Dritte Fortsetzung

Nach München zurückgekehrt, geht nun der Maler daran, die holländischen Anregungen auf das ihm Zugängliche zu übertragen. Um seiner zarten Gattin eine Erholung zu verschaffen, ist er mit ihr und dem kleinen Töchterchen in eine mehr als bescheidene Sommerfrische nach Kohlgrub gezogen. Dort ist das Bild entstanden, das seine geliebte Ehegenossin im bäuerlichen Kohlgarten mit dem spielenden Kind zu Füßen, im Schatten eines Apfelbaums, zeitungslesend, darstellt; während er selbst, an der Staffelei sitzend, die hügelige Landschaft jenseits der Straße malt (S. 39). Eine redliche Freilichtschilderung, schlicht und fein und in ihrer eigenartigen Intimität, die jede Erinnerung an Manet oder Liebermann etwa ausschließt, bereits ein ganz persönliches Werk. Das Hauptbild unmittelbar nach der holländischen Reise ist und bleibt allerdings die im vorigen Jahre in die Dresdner Galerie gelangte „Trommelübung“ von 1883 (S.43— 45), die unstreitig, wie Liebermanns gleichzeitige Schöpfungen, zu den Programmwerken der „neuen Richtung“ in Deutschland gezählt zu werden verdient. Bei seinem ersten Erscheinen wurde das Bild für eine reizlose, nüchterne Abschrift der ödesten Wirklichkeit, für ein kunstloses Produkt des plattesten Naturalismus erklärt. Der Gegenwart macht es in seiner milden Harmonie von Blau, Grün und Grau, mit seiner ruhigen Lichtfülle einen durchaus abgeklärten Eindruck. Künstler schildert treu die Wirklichkeit und steht doch über ihr, indem er alle Einzelheiten zu einer starken Gesamtwirkung zwingt. Hier tritt zum ersten Male auch eine andre Gewohnheit Uhdes zutage: eine hohe Natürlichkeit und Wahrheit dadurch zu erreichen, dass er mehrere Motive in einem Bilde vereinigt, also eine Art Kompositionsauflösung zur Anwendung bringt. Man wird dessen sofort inne, wenn man die Trommler mit den zuschauenden Kindern links und die drei im Vordergrunde rechts den Wirbel übenden Leute betrachtet, die für sich zwei vollkommen abgeschlossene Bilder ergeben, im Werke selbst allerdings durch die Figuren des Mittelgrundes vereinigt werden, und zwar auf eine höchst geistreiche Art. Lieber die glänzende Charakteristik der einzelnen Typen und die überzeugende Wiedergabe der Verrichtung des Trommelns in allen Stadien ist kein Wort zu verlieren. Menzel hätte so etwas nicht besser machen können. Der treue Bericht über das Tatsächliche hat vollkommen den Reiz einer Erzählung und macht das Bild für jeden amüsant, der Augen hat zu sehen.

Wenn in Uhdes Werdegang die Schulung bei Munkaczy, der Verkehr mit Liebermann und dessen Beispiel von großer Bedeutung gewesen sind — der wichtigste Moment seines Künstlerdaseins war ohne Frage der, als in seinem Schaffen zum ersten Male seine Individualität und damit seine Rasse zum Durchbruch kam. In diesem Augenblicke musste alles von ihm abfallen, was nicht sein war, was sich mit seinem Fühlen und Denken nicht assimiliert hatte. Dieses Ereignis vollzog sich im Jahre 1884, und das Dokument dafür bildet die Schöpfung „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ (S. 50 u. 51). Es ist bereits mitgeteilt worden, wie die Erleuchtung über Uhde kam, wie er plötzlich einen Weg vor sich aufgetan sah, der ihn zu den Zielen seiner Sehnsucht führte. Man kann dieses Werk von allen Seiten betrachten, von der inhaltlichen wie von der künstlerischen — es erweckt immer die höchste Bewunderung für des Malers gestaltende wie für seine seelische Kraft. Wer denkt vor diesem Werk noch an den französischen Ursprung der Freilichtmalerei? Das Licht, das durch die beiden breiten Fenster der Dorfschulstube strömt und sich so zärtlich auf der hellen Gestalt des kleinen blonden Mädchens sammelt, das sein Händchen mit keckem Kindermut zutraulich dem fremden dunklen Mann auf dem Stuhle reicht, beleuchtet deutsches Wesen, deutsche Menschen und einen deutschen Heiland. Wie Uhde mit diesem Bilde auf der einen Seite Protest erhebt gegen die triviale Scheinfärberei, mit welcher der angebliche Idealismus den Erlöser zu einem seelenlosen Beau gemacht hat, bringt er auf der anderen Seite die protestantische Idee von dem Gottessohn, der den Kindern, den Mühseligen und Beladenen seine besondere Liebe zuwendet, der alle Tage bei den Gläubigen ist bis zu der Welt Ende, zum Ausdruck. Dass das Bild bei seinem Erscheinen als eine Sensation aufgenommen wurde, bezeugt am besten, wie voll von innerlicher Wahrheit es ist und wie losgelöst von allen realen Beziehungen die Gestalt Christi in der Vorstellung der Menschen von damals war. Uhde darf sich rühmen, die religiöse Empfindung der Allgemeinheit mit seinem Werk in eigner Weise wiedergeweckt zu haben. Niemand kann behaupten, dass er mit der Erscheinung des Heilands despektierlich umgegangen sei. Er hat im Gegenteil einen Christustypus geschaffen, der sich mit der Auffassung der Gegenwart vorzüglich deckt, ohne dass doch die Distanz aufgehoben wäre, die den Künder des Evangeliums von dessen Bekennern trennt. Er hat natürlich auch nur einen Menschen darstellen können; aber er hat, wie es recht ist, allen Nachdruck auf dessen seelisches und geistiges Übergewicht, nicht auf Körperschönheit gelegt und auch in einem unauffällig zeitlosen Kostüm Christi zeitlose Existenz äußerlich kenntlich zu machen gesucht. Gewiss: Uhde war nicht der erste, der in dieser Zeit die Gestalt des Heilands realistisch wieder in ein Bild hineinzustellen wagte. Menzel, Liebermann und Ernst Zimmermann hatten vor seinem Bilde je einen „Christus im Tempel“ gemalt und sich dabei nach dem Vorbild der Decamps und Horacc Vernet mehr oder minder stark an das ethnographisch orientalische, wenn nicht gar an das moderne europäische Judentum gehalten. Eduard von Gebhardt setzte dieser kulturgeschichtlichen Veräußerlichung der heiligen Gestalt wieder mit Bewusstsein und aus frommem Gemüt einen Christus in germanischer Auffassung entgegen, fand aber nicht den Mut, ganz auf den historischen Aufputz zu verzichten, und ließ seinen Gottessohn in einer mittelalterlichen Umgebung wirken. Uhde allein zog ohne Rückhalt die Konsequenz und machte den Welterlöser dadurch für die Gegenwart wieder lebendig, dass er ihn handelnd zwischen Menschen der Gegenwart setzte.


Über dem gedanklichen Inhalt dieses Bildes aber, von dem Frau Schoen-Renz in Worms eine 1885 gemalte kleinere Variante besitzt (S. 64), steht noch seine unmittelbare sinnliche Wirkung auf das Gefühl. Da sind zunächst die Kinder. Vor Uhde hat sie Liebermann bereits jenseits der Anekdote, in ihrem Sonderleben unter den Menschen, in ihrem Fürsichsein geschildert. Uhdes Kindergestalten bezeichnen den Höhepunkt dieser Auffassung, weil es dem Künstler gelungen ist, ihnen auch als handelnde Personen jene Eigenschaften zu erhalten, die ihren Kinderzustand charakterisieren; ihr Dasein in Unschuld und Dummheit, ihre Zutulichkeit, Neugier und Unbeholfenheit neben einer unaussprechlichen Anmut, ihre Selbständigkeit und auch wieder Befangenheit im Verkehr mit Großen. Uhde hat die Kinder, wie seine köstlichen Kinderstudien bezeugen (S. 48, 49, 56, 58, 59), nicht nur in ihrer Erscheinung und in ihren Lebensäußerungen beobachtet, er hat auch in ihre Seelen geschaut, die so durchsichtig und so dunkel zugleich sind. Schon in diesem Sinne ist sein „Lasset die Kindlein zu mir kommen!“ ein Meisterstück der Psychologie, das alle, die für das Wesen von Kindern Empfindung besitzen, in hohem Grade entzücken muss. Ein weiteres wirksames Element in dem Bilde und ein rein künstlerisches ist das Licht. Mit der größten Einsicht hat es der Maler als benutzt, wie er es in der höchsten Stärke auf dem blonden Köpfchen der Kleinen gesammelt hat, die dem fremden Mann so vertrauensvoll das Händchen reicht, wie er es die Hand und das Haupt des gütigen Heilandes und das in seinen Schoß geschmiegte Kind kosen und die andern größeren und kleineren Kinder mit seinem verklärenden Glänze umspielen lässt. Mit dem ewig verständlichen und wirkenden Reiz der Natürlichkeit und mit dem Zauber des Lichts, über den der Maler später immer mehr ein Gebieter geworden ist, hat sich dieses Bild an der Spitze von Uhdes religiösen Darstellungen allmählich, aber umso sicherer die Herzen erobert.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz von UHDE 1848-1911 Sein Leben und seine Kunst