Fünfte Fortsetzung

Der Künstler suchte, wie alle Menschen von Tatkraft, Trost in der Arbeit. Deren Frucht war die auf der Berliner Akademischen Kunstausstellung von 1887 zum ersten Male ausgestellte „Bergpredigt“ (S. 75 u. 76). Nach längerer Pause wieder einmal ein Freilichtbild. Als solches jedoch nicht sehr überzeugend. Uhde konnte nicht auf einen selbst empfangenen Eindruck zurückgehen und musste sich die ganze Situation im Atelier zurechtlegen. Der äußerliche Mangel an Natur und Wahrheit aber ist ausgeglichen durch ein feierliches Abendlicht, in dem alle Farben so ruhig sich verhalten wie die Menschen, die nach getaner Arbeit in langem Zuge zu der Stelle beim Dorf strömen, wo der fremde Mann sitzt und dem andächtig zu seinen Füßen knienden Volke von den Seligkeiten der Armen und Herzensreinen spricht. Man fühlt dem elegischen und doch kraftvollen Werk an, dass Uhde in den hingebungsvollen Gestalten der Christi Worten Lauschenden seinem eignen Gottvertrauen nach dem harten Schlag, der ihn getroffen, ein Denkmal errichten wollte. Der Künstler empfindet indessen jetzt auch wieder das Bedürfnis, mit dem Leben, wie es ist, Berührung zu suchen. Im Jahre der „Bergpredigt“ ist jene köstliche „Kinderprozession im Regen“ (S. 77) entstanden, die wie eine Huldigung an Uhdes erstes Künstlerideal, an Menzel, anmutet. Es muss dem Maler eine hohe Genugtuung gewesen sein, dieses Vorbild ziemlich erreicht, ja es in gewisser Beziehung, wenigstens was die Einheitlichkeit der Wirkung und die Kinderschilderung angeht, sogar übertroffen zu haben. Das Bild ist voller Bewegung und Leben und durch das beherrschende Weiß von eigenartigem koloristischem Reiz. Das der Münchner Fronleichnamsprozession entnommene Motiv haben sich nach Uhdes Vorgang manche jener Münchner Maler, denen es nie gelingen will, selbst neue Motive zu finden, mit Begeisterung angeeignet und ohne Anwendung von Regen redlich verwässert. Auch das liebenswürdige Bild von Uhdes ältestem Töchterlein mit der Puppe (S. 78), gegen das Licht gemalt, stammt aus diesem Jahr.

Es schien dem Maler jetzt an der Zeit, mit dem religiösen Thema einmal zu wechseln. Der Tod seiner Gattin und die Sorge um die unerzogenen Kinder im Hause mag ihn wohl auf das Thema Mutter und damit auf die Mutter über allen Müttern, Maria, gebracht haben. Er als Protestant und seiner künstlerischen Überzeugung nach konnte natürlich keinen Augenblick in Versuchung geraten, der Mutter des Heilandes jene erhöhte Seelen- und Geisteskraft beizulegen, mit der er seinen Christus ausgestattet hatte. Mit der Darstellung der Mütterlichkeit allein wollte er sich die Herzen gewinnen. In Erinnerung an die Jeanne d'Arc von Bastien-Lepage, mit dem Uhde jetzt eine unmittelbare künstlerische Verwandtschaft fühlte, hatte er sich vorgenommen, zunächst einmal eine „Maria im Grünen“ zu malen, die der Seligkeit entgegendenkt, ihr Kind in den Armen zu halten. Das Bild ist nie gemalt worden, aber die Studie eines jungen Bauernmädchens im Kohlgarten, jetzt im Besitz des Königsberger Museums (S. 79), lässt ahnen, was der Künstler daraus gemacht hätte. Dieses Mädchen im Grünen, einige frühere Kinderstudien (S. 48, 49 u. 56) sowie das Bild eines lesenden Mädchens (S. 60) zeigen deutlich, wie nahe Uhde als Maler jenem französischen Meister, der gleich ihm unendlich viel für die Popularisierung der Hell- und Freilichtmalerei getan, zeitweise gestanden hat. Der Künstler entschloss sich, das Thema zunächst einmal in einer Gestalt zu fassen, die sich mit der Volksvorstellung deckt, und wählte die Darstellung der „Heiligen Nacht“ (S. 81—86), der er, um seinem Bedürfnis nach einem poetischen Ausklang genugzutun und das Wunder der Geburt Jesu ebenfalls zu betonen, zwei Flügelbilder mit den herbeieilenden Hirten und den Halleluja singenden Engeln hinzufügte. Uhde hat sich leider durch die üble Aufnahme des Bildes auf der Münchner Jubiläumsausstellung 1888 bewegen lassen, mit dem Werke verschiedene Änderungen vorzunehmen, von denen man nicht behaupten kann, dass sie diesem zum Vorteil gereicht haben. Gewisse Gegner seiner Art fanden, dass der Künstler seiner Madonna die Züge einer Dirne gegeben habe, die in einer Spelunke ihr Kind zur Welt gebracht; tadelten, dass Frauen und Kinder mit den Hirten kommen, und ereiferten sich über die Engel, die wie lustige Kinder aussehen und sich so benehmen. Um den Unzufriedenen, zu denen er schließlich selbst ein wenig gehörte, genugzutun, übermalte Uhde das Mittelbild, machte das verhärmte Gesicht der Madonna, die als arme Zimmermannsfrau gedacht ist, reizvoller, löste ihre im brünstigen Gebet gefalteten Hände, um dafür die traditionelle Art der Kindesanbetung zu setzen, vervollständigte ein wenig die Toilette des armen Weibes und ließ den Schein der hellen Winternacht voller durch das Fenster im Hintergrund der Scheune strömen, damit Joseph, der die Nacht mit seinen persönlichen Zweifeln sitzend auf der Treppe verbringt, in ein besseres Licht gesetzt würde. Die Flügel, die ihm in der Aussteilung nicht farbig genug gewirkt hatten, malte er ganz neu, wobei sie nicht gewonnen haben, am wenigsten der mit dem Engelkonzert, das nun einen Zug ins Barocke erhalten hat. Zum Schluss suchte er durch dazugemalte Bogen den Triptychoncharakter des Werkes noch besonders anschaulich zu machen. Als die Dresdner Galerie das Werk 1892 in München erwarb, waren jene Bogen durch Umrahmen des Bildes bereits wieder entfernt, so dass auf diese Weise drei verschiedene Fassungen der „Heiligen Nacht“ der Öffentlichkeit bekannt geworden sind. Nun, auch in seiner letzten Fassung, neben der man jetzt durch einen glücklichen Zufall die erhaltenen Flügel der ersten sehen kann, ist es ein Werk, das dem Künstler in hohem Grade Ehre macht und für seine großen Malereigenschaften wie für sein tiefes poetisches Empfinden und seine individuelle Gestaltungskraft zeugt. Die Erscheinung der jungen Mutter, die, aus dem Schlafe erwacht, sich im Bette aufrichtet, glückselig das auf ihrem Schöße schlummernde Kind betrachtet und ihren Schöpfer im heißen Gebete anruft, dass er es in seinen gnädigen Schutz nehmen möge, ist eine der schönsten und innigsten Gestalten, die Uhde geschaffen, und ein durchaus neuer Typus der Madonna. Und wenn deren Umgebung auch in der gemeinen Vorstellung als ärmlich gelten mag — des Malers Kunst hat sie mit den Reizen des doppelten Lichtes auf die lieblichste Art zu schmücken und zu verschönen gewusst.


Der anfängliche Misserfolg der „Heiligen Nacht“ scheint für Uhde die Veranlassung gewesen zu sein, sich wieder intensiver den Erscheinungen der Wirklichkeit zuzuwenden. So entstehen 1888 das Bild „Zur Arbeit“ (S. 87) mit der energischen, fast an Jules Breton erinnernden Silhouette der beiden Frauen gegen eine dunstige Morgenluft, der „Schulgarten“ (S. 88) und jener „Biergarten in Dachau“ (S. 89), der, obgleich fünf Jahre vor Liebermanns „Bierkeller in Brannenburg“ (im Luxembourg-Museum) gemalt, immer mit jenem in unerfreuliche Verbindung gebracht wird. Es kann nicht genug betont werden, dass Uhde, abgesehen von seiner holländischen Reise, sich von der Beeinflussung durch den Berliner Meister durchaus freigehalten hat. Er verdankt dem Beispiel Liebermanns sein inniges Verhältnis zur schlichten Natur; im Übrigen sind beide Künstler durch Empfindung und Temperament so scharf voneinander unterschieden, dass man es durchaus vermeiden sollte, Parallelen zwischen ihnen zu ziehen. Jenen schönen Naturschilderungen schließen sich 1889 die prächtigen Bilder „Beim Ährenlesen“ (S. 91), „Auf dem Heimweg“ (S. 93), „Am Morgen“ (S. 95) und das ebenso humorvoll aufgefasste als rassige „Heideprinzesschen“ (S. 94) würdig an. Im gleichen Jahre beginnt aber auch die Reihe der nicht hoch genug zu stellenden Meisterwerke des Künstlers, die zum Gegenstand das Kinderleben der Töchter in seinem Hause haben. Wahr zu sein, genau das zu malen, was er vor sich sah, hatte sich Uhde für diese Bilder zum Grundsatz gemacht und durch dessen Anwendung malerische Kunstwerke erzielt, die in ihrer Art einzig, zugleich aber auch wundervolle Dokumente seiner ungewöhnlich feinen Empfindung für das Kindliche an sich und seiner Vaterliebe sind. Als die schönsten dieser ersten Werke dürfen wohl die „Schularbeiten“ (S. 90), „Das Bilderbuch“ (I. u. II. S. 96 u. 98), das Bild zweier Töchter (S. 99) und die unvergleichlich heitere „Kinderstube“ (S. 97) mit der blauen Tapete, den roten Vorhängen, dem gelben spiegelnden Boden und mit der lachenden Jüngsten in Rot, die in der Mitte des Zimmers ihre Puppe tanzen lässt, während die beiden älteren, ebenfalls rot gekleideten Schwestern mit dem gleichen Spielzeug bereits gesetzter hantieren. Uhde ist der Gefahr, ein in lauter verschiedene Einzelbilder zerfallendes Bild zu malen, nicht mit einem Schritt ausgewichen. Die Wahrheit stand ihm höher als die künstlerische Abrundung. Das Werk hat aber gerade durch den Verzicht auf diese einen so überzeugenden und persönlichen Charakter erhalten, dass man es nicht anders wünschen möchte. Und wie ist es voll freudigen Lichtes und reifer Malerkunst!

Von diesen genrehaften Kinderbildern bis zum Porträt war nur ein Schritt, und Uhde tat ihn, indem er 1890 die ersten Bildnisse einer jungen und schönen blonden Dame mit einer anmutig geschürzten Oberlippe, welche die prächtigsten Zähne enthüllt, malte. Nach einigen studienhaften Versuchen (S. 100) entsteht ein Bildnis, das eine künstlerische Tat ersten Ranges genannt werden darf und in der neueren Kunst in seiner Art nicht seinesgleichen hat. Uhde malte die Dame in einer schwarzen Seidenrobe gegen das Licht vor einem geschlossenen Fenstervorhang sitzend, hinter dem die Sonne glüht (S. 101). Diese Situation gab ihm Gelegenheit, den ganzen Reichtum seines Könnens und die Intensität seiner Beobachtung zu zeigen. Man glaubt zunächst nur ein interessantes Experiment vor sich zu haben, bemerkt aber bald, dass es sich um das völlig reife, in sich abgeschlossene Werk eines großen Meisters handelt, der, abseits vom großen Tross, eigne malerische Ideen verfolgt. Die Fülle der Halblichttöne in dem jungen, frischen Gesicht, auf dem flimmernden Haar und in dem Schwarz der Seide hätte auch Rembrandt nicht feiner geben können. Das Porträt fiel bei seinem Erscheinen in den Ausstellungen zwar auf, fand aber längst nicht die Würdigung, die es verdient. Es ist eines der bedeutendsten Werke, die Uhde geschaffen. Überhaupt war das Jahr 1890 eines der glücklichsten in der Produktion des Künstlers; denn außer diesem unübertrefflichen Porträt bringt es jenes Bild, das von allen seinen Leistungen wohl die populärste geworden ist, den „Schweren Gang“ (S. 103), dessen Motiv der Maler im Lauf der Jahre in vielen Variationen unter der gleichen Bezeichnung und als „Gang nach Bethlehem“, „Der Heilige Abend“ oder auch „Nach kurzer Rast“ wiederholt hat. Der menschlich ergreifende Inhalt der Darstellung — die junge Frau, die ihrer schweren Stunde entgegensieht und mit ihrem Mann über eine winterliche Straße bei sinkendem Abend, todmüde, kaum fähig, weiterzuwandern, einem Dorfe in der Ferne zustrebt oder in Schwäche an einem Zaun oder am Mauerwerk einer Brücke lehnt, während der Mann durch die Dämmerung davoneilt, um Hilfe zu holen - rechtfertigt den Erfolg dieser Bilder beim großen Publikum ebensosehr wie die malerische Leistung an sich den Beifall der Kenner. Die Mutterschaft mit ihrer Last und Hoffnung ist etwas so Heiliges, dass vor diesem die Erscheinung eines armen Arbeiterpaares mit einer religiösen Vorstellung oder doch mit
einer biblischen Erzählung verbindenden Werke der Vorwurf der Profanntion kaum noch laut wurde. Aber Uhde hat sicherlich auch eine religiöse Bildidee niemals sorgfältiger in Stimmung gebettet. Nichts von Pathos, nichts von Arrangement, nur Gefühl und eine so außerordentliche Diskretion in jedem Moment der Darstellung, dass man die Leistung vollkommen nennen darf. Auch der Landschafter Uhde feierte in diesem Bilde, das bald eine aufgeweichte Dorfstraße, bald einen verschneiten Feldweg im winterlichen Dunst oder unter schneeschwerer Luft darstellt, einen berechtigten Triumph.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz von UHDE 1848-1911 Sein Leben und seine Kunst