Sechste Fortsetzung

Das Jahr 1891 bringt zunächst wieder einige Interieurs mit ruhigen, vor der Natur entstandenen Existenzschilderungen voll feiner Lichtwirkungen, unter denen „Die alte Näherin“ (S. 108) und das Bild der jungen „am Fenster“ stehenden und in die Straße hinabschauenden jungen Maschinennäherin (S. 110) — eines der prächtigsten Werke des Künstlers — wohl am höchsten zu stellen sind. „Die Flucht nach Ägypten“ (S. 112 -113) kann füglich noch als Variante des „Schweren Ganges“ angesprochen werden. Als neue Themen aber erscheinen „Der Gang nach Emmaus“ (S. 111) und der „Ostermorgen“ (S. 114), die Uhde im Laufe der Zeit dann von sehr verschiedenen Seiten angepackt hat. Aus der Erwägung, dass man den Inhalt von Wechselreden nicht malen kann, hat er in dem „Gang nach Emmaus“ im Wesentlichen nur das Bild einer friedvollen Abendlandschaft gegeben und in dem „Ostermorgen“ mit den drei in tiefer Betrübnis daherwandelnden Arbeiterfrauen durch die den Feldweg säumende melancholische Kirchhofsmauer versucht, dem Bildertitel gerecht zu werden. Und schließlich ist auch in seinen „Jüngern von Emmaus“ (S. 118), trotz der redenden Gesten Christi und des einen Jüngers, abgesehen natürlich von der schönen Landschaft, nicht viel mehr als eine Illustration jenes biblischen Ereignisses zu sehen. Indessen hatte Uhde wieder größere Pläne. Als einen Auftakt dazu lässt sich die 1892 entstandene neue Fassung des Themas „Komm, Herr Jesu, sei unser Gast!“ (S. 119) ansprechen, ein Werk übrigens, das mit seinem Sonneneffekt die Leistungen des Künstlers nach 1901 bereits ahnen lässt. Mit Christus, dem der junge Arbeiter die Tür öffnet, kommt zugleich das lebengebende Licht in das Haus des Armen. Wundervoll ist der beglückte Ausdruck der Frau und der zwischen Neugierde und Scheu schwankende bei den Kindern. Das Werk, dem er sich danach zuwendet, ist „Die Verkündigung an die Hirten“ (S. 120 u. 121) und darum bedeutungsvoll in seinem Lebenswerk, weil er mit ihm den ersten Schritt tut zu einer Art von Monumentalmalerei. Wenn man will, kann man in diesem fast unvermittelt auftauchenden Entschluss eine Konzession an seine Umgebung erblicken. Uhde scheint das Gefühl gehabt zu haben, dass seine bisher in den Dimensionen mäßigen Bilder von den riesengroßen Leinwänden seiner Kollegen — man denke an Stuck, Hoecker und Exter! — erdrückt würden, und dass man ihn als Maler vielleicht unterschätze, weil er sich so selten mit richtigen großen Ausstellungsbildern sehen lasse, obgleich er doch schon in dem „Abendmahl“ und in seiner „Bergpredigt“ gezeigt hatte, was er vermochte. Es ist gewiss noch viel von dem feinen leisen Etwas in dem Bilde, das Uhde vor allen andern Künstlern voraushat, so in der zärtlichen und graziösen Gestalt des weiblichen Engels, in dem man unschwer das schöne Original seines Damenporträts von 1890 wiedererkennt, und in der nächtlichen Landschaft; aber sowohl die gewaltsame Art der Beleuchtung als die Gebärden der Hirten haben jenes Übertriebene, dass dem Barock entstammt und für das man in dem neuen München eine so große Vorliebe besitzt. Die Malerei ist in ihren Mitteln ausgezeichnet, aber im Ausdruck sicherlich nicht reicher als in Uhdes kleineren Bildern. Das Jahr 1892 scheint auch sonst ein solches der Versuche für den Künstler zu sein. Es entstehen die lieblichen Schilderungen einer jungen Mutter im Grünen an der Wiege ihres Kindes, die mit Hinzufügung eines Holz sägenden oder hackenden Mannes als „Heilige Familie“ (S. 122 U. 125) gehen, und die ziemlich äußerlich geratene „Verstoßung der Hagar“ (S. 130), aber auch das ausgezeichnete, lebendige „Bildnis Max Liebermanns“ (farbige Wiedergabe S. 123). Und man kann in dieses Jahr vielleicht auch noch die Bilder setzen, in denen Uhde eine Weinende mit den Händen vor dem Gesicht (S. 132) dargestellt hat. Ein Motiv, dass in den folgenden Jahren in mancherlei Variationen vielfach wiederholt wird, wobei der Künstler zuweilen leider in die bedenkliche Nähe der Novellenmalerei geraten ist.

Auf dem sicheren Boden der Wirklichkeit und seiner Individualität sieht man den Maler wieder 1893. Da ist vor allem das lebensgroße meisterhafte Bildnis des Münchner Hofschauspielers Alois Wohlmuth in salopper Hauskleidung beim Studieren einer Rolle (S. 135). Ein Glanzstück von eindringlichster Charakteristik, bei weiser Vermeidung alles Überflüssigen und Nebensächlichen. Die Erscheinung einer bestimmten Persönlichkeit absolut ins Typische erhoben. Dann kann das Bildnis von Uhdes beiden ältesten Töchtern, die, in dunkelblauen Kleidern, die eine mit einer lichtblauen, die andre mit einer lehmfarbenen, rotbesetzten Schürze, an einem Gartentisch im Grünen sitzend (5. 141), gemeinsam ein Buch betrachten, im reichbewegten Sonnenlicht eines warmen Sommertages, auf den schönen Akkord von Grün, Blau und Gelb gestellt, nicht genug bewundert werden. Beide Werke zeigen den Maler Uhde auf dem Gipfel eines reifen, großen, jeder Aufgabe gewachsenen künstlerischen und psychologischen
Vermögens.


Diese Wendung zum Positiven macht es erklärlich, warum der Künstler von jetzt ab in seinen religiösen Bildern schwächer wird, warum nun vielfach äußerliches Beiwerk dazu dienen muss, das auszudrücken, was Uhde früher mit der ganzen Inbrunst seiner Empfindung aus einem reichen Herzen sagte. Aber obschon ihn die Aufgaben der religiösen Malerei künstlerisch nicht mehr reizen, weil es ihn verlockt, der Natur jetzt erst einmal wieder ganz nahe zu kommen, um sich in neuer Weise mit ihr auseinanderzusetzen, möchte er doch seine Führerstellung auf jenem engeren Gebiet nicht einbüßen und fährt fort, Bilder biblischen Inhalts zu malen. Da produziert er die „Heilige Nacht“ mit dem auf einem umgestürzten Schubkarren ein Süppchen auf dem Spirituskocher bereitenden alten Manne (S. 137), die allein durch die Landschaft bedeutungsvolle „Flucht nach Ägypten“ (S. 150). Auch von der zweiten Fassung des „Ostermorgens“ (S. 144) möchte man behaupten, dass der Vorgang selbst viel weniger warm empfunden ist als der Hauch des Frühlings in dem verwilderten Garten. Und wenn der Meister in seinem der Neuen Pinakothek in München gehörenden Bilde „Noli me tangere“ (S. 145) dem Gesicht der Maria von Magdala auch einen wundervollen, zwischen Erstaunen, Trauer und Freude schwebenden Ausdruck zu geben vermocht hat - die Erscheinung Christi mit der elegant-zierlichen Handbewegung des Zurückweisens hebt die innerliche Wirkung des Bildes bis zu einem gewissen Grade auf und hinterlässt den Eindruck des Ungefühlten, wie man ihn wohl vor Altarbildern der Barockmaler hat. Indessen von dem Wunsche beseelt, den Zeitgenossen ad oculos zu demonstrieren, dass auch er jederzeit fähig sei, „Kunst großen Stils“ zu machen, und den Vergleich mit gewissen andern Münchner Berühmtheiten nicht zu scheuen brauche, fährt Uhde in dieser Art fort. Man sieht den Maler des hellsten Lichtes und der durchsichtigsten Schatten eine von düsterem Fackelschein überleuchtete, schwärzliche, an Tintoretto gemahnende „Grablegung Christi“ (S. 148 u. 149) hervorbringen, sieht den feinsten Lyriker unter den deutschen Malern sich an einem seiner Begabung fremden pathetischen Stoff versuchen. Dass ein großer Meister auch in seinen Irrtümern noch die kleinen Talente weit hinter sich lässt, beweist natürlich diese „Grablegung“ sowohl als das im gleichen Sinne 1895 gemalte Bild „Um Christi Rock“ (S. 157 — 159), aber innerhalb Uhdes Lebenswerk kann man diese Schöpfungen, in denen er zwar nicht die Macht seiner Hand, jedoch bestimmt sein innerstes Wesen, die eigentlichen Ziele seines künstlerischen Strebens und seine bisherigen Anschauungen verleugnet, unmöglich sehr hochstellen. Die Idee, dass er andre auf ihrem Gebiet übertreffen müsse, hat den Künstler längere Zeit nicht losgelassen. Er produziert auch später noch einige dieser barocken „Galeriestücke“, wobei, sozusagen nebenbei, eine so prächtige malerische Leistung wie „Der Mohrenkönig“ von 1894 (S. 142) mit dem wundervollen roten Gewand und der gleißenden Krone entsteht.

Während dieser Kämpfe mit sich selbst hatte Uhde aber schon 1893 ein neues biblisches Thema gefunden, das ihn, seiner Wesensart nach, stark anziehen musste, ihm auch gestattete, unmittelbar vor der Wirklichkeit gemachte Beobachtungen zu verwerten: Die Geschichte des jungen Tobias. Dem Lyriker in Uhde lag natürlich der Abschied des Jungen von seinen Eltern als Bildidee am nächsten, und er hat ihn mehrfach behandelt, am reizvollsten wohl in der ersten Darstellung, dem schönen Freilichtbilde der Liechtensteingalerie (S. 131), wo der Knabe mit dem Engel eben davongeht und sich noch einmal nach den in der Sonne unter einem Baume stehenden, ihm betrübt nachblickenden greisen Eltern und dem väterlichen Hause umschaut, und in dem 1897 entstandenen Gemälde (S. 200 u. 201), darauf man die auf der Haustreppe stehenden Eltern dem schon zur Wanderschaft gerüsteten blonden Liebling tausend gute Lehren mit auf den Weg geben sieht, während der himmlische Wanderkamerad in weißem Kleide wartend an der offenen Tür steht, durch die der sonnige Tag und der grüne Garten in den dämmerigen Treppenflur leuchten. Den übrigen Tobiasbildern Uhdes fehlt dieses seelische Moment mehr oder minder. Die Landschaft bleibt die Hauptsache, und die Gestalten der Legende bilden nur die Staffage darin.

Im Jahre 1895 beschäftigt sich der Künstler zum Teil mit der Neugestaltung früherer Vorwürfe. Die „Ruhe auf der Flucht“ (S. 153) kehrt in einer rein realistischen und darum wirksameren Auffassung wieder; des „Ostermorgens“ zweite Fassung wird unter dem Bildtitel „Weib, warum weinest du?“ (S. 154) eindringlicher gestaltet — Uhde benutzt diese endgültige Lösung später für das Bild des Wiener Hofmuseums (S. 155) — , und die „Flucht nach Ägypten“ (S. 156) erhält mit dem über einen Waldhügel dahinziehenden Paar eine Gestaltung, die etwas von Altdorferscher Poesie hat. Einen Hauch von dessen Geist meint man auch in der Neuschöpfung dieses Jahres, in den „Weisen aus dem Morgenlande“ zu spüren (S. 160 u. 161), die der mit ihrem Kinde im Sonnenschein am Fenster sitzenden Jungfrau ihre Gaben bringen; zum mindesten in der holdseligen Erscheinung der Maria und in der Schilderung des ängstlich äugenden Kindes. Während die Gabenbringer trotz ihrer annähernd modernen Tracht etwas Gesuchtes haben. Der Künstler hat die Märchenstimmung, welche die Gestalten jener Magier nun einmal umwittert und die durch eine realistische Darstellung kaum herauszubringen sein dürfte, in dem im gleichen Jahr entstandenen „Ritt der heiligen drei Könige nach Bethlehem“ (S. 175) und in dem 1896 gemalten figurenreichen Bilde „Die heiligen drei Könige erblicken den Stern“ (S. 176) mit Hilfe phantastischer Kostüme und stimmungsvoller Landschaften dafür umso glücklicher getroffen. Außer dem Bilde „Um Christi Rock“, von dem schon gesprochen war, hat Uhde in dieser Zeit noch ein paar Porträts jener blonden Dame gemalt, deren schöne Erscheinung seit dem Jahre 1890 öfter in seinem Oeuvre wiederkehrt. Das Beste dürfte jenes sein, worauf sie von rückwärts, mit den Händen auf dem Rücken, das anmutige Profil zeigend, in einem braungrauen Kleide vor einem braunen Hintergrund dargestellt ist (S. 162 u. 163), ohne doch an malerischem Reiz jene wunderfeine lebensgroße Bildnis-Studie von 1892 (S. 129) zu erreichen, in der Uhde das in dem Porträt von 1890 gelöste Beleuchtungsproblem von einer anderen Seite zu fassen suchte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Fritz von UHDE 1848-1911 Sein Leben und seine Kunst