Ferrara, 17. Mai.

Der heutige Vormittag galt der Kunst Paduas. Darüber zu reden, heißt um Superlative verlegen sein. Die Reliefs in der Kapelle des Heiligen zeigen die Bildhauerkunst der Renaissance auf einer erstaunlichen Höhe. Auch sie ist freilich nur ein Abglanz der Antike, und zur vollen Größe fehlt die Einfachheit, aber der Bewunderung bleibt genug übrig. Wie wenig die Künstler jener leidenschaftlich zur Antike strebenden Zeit im Grunde an den christlichen Mönch, wie sehnsüchtig sie vielmehr an die große heidnische Zeit des Volkes dachten, zeigt sich deutlich darin, daß sie die Begebenheiten aus dem Leben des Heiligen ungescheut in antikem Gewande vortrugen. Nicht einmal der Heilige selbst ist überall als Mönch dargestellt, und wo dies der Fall ist, zeigen wenigstens die übrigen Figuren rein antike Tracht, und wo es nur irgend angängig ist, wird der menschliche Körper nackt dargestellt. Auch sonst springen die Künstler mit der Legende sehr frei um und denken nur an die Schönheit ihres Werkes und nicht an den überlieferten Vorgang. So soll eines der Reliefs vorstellen, wieder der Heilige einem Jünglinge, der sich aus Reue über eine von ihm gegen seine Mutter begangene Untat ein Bein abgehackt hatte, das Bein auf wunderbare Weise wieder zusammenfügt. Dem Künstler lag aber gar nichts daran, eine derartige Operation zur Anschauung zu bringen; er bildete zwar ein nacktes Jünglingsbein, und zwar ein sehr schönes, aber er stellte es – nach der Operation dar, so vollkommen und tadellos geheilt, wie nur ein Bein sein kann. Diese Darstellungen sind tatsächlich direkt unchristlich. Die Symbole und Zeichen der Kirche, selbst das Kreuz, fehlen gänzlich, und die gesamte Architektur ist wie die Tracht antik. Dem heutigen Volke, das hier seine Heiligen zu verehren kommt, sagen sie daher auch gar nichts. Männer und Frauen stehen gedrängt um die Rückwand des Sarkophags, in dem die Überreste des Wundertäters liegen, wenden den herrlichen Marmorbildern den Rücken und legen ihre Hände mit gesenktem Haupte an den Grabstein, hoffend, daß die Wunderkraft des Heiligen ihn durchdringe und heilend in ihren Körper übergehe. – Auch in den herrlichen Fresken Mantegnas in der Kirche der Eremitani lebt dieser zur Antike gewendete Geist, der sich, indem er heilige Geschichten erzählt, doch zum antiken Evangelium der Kraft und Freude bekennt. Der heilige Jakob ist dem Künstler so gleichgültig, daß er ihn auf drei Bildern blond und auf dem Schlußbild schwarzhaarig darstellt, und so sehr überwog seine Lust am Schönen des Körperlichen den gegebenen Inhalt seines geistlichen Themas, daß dieses dem Betrachter kaum zum Bewußtsein kommt. So lenkt auf dem Bilde, das den heiligen Jacobus auf dem Gange zur Richtstätte zum Inhalte hat, vielmehr als dieser die prächtige Gestalt eines antiken Soldaten die Blicke auf sich, der das Volk mit quer gehaltener Lanze zurückdrängt. Selbst auf dem Bilde der Hinrichtung des Heiligen (der bäuchlings zur Erde geworfen, mit einem Holzhammer erschlagen wird), ist dieser künstlerisch nicht die Hauptperson, und der ganze schauderhafte Vorgang ist mit einer vollendeten Kälte, mit der absolutesten Gleichgiltigkeit erzählt. Kein Mensch zeigt irgend welche Aufregung. Ein junger Mann von wundervollem Körperbau lehnt sich in elegant nachlässiger Haltung über die Barriere, unter der Jacobus den tödlichen Hieb auf den Schädel erwartet, und sein Blick zeigt etwa die Aufmerksamkeit eines Anglers, der zusieht, ob ein Fisch anbeißen will. Im Mittelgrunde stehen drei entzückende Jungen in schönen Brustpanzern, sonst nackt, und kümmern sich absolut nicht darum, daß im Vordergrunde ein Heiliger totgeschlagen wird. Der eine, mit dem linken Arm auf die Straßenmauer gestützt, sieht vor sich nieder wie einer, der an etwas recht Angenehmes ohne Aufregung denkt; der mittlere blickt an ihm vorbei in die Landschaft – vielleicht sieht er einen schönen Schmetterling fliegen; der dritte stemmt seinen rechten Arm in die Hüfte und sieht über die ganze Szene hinweg geradeaus ins Leere, ein bißchen gelangweilt und ärgerlich darüber, daß er kommandiert ist, dieser faden Hinrichtung eines Christen beizuwohnen. Daß die Staffage mit bewußter Absicht so behandelt ist, kann nicht bezweifelt werden, und ich bin mir darüber nicht unklar, daß Meister Mantegna zwar ein sehr guter Maler, aber ein schlechter Christ gewesen ist. – Giotto dagegen verdient auch in der Religion die Note 1a. Seine wunderbare Farbenfuge in der Arenakapelle, deren Dominante ein unvergeßliches Blau ist, preist in schöner Einfalt aus inbrünstigem Herzen die Dreifaltigkeit. Nur ein Frommer kann fromme Verzückung so ergreifend darstellen, wie er es in der Grablegung getan hat, in der Engeln und Menschen tiefster Schmerz zur höchsten Seligkeit wird. Wir können dem Geschick nicht dankbar genug sein, das uns diese unbeschreiblich schönen Fresken so unversehrt erhalten hat. – Daß so viele Italienreisende Padua unbesucht lassen, ist künstlerisch eine wahre Unterlassungssünde. Die Werke, die man hier von Mantegna und Giotto zu sehen bekommt, gehören zu dem Erhabensten und Schönsten, das man überhaupt sehen kann. Die Stadt ist auch selber sehr interessant in ihrer echt italienischen Architektur mit den vielen Laubenbögen und mit ihren alten, zum Teil gewaltigen Staatsgebäuden. Wir besuchten im Palazzo della Ragione den riesigen Saal, der wohl mit Recht der größte Saal der Welt genannt wird und in dem sich das kolossale hölzerne Pferd Donatellos befindet. Überlebensgroß wie dieses war die Rechnung im „Grand Hotel croce d’oro“; es scheint, daß der Wirt dieses Gasthauses sich für die vielen Forestieri, die an Padua vorüberfahren, an denen schadlos hält, die Padua besuchen und dabei so unvorsichtig sind, bei ihm einzukehren. – Die 76 km lange Strecke von Padua bis Ferrara legten wir in unserm Adlerwagen, der herrlich bei Rhythmus war, in dreieinhalb Stunden zurück. Eine sehr schöne Fahrt auf ausgezeichneter Straße und zum Teil am Po entlang, der hier ein mächtiger Strom ist. Wir überschritten ihn bei Pontelagoscuro auf einer Schiffsbrücke, nachdem wir vorher eine Anzahl Mühlen passiert hatten, die im Strom nach Art von Schiffsbrücken verankert sind. Sie tragen alle schwarzen Anstrich und darauf in großer, weißer Schrift ihren Namen in Form eines Spruches, etwa: „Molino nominato paradiso, Dio ti saluti,“ was in deutschen Landen etwa so lauten würde: „Die Mühle, Paradies genannt, steht in Gottes starker Hand.“ – Bei der Einfahrt in Ferrara kamen wir an dem gewaltigen Castell der Este vorüber, einem kolossalen Bauwerk von zwingburgartigem Charakter. Jetzt war es umwimmelt von Radfahrern. Wir erfuhren, daß hier ein Fest des italienischen Touring Klubs abgehalten wurde, und hatten Abends Gelegenheit, einen Fackelzug zu Rade mit anzusehen. – Vorher hatten wir zwei Dichterwohnungen unseren Besuch gemacht – einer traurigen und einer heiteren. Die traurige, ein scheußliches Gewölbe im Hospitale der heiligen Anna, hat Torquato Tasso über sieben Jahre bis zu seinem Tode bewohnen müssen als Gefangener seines Herzogs, aus dessen Gnade er gefallen war. Wenn er vorher nicht schon irrsinnig war, so ist er es in diesem Loche sicher geworden. Lord Byron, der offenbar starke poetische Stimulantien liebte, hat sich auch in dieses Kerkergewölbe, wie in Venedig in das Gefängnis des Marino Falieri, auf ein paar Tage einsperren lassen – eine etwas spleenige Art, sich Inspiration zu verschaffen – und ein Goethischer Torquato Tasso war nicht dir Frucht davon. – Angenehmere Empfindungen erweckte der Besuch im Hause des Ariost, an dessen Fassade der Dichter die einfachen und schönen Worte eingraben ließ:

Parva est apta mihi, sed nulli obnoxia, sed non
Sordida, parta meo sed tamen aere domus.


Im übrigen wird man nicht erwarten, im Hause des Ariost so viel von der Persönlichkeit des Dichters zu finden wie im Goethehause des Weimarischen Ferrara. Das Haus ist erst Jahrhunderte nach dem Tode des Dichters aufgekauft worden, und die Reliquien, die sich darin finden, haben dieselbe Zeit hindurch ihren Platz in fremdem Besitz gehabt. Aber es gibt doch einen ungefähren Begriff davon, welche Umgebung sich dieser außergewöhnliche Mann geschaffen hat, der wie Goethe nicht nur ein Künstler des Wortes, sondern auch des Lebens, des nach außen wirkenden sowohl, wie des nach innen aufnehmenden, gewesen ist. Auch sein Haus darf in den Verhältnissen und in der Anlage poetisch genannt werden. Klein, doch nicht eng, einfach gestaltet, aber in klaren Zügen ohne Winkelwerk, ganz und gar nicht ein Haus zum Repräsentieren, sondern zum beschaulichen Schaffen und behaglichen Leben. Die Schreibstube aufs Feld hinaus über Gärten weg; kein Haus sichtbar, außer einem schön aufragenden Glockenturm. – Der galante Custode überreichte meiner Frau einen Strauß Rosen „aus dem Garten des Ariost“ – und wenn der Rosenstock, von dem er sie gepflückt hatte, auch gewiß nicht unter Ariosts Augen gewachsen war, es war doch hübsch von dem Custoden und klingt reizend: „Ein Rosenstrauch aus dem Garten des Ariost.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil