Moses, der Sohn Josephs von Sukowiborg

Als Joseph von den Trabanten des Fürsten fortgeschleppt war, als in seinem geplünderten Hause wieder Ruhe herrschte, kroch sein Knabe von dem Boden herunter, auf dem er sich, dem Gebote des Vaters gehorsam, versteckt hatte. Der Vater wird wiederkommen, tröstete er sich und wartete Stunde auf Stunde in dem verwüsteten halbzerstörten Hause — aber der Vater kam nicht wieder. Die Bauern und Juden, die vor ihrem Fürsten geflohen waren, kehrten nach und nach in das Dorf zurück; der verlassene Knabe lief auf die Straße und fragte weinend nach seinem Vater.

Armes Kind! sagte eine alte Bauersfrau, ich war die Erste, die sich wieder in das Dorf gewagt hat, und sah wie die Trabanten des Herrn deinen Vater zwischen ihren Pferden fortrissen; sie trabten den Weg nach Mirz.


Nach Mirz! schluchzte der Knabe, ich will ihm nach!

Stunden lang war der Kleine gelaufen, seine Füße waren wund geworden, und müde hinkte er weiter. Da fand ihn ein Wanderer; schwarze Haare, das dunkle Auge, die Tracht verrieten dem Knaben den Glaubensgenossen. Doch war der Fremde reinlicher, besser bekleidet, als es die Juden in den Dörfern und kleinen Städten Polens zu sein pflegten.

Der Knabe erzählte ihm, wie es seinem Vater ergangen und wie er ihn in Mirz aufsuchen wolle.

Jener schüttelte unmutig den Kopf. Wie heißt du? fragte er weiter.
Moses, der Sohn Josephs von Sukowiborg.

Moses, so hieß unser großer Lehrer, der Gottesglauben und menschlichen Sinn über die Welt gebracht hat. Geh mit mir, mein Kind, mein Weg führt mich auch nach Mirz. Ich will dir helfen, deinen Vater aufzusuchen.

Ihre Wanderung dauerte lange; oft trug der Fremde den schwachen Knaben eine Strecke weit, bis er, selbst ermüdet, ihn wieder weiter gehen lassen musste. Die Nacht blieben sie in einem elenden Dorfe, und erst am Abende des zweiten Tages konnte der Fremde mit seinem kleinen Gefährten die Stadt erreichen. Er eilte, dem Kinde in einem Wirtshause Ruhe zu verschaffen, und ging dann selbst auf die Straße, um sich nach dem Vater seines Schützlings zu erkundigen.

Joseph von Sukowiburg? antwortete ein Jude, den er auf der Straße traf: wir handeln eben um des armen Mannes Leiche mit dem Richter. Der ist ein wahrer Haman, ein grausamer Feind Israels; der Herr des Himmels möge uns einst an ihm rächen!

Und in der Tat hatte der Richter einen schmählichen Handel mit der Leiche getrieben. Er hätte die beiden Ältesten der jüdischen Gemeinde zu sich beschicken und ihnen eröffnet: ein Verbrecher ihres Glaubens sei im Kerker gestorben, und er müsse ihm eigentlich dem Gesetze nach unter dem Galgen einscharren lassen; indessen wolle er ihrer Gemeinde diesen Schimpf ersparen, wenn sie ihm zwanzig Dukaten Lösegeld zahlten, die er unter die Armen verteilen wolle. Die Ältesten fühlten die Verpflichtung den Verstorbenen ehrlich und den Vorschriften ihres Glaubens gemäß zu begraben; aber die Summe, welche ihnen der Habsüchtige auferlegte, war ihnen unerschwinglich. Nach langem Hin- und Herreden begnügte sich der Richter mit zehn Dukaten und gab ihnen, obgleich es nach seinem Mittagessen und also gegen sein Gelübde war, eine schriftliche Erlaubnis, am andern Morgen die Leiche aus dem Kerker abzuholen und auf dem jüdischen Gottesacker zu begraben.

Am andern Morgen brachte der Fremde den jammernden Knaben an die Leiche seines Vaters, die seine Glaubensgenossen wuschen und mit dem Totenhemde bekleideten.

Auch der Rabbine der Gemeinde war bei diesen Vorbereitungen zum Begräbnisse gegenwärtig. Dem alten Manne graute es in dem furchtbaren Keller tief unter der Erde. Menschen lassen hier Menschen lebendig vermodern! seufzte er traurig.

Ja, würdiger Lehrer, wandte sich der Fremde zu ihm wie Mancher hat hier in Fieberhitze, in Wahnsinn geendet, wie mancher Schrei der Verzweiflung ward hier von Gott allein gehört! Da in der Wand steht eine lateinische Inschrift: Homo homini diabolus — Der Mensch ist dem Menschen ein Teufel. Der sie geschrieben, war wohl arg gequält!

Ihr versteht die Sprache des alten Roms? Woher seid Ihr der Ihr ein Fremder in dieser Stadt?

Mein Vater, würdiger Lehrer, war ein Kaufmann in der Stadt Wilna, ich habe ihn früh verloren. Drang nach Wissen, nach dem Studium von der Vergangenheit unseres Stammes trieb mich unter die Schüler, die dort um die weisen Rabbinen, um die Hüter der Gesetze versammelt sind. Während der Freistunden suchte ich dann wohl andere Kenntnisse zu, erwerben, mich in alten Sprachen zu üben, und so lernte ich Manches von Studenten, die dort, ob auch aus anderen Quellen wie wir, Wissen und Erkenntnis schöpften.

Männer des Wissens und der Wahrheit hat es in allen Ländern gegeben, seit Anbeginn der Tage, sagte der alte Rabbi; zählen doch die großen Lehrer unserer Vorzeit den Griechen Sokrates zu den hellsten Leuchten der Vorzeit. Doch wo wollt Ihr weiter hin von dieser Stadt?

Nach Deutschland; es soll ein Land sein, wo man die Gelehrten achtet; so eile ich dort mein Glück zu versuchen.

Der Alte nickte zustimmend mit dem Kopfe. Unter den Deutschen hat mancher polnische -Gelehrte gute Gastfreundschaft gefunden. Und die arme Waise, die Ihr mit Euch in die Stadt brachtet? Unsere Gemeinde ist arm, sehr arm, und alle Hausväter sind mit Kindern reich gesegnet.

Wenn Ihr es gut heißt, würdiger Lehrer, so nehme ich den Knaben mit mir in das deutsche Land. Es ist mir, als hätte Gott mir ihn mit auf den Weg gesandt, und wo ich eine Stätte finde, soll es auch dem kleinen Moses gut gehen.

Der Rabbine reichte dem Fremden die Hand. So sei es, und nun kommt, sie tragen den Toten auf die Stätte der Gräber.

Vier Männer brachten die Leiche auf schmuckloser Bahre aus dem Kerker; unten auf der Straße standen alle Knaben und Männer der Gemeinde, den Toten zu seiner Ruhestätte zu geleiten. Keiner war aufgefordert, aber sie erwiesen alle dem Tobten, den nur wenige gekannt, die letzte Ehre; eine Pflicht, die ihnen eine weise Vorschrift ihres Glaubens auferlegt. Die Juden kennen die Torheit pomphafter Leichenbegängnisse nicht: den Armen wie den Reichen umschließen dieselben einfachen Bretter; endet ja doch mit dem Tod alle Pracht und Eitelkeit dieser Erde, und eine richtende Zukunft beginnt.

Der Zug erreichte den Gottesacker, der weit von der Stadt entfernt war; selbst diese Stätte zur Beerdigung ihrer Toten hatte die Gemeinde teuer erkaufen müssen. Von Zeit zu Zeit lösten auf dem langen Wege die Träger einander ab; Keiner wurde dafür bezahlt, Keiner dazu aufgefordert, freiwillig trugen die Männer der Gemeinde den Toten seiner Ruhestätte entgegen. — Mühsam wurde darauf in der hartgefrorenen Erde das Grab gegraben, dann senkten sie die Leiche ein, und über der harten nordischen Erde ertönten die Gebetes die einst unter den Palmen Palästinas menschlichem Schmerz Ausdruck gegeben. Es sind schöne, fromme Gebete.

Der Fremdes sagte dem verwaisten Knaben das letzte Gebet am Grabe, seines Vaters vor, dann nahm er den Weinenden in seine Anne und trug ihn in die Stadt zurück. Homo homini diabolus, sagte er leise vor sich bin; schrieb jener Gequälte an die Wand seines Kerkers. Es muss eine Vergeltung geben, eine höhere Vergeltung für das Entsetzliche, das Menschen über ihre Mitmenschen verhängen. Das Leben würde nicht zu ertragen sein, leuchtete nicht der Trost einer ewigen Gerechtigkeit durch seine Nächte!

Einige Stunden nach diesem Begräbnisse traf ein Leibeigener des Fürsten von Rawuzky bei dem königlichen Richter von Mirz ein. Er brachte ihm ein schwarzes Band, das Todesurteil des Übermütigen für den Juden. Die schöne Gräfin Sophia Bieblinsky, die in einem Kloster von frommen Nonnen erzogen worden war, hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen ihren so rohen und übermütigen Vetter. Sein harter Sinn, seine bösen Taten, nicht das Straucheln seines Pferdes auf, der Brücke von Sukowiborg, hatten das Herz des liebenswürdigen Mädchens von ihm abgewendet.

Es ist gut, dass der Kerl mit seinem schwarzen Bande zu spät kommt, murmelte der Richter. Was hätte ich von der Exekution gehabt? Die paar Gulden Kosten, und die hätte mir der Fürst wiedergegeben calendas graecas wie wir Gelehrten zu sagen pflegen, das heißt nun und nimmermehr. Die Juden haben mir dagegen zehn Goldfüchse spendieren müssen für die Armen. Wer ist aber ärmer, als ein Diener der Justiz in diesem Lande Polen?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Freitag-Abend