer „Flucht nach Ägypten“. Kohlezeichnung

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Uhde VS 014 Kreidestudie zu einem „Gang nach Emmaus“

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Uhde VS 015 Fritz von Uhde, Ende der 1899er Jahre Nach einer Aufnahme von Gebr. Lützel in München

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