Vierte Fortsetzung

Der Künstler, dem zu Anfang Zweifel gekommen waren, ob es überhaupt eine Aufgabe der Malerei sei, eine rein geistige Potenz wie Christus zum Gegenstand eines Werkes der Malerei zu machen, entschloss sich, noch vor Schluss des Jahres 1884, ein zweites religiöses Bild zu malen, die Szene aus dem Lukas-Evangelium, da der Auferstandene mit den Zween, denen er auf ihrem Wege nach Emmaus genahet war, zu Tische sitzt, das Brot nimmt und es mit Dank an Gott bricht, bei welcher Handlung den beiden die Augen aufgehen und sie Christum in ihrem Wandergenossen erkennen (S. 53 u. 54). Man erinnert sich der drei Bilder von Rembrandt, die das gleiche Thema behandeln, und von denen das Louvrebild fraglos das schönste ist. Während Christus dort der aus eigner Kraft und Göttlichkeit leuchtende Mittelpunkt der Darstellung ist, benutzt Uhde wieder das durch ein unsichtbares Fenster in die Wirtsstube fließende Licht, um die Erscheinung des Heilandes mit einem verklärenden Schein zu umgeben. Er erreicht seine Wirkung also auf eine zwar poetische, aber doch absolut natürliche Weise und hat, indem er in das Antlitz Christi den Ausdruck eines nach schweren Leiden wieder zum Leben Erstandenen gelegt, eine ebenso unirdisch hoheitsvolle wie überzeugende Verkörperung des Auferstandenen geschaffen. Und er tat wohl daran, dass er das ungläubig-frohe Überraschtsein der Jünger mit fast den gleichen Gebärden ausdrückt wie der große Seelendeuter Rembrandt. Nur dass er darauf verzichtet hat, den unbeschreiblichen Blick zu malen, mit dem bei Rembrandt der eine das Wunder langsamer als sein Freund begreifende Jünger das Bild des Heilandes förmlich in sich hineinschlingt. Am Ende verhalten sich die beiden braven Handwerker, die bei Uhde mit dem Auferstandenen speisen, in ihrem Gebaren durchaus so, wie Leute ihres Schlages etwas Unbegreifliches aufnehmen. Dass die Komposition mit der Rembrandtschen nicht die geringste Ähnlichkeit besitzt, braucht wohl kaum erwähnt zu werden.

Den eingeschlagenen Weg setzt Uhde 1885 mit dem der Berliner Nationalgalerie gehörenden Werke „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast!“ (S. 61—63), fort, von dem eine im gleichen Jahre entstandene Variante existiert (S. 65), die das Musée du Luxembourg in Paris besitzt. Auf dem ersten Bilde ist eine große helle Bauernstube dargestellt mit dem Blick in einen kleineren Raum, und Christus tritt, von dem Hausherrn ehrfurchtsvoll zum Platznehmen eingeladen, mit einer halb sprechenden, halb segnenden Geste an den Tisch. Bei dem zweiten Bilde spielt sich der Vorgang in der niedrig engen Stube eines Arbeiters ab, Christus, noch im Mantel, steht bereits, wie die ganze Familie, am Tisch und spricht mit der traditionellen Handbewegung der Geistlichen den Segen über die aufgestellte dampfende Schüssel. Beide Bilder lassen eine ganz erhebliche Steigerung der künstlerischen Ausdrucksmittel erkennen. Auch ist des Künstlers Psychologie noch reicher und reifer geworden. Gerade nach dieser Seite erscheint das Berliner Bild zweifellos als das bedeutendere. Die Lichtführung bietet durch den freieren Raum und das Motiv der das Fenster in seinem unteren Teil verdeckenden Gestalten mehr Abwechslung und Reiz. Sodann gibt die ganze Situation Gelegenheit zu einer mannigfaltigeren Charakteristik. Der etwas ungelenken Ehrfürchtigkeit des Mannes ist die anmutige Gebärde der die Schüssel auf den Tisch setzenden Hausfrau und ihr fast misstrauisch beobachtender Blick auf den Fremdling entgegengestellt. Die starrenden Kindergesichter sind prächtig individualisiert, und der Großvater verkörpert ohne Aufdringlichkeit den mehr festen als lebendigen Glauben der geistig Armen. Und der Künstler hat in diesem Bilde die Schwierigkeit nicht umgangen, den Heiland in einer von der Kunst noch niemals geschilderten Aktion zu geben. Mit feinem Gefühl lässt er ihn leisen Schrittes zu den Betenden treten und mit einer ruhigen Handbewegung sagen: „Hier bin ich!“ Wie nahe lag die Gefahr der Theatralik oder eines falschen Pathos! Wenn dieser Christus durch den geistig-hoheitsvollen Ausdruck seiner Züge
und sein talarähnliches Gewand von der Umgebung unterschieden ist, so hat Uhde wiederum verstanden, durch die karge graublaue Farbe der Gewandung eine Art Übereinstimmung mit jener herbeizuführen. Das Pariser Bild, wesentlich kleiner, wirkt durch den engeren Raum des Zimmers und
die Anordnung der Personen um den Tisch kompositionell allerdings geschlossener; aber bis auf das wundervolle, in frommer Hingabe dem Heiland zugekehrte Gesicht der betenden jungen Frau erscheint das Seelische in diesem Werke weniger stark als in dem ersten Bilde.


Im Jahre 1886 vollendet Uhde dasjenige seiner religiösen Bilder, das wohl jetzt ziemlich allgemein für den Höhepunkt seiner Leistungen auf diesem Gebiete angesehen wird: „Das Abendmahl“ (S. 69—72). Diese Ansicht hat sich freilich erst mit der Zeit eingestellt. Das Bild, das vor der Öffentlichkeit zuerst in der Berliner Jubiläumsausstellung von 1886 erschien, wurde vom großen Publikum anfangs mit vollkommener Verständnislosigkeit aufgenommen. Man war vor allem entsetzt über die vulgäre Auffassung der Apostel und sprach von einer Räuberbande. Die Erfahreneren mussten allerdings anerkennen, dass die größte Schwierigkeit für eine derartige Darstellung, die kompositionelle Anordnung der Erscheinungen, ausgezeichnet überwunden war, ja, dass hier eine völlig neuartige Lösung des Problems vorlag. Die rein malerische Idee, die Lichtquelle in den Hintergrund des Bildes zu verlegen, bringt Uhde als erster für diesen Vorwurf in Anwendung. Er erreicht dadurch, dass er den geistigen Mittelpunkt des Bildes, den dem Fenster gegenüber sitzenden Christus, auch zu dessen malerischem macht. Außerdem gewinnt er die Möglichkeit, durch das rückwärtige Fenster die Erscheinungen der Apostel in eine abwechslungsreiche, den sinnlichen Reiz der Darstellung allein schon hebende Beleuchtung zu setzen. Wie die Ausschnitte bezeugen, besteht auch dieses Werk wieder aus mehreren einzelnen Bildgruppen oder Motiven, die des Malers und des Psychologen Kunst zu einer Einheit verschmolzen hat. Wie Gebhardt in seinem 1870 entstandenen „Abendmahl“, vermied Uhde ebenfalls, Kleider für die Jünger Christi zu wählen, die dem Bilde einen bestimmten Zeitcharakter aufdrücken könnten. Die freie Art der Gewandung fällt jedoch umso weniger auf, als darin Farben vorherrschen, die in der Gegenwart von Handwerkern, Arbeitern und Bauern für ihre Kleidung bevorzugt werden, also unbestimmtes Grau, Blau und Braun; während Christus auf dem Bilde ein braunrotes Gewand trägt und sein über die Stuhllehne gebreiteter Mantel ein Blau zeigt, das mit dem Graublau an andern Stellen des Gemäldes korrespondiert. Uhde hielt für sein Werk an der Auffassung fest, die ja auch mit dem Bericht des Evangeliums übereinstimmt, dass Christi Jünger Menschen niederen Standes waren, die ja für soziale Ideen immer leichter zu gewinnen sind als die Vertreter höherer Bildungen. Auf diese Weise gewann er schon den Vorteil, ausdrucksvollere Gesichter, Züge, die nicht fähig sind, ihre wahren Empfindungen zu verbergen, bringen und seinem Bilde damit den tiefen geistigen Gehalt und gemütsreichen Charakter geben zu können, die ihm als höchstes Ziel vorschwebten. Wenn man nichts von Christus wüsste und dem Abendmahl — Uhdes Bild lässt keinen Zweifel darüber, dass es sich hier um eine Abschiedsstunde, um ein letztes Beisammensein von Menschen handelt, die an einem aus ihrer Mitte mit voller Begeisterung und innigster Liebe hängen und nun aus seinem Munde ein mit Ratschlägen für ihr ferneres Leben versehenes Lebewohl vernehmen. Der Christgläubige aber erkennt in der Darstellung sofort den Augenblick, da Jesus, nachdem ihn eben einer der Jünger noch gefragt hat: „Herr, bin ich's?“, sich anschickt, die Worte zu sprechen: „Das ist der Kelch, das Neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird“, und hat den stärksten Eindruck von all den wehmütigen, verzagten und zugleich hingebenden Blicken, die sich auf den richten, der die Sünde der Welt auf sich nehmen und sein Leben hingeben will für seine Knechte. Es sind gewiss Darstellungen des Abendmahls vorhanden, die äußerlich bedeutender wirken als dieses, aber sicherlich gibt es keines, dass den rein menschlichen Vorgang der deutschen Auffassung gemäßer, edler und tiefer zum Ausdruck brächte und das in der künstlerischen Gestaltung so wahr und natürlich zugleich wäre. Dieses unvergleichliche Bild ist außerdem aber ein unangreifbares Zeugnis dafür, dass Uhdes Religiosität aus einem reinen und gläubigen Herzen kommt und dass er die heilige Gestalt Christi nicht aus eigennützigen Gründen mit der Welt der Gegenwart in Berührung gebracht hat. Das ganze neunzehnte Jahrhundert hat kein religiöses Bild gesehen, dass so viel echte und reine Gefühlswerte enthält wie dieses Abendmahl. Uhde selbst konnte diese Leistung nicht mehr übertreffen, obwohl er in seinem der Stuttgarter Galerie gehörenden zweiten Abendmahlsbilde (S. 204—206) wieder eine neue eigenartige Lösung des Themas zu geben sucht. Hier ist die Anordnung der Personen gedrängter. Christus sitzt unter dem Fenster, durch das ein kühles Abendlicht fällt, und eine auf dem Tisch brennende Lampe bringt mit diesem und ihrem warmen Schein den malerischen Effekt des Double-lumière hervor; aber trotz mancher schönen Einzelheit fehlt diesem zweiten „Abendmahl“ der tiefe und bezwingende seelische Ausdruck jener ersten Schöpfung. Das Jahr 1880 brachte aber Uhde nicht nur das Gelingen dieses Meisterstückes, sondern auch ein schweres Schicksal. Seine geliebte Gattin, die, mit ihm vereint, nur Jahre voll Sorgen, ängstlicher Erwartungen und schmerzlicher Enttäuschungen kennen gelernt hatte, die Mutter seiner drei kleinen Töchter wurde ihm durch den Tod genommen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz von UHDE 1848-1911 Sein Leben und seine Kunst