Rimini, den 20. Mai 1902, im Aquila d’oro.

Wir hätten in Ferrara gerne den Palazzo de’ Diamanti besucht, um die Werke des Dosso Dossi zu sehen, aber die Sammlung wird Sonntags erst um 12 Uhr geöffnet, und so lange konnten wir nicht warten, weil wir in Ravenna, von dem uns 73 Kilometer trennten, noch Zeit zur Betrachtung der Mosaiken und des Grabdenkmals des großen Theoderich haben wollten. Heute bedauern wir diese Eiligkeit, und ich denke an das Wort Bettinas von den stehengelassenen Erdbeeren. Diese Eiligkeit steckt uns noch von der Eisenbahn her im Blute, und wir müssen noch immer häufig genug unsre Nerven in die Zügel nehmen. – Die Fahrt von Ferrara nach Ravenna ließ es uns spüren, daß wir uns der Küste näherten; wir waren offenbar von einer ganzen Schar von Windsbräuten begleitet, und oft erhoben sich vor uns Staubwolken, die uns die freie Aussicht auf die Fahrbahn völlig verhüllten. Bei solchen Gelegenheiten bewähren sich die großen Schutzbrillen, die dem Laufwagenreisenden ein so groteskes Aussehen verleihen, vorzüglich. Wir brauchten trotz des Gegenwindes nur etwas über drei Stunden bis Ravenna, kamen aber, offenbar infolge des Sturmes, so ermüdet an, daß wir uns ein paar Stunden im Hotel ausruhen mußten. Dieses Hotel führte, wie alte Theaterstücke, mehrere Namen auf einmal: Albergo reale Europa, Spada d’oro, San Marco. Wir mußten später auch für drei Hotels zahlen. – Ravenna selbst macht einen trostlosen Eindruck. Ich hatte mir, unter der Suggestion des großen Namens Theoderich, etwas düster-prächtiges vorgestellt, eine Mischung aus Gotisch und Byzantinisch, und war nun arg enttäuscht, ein Konglomerat von kleinen, langweiligen Häuschen zu finden, die, wenn sie jemals in einem anständigen Stile erbaut worden sind, ihn bis auf den letzten Rest verloren haben. Direkt unwahrscheinlich wirkten große Plakate die eine Aufführung von Wagners Tristan und Isolde im Stadttheater verkündeten. Man sollte meinen, daß diese Musik diese wackelige Stadt zersprengen müßte, nichts übrig lassend als das, was von Ravennas gewaltiger Vergangenheit übrig geblieben ist. Es sind nur wenige Reste, diese aber von so herrlicher Art, daß man den kläglichen Krimskrams dessen, was heute Ravenna heißt, darüber völlig vergißt. Der Kontrast ist um so unheimlicher, weil die paar alten Sachen so unglaublich frisch und lebendig wirken, während das, was sich als gegenwärtiges Leben gibt, durchaus den Eindruck des Absterbens macht. Die unerhört schönen Mosaiken aus dem 5. und 6. Jahrhundert strahlen im jugendlichen Glanze, und man könnte glauben, sie seien gestern vollendet worden, wenn sie nicht von einer so märchenhaft unmodernen Schönheit wären. Wer einmal die beiden Heiligenzüge im Battisterio degli Ortodossi gesehen hat, diese Prozession weltentrückter Seliger im Juwelenschmucke heiliger Schönheit, der hat für alle seine Tage einen unverletzbaren Begriff vom Wesen der alten christlichen Kunst, die den großen monumentalen Zug der antiken mit einer mystischen Innerlichkeit verbindet. In den Mosaiken von San Vitale aber leuchtet der ganze kaiserlich-hieratische Pomp von Byzanz. Unter den von Gold und Edelstein starrenden Gewändern wird auch Geste und Bewegung der gekrönten Christen steif, sakramental. Daß einzelne Gestalten, wie die der Kaiserin Theodora, des Kaisers Justinian, des Erzbischofs Maximian, trotzdem etwas Persönliches haben und sofort als Porträts wirken, beweist eine enorme Höhe von Kunst. Alles dies ist Dekoration im allerhöchsten Sinne, und die Anstrengungen, mit Ölfarbenbildern, wie im Dogenpalaste, raumausfüllend dekorativ wirken zu wollen, erscheinen einem angesichts dieser Mosaiken geradezu absurd. Nicht einmal das Fresko ist nur entfernt solcher Wirkungen fähig. Das Mosaik, aus unzähligen Glanzflächen leuchtend, hat dennoch die einheitlichste Gesamtwirkung. Es ist der Pointillismus in der höchsten Vollendung, der Zusammenglanz unzähliger leuchtender Farbflecke, die zeichnerisch streng zusammengehalten werden durch eine Linie von vollendetstem Stilgefühl. Unsre modernen Schmuckkünstler können nichts besseres tun, als hier und in Tocello und an den alten Mosaiken von San Marco-Venedig Studien zu machen. Es gehört zu den größten Glücksfällen der Kunstgeschichte, daß diese unerhörten Kostbarkeiten erhalten geblieben sind. – Aus ganz anderem Wesen stammt die gewaltige Wirkung des Grabdenkmals, das Theoderich der Große für sich hat errichten lassen, offenbar im Hinblick auf antike Vorbilder. Hier spricht nur die eine Farbe des Steins und die Macht des Aufbaus. Alles gedrungen, Masse, Wucht; Quader an Quader, so breit sie nur zu finden, und darauf diese kolossale Kuppel aus einem einzigen Kalkstein, dessen Schwere auf etwa 8000 Zentner berechnet wird. Dies mitten in die üppige, aber ebene Landschaft gesetzt, – das Grab eines Gewaltigen unter den Menschen, den man sich, wüßte man sonst nichts von ihm, daraus wohl vorstellen könnte. – An der Treppe, die zum Umgang des Heldengrabes führt, steht ein mächtiger Teerosenbaum. Der blühte, als wir dort waren, in überschwänglicher Pracht, und alles rings war vom Dufte seiner Blüten erfüllt. – Rosen pflegen gerne zu poetischen Gemeinplätzen zu verlocken, und ich widerstand der Verlockung nicht:

Für seinen Leichnam schuf
Ein großer Deutscher hier
Siehe eine feste Burg
Mit einer Kronenzier
Aus nichts als einem Stein;
So wollt er sicher ruhn
In grüner Einsamkeit
Von ungeheurem Tun.
Kaum war er tot, so kam
Der Haß und gab dem Wind
Des Helden Asche; – ach,
Wie töricht Feinde sind:
Ein Stäubchen Asche sank
Ins Erdreich, und die Kraft
Des toten Helden gibt
Nun tausend Rosen Saft.
Die duften wunderstark,
Wie seine Seele war:
In Rosen steht sein Grab,
Ein trotziger Alter.


– Das Meer lockte uns nach Rimini, – der Luftschlauch unsres rechten Hinterrades verschaffte uns indessen die Bekanntschaft der adriatischen See schon bei Cervia. Eben, als wir durch diesen kleinen Ort fuhren, ertönte ein zaghafter Knall, und Meister Riegel, der für jede Regung an seinem Wagen ein untrügliches Gehör hat, erklärte: Jetzt ist ein Schlauch hin! Um die Arbeit des Schlauchwechselns ungestörter vornehmen zu können, bogen wir querfeldein und waren aufs Schönste überrascht, als wir plötzlich unvermutet die blaue Flut der See erblickten, angesichts deren die Reparatur schnell von statten ging. Wir suchten unterdes Muscheln, photographierten ein paar Krabbenfischer und dankten dem Pneumatik, daß es an so angenehmem Orte das Zeitliche gesegnet hatte. Kaum einen halben Kilometer weiter aber wiederholte sich was Vischer die Tücke des Objekts genannt hat, und wir sorgten für Abwechselung, indem wir den Schaden diesmal zwischen blühenden Lupinenfeldern und etwa fünfzig meist hübschen Bauernmädchen ausbesserten, die im Pfingststaate um uns herumstanden und allerliebst erstaunte Gesichter machten. Es war also auch hier keine große Fatalität weiter. Eine schlimmere hätte uns aber fast erreicht infolge eines Defektes an der Pumpe. Zum Glück stellte sich dieser gerade kurz vor Rimini heraus, sodaß wir noch eben ins Hotel gelangen konnten, wo unser unermüdlicher Führer sofort daran ging, den Schaden zu beseitigen, während wir dem Seebade einen Besuch machten. Über dem leuchtenden Blaugrün des Wassers lag schwarzblau ein schweres Wetter, und die Brandung war viel stärker, als wir es vom adriatischen Meere erwartet hatten. Leider kam das Wetter von der See ans Land, und wir mußten uns ins Hotel flüchten. – Hinter Ravenna sind wir am ersten Pinienwalde vorbeigekommen; es ist derselbe, den schon Dante und dann Byron gepriesen hat. Er mag aber wohl noch zu Byrons Zeiten mächtiger gewesen sein, als er es heute ist. Nach deutschen Begriffen würde man es noch keinen Wald nennen. Für uns ist der Wald ein ganzes Volk von Bäumen; dies hier ist höchstens eine Generalversammlung. Freilich von erlauchten Vertretern der Gattung, und man muß gestehen, daß eine Silhouette von grün-schwarzen Pinienhäuptern gegen den blauen Himmel gesehen etwas großartiges, eine ruhige Vornehmheit hat, die feierlich stimmt. Unsere spitze Fichte würde in diese runde Landschaft durchaus nicht passen; hier ist es ästhetische Notwendigkeit, daß sich alles wellig ausbreitet oder wölbt. Aus diesem Grunde ist es wohl auch zu erklären, daß der italienische Kirchturm im allgemeinen nicht spitz, sondern abgeplattet ist, und daß die Gotik sich in Italien dauernd nicht behaupten konnte.

Wie liebenswürdig naiv das italienische Landvolk ist, haben wir immer wieder Gelegenheit zu beobachten. Niemals, wenn wir genötigt sind, auf freier Straße zu Reparaturen Halt zu machen, wird auch nur eine Bewegung der Schadenfreude bemerkbar, geschweige denn, daß ein höhnisches Wort laut würde. Diese guten Leute haben nur den einen Wunsch: daß man ihnen imponiere. Deshalb sind wir hier in Italien längst davon abgekommen, den wirklichen Preis unseres Adlerwagens zu nennen, wenn man uns darum frägt. „10 000 Lire? O? Nur 10 000 Lire? Hm, hm, hm.“ Das macht ihnen gar keinen Spaß. Man muß 30 000 sagen, dann sind sie zufrieden. – Bei Cervia wollten wir einem jungen Burschen, der beim „Abmanteln“ geholfen hatte, Geld geben, er aber bat sich un sigaro tedesco aus, – nicht um ihn zu rauchen, sondern ihn aufzuheben als ein Ding, das so weit her gekommen sei. – Überhaupt ist das Landvolk hier durchaus nicht so auf Geld erpicht, wie es die Bevölkerung der großen italienischen Städte, zumal der viel von Fremden besuchten, bekanntlich in einem fatal hohen Grade ist. Für Muscheln, die sie uns, unaufgefordert, gesucht hatten, wollten die Leute durchaus nichts nehmen. „Nur als Andenken, Signori, damit Sie wissen, daß wir poveri hier doch auch was schönes haben!“ Meine Frau ist über das alles sehr glücklich, und ich meine, sie hat ein Recht dazu. Die Italiener, unverdorben, sind ein prächtiges Volk, nicht bloß äußerlich. Sie haben Stolz und Bescheidenheit zugleich. Das nenn ich antiken Charakter. – Und die Décadence der romanischen Rasse? Zeitungsschreiberworte. Wo die Leute durch die Not degeneriert sind, in den großen Städten und in den verelendeten Landstrichen, sind sie natürlich ein Bild der Verkümmerung, aber nicht mehr, als die gleich Unglücklichen bei uns, – eher weniger, denn sie besitzen die glückliche Gabe, unter einem freigiebigen Himmel zu wohnen, weniger Bedürfnisse und eine Religion zu haben, die ihnen kein Kopfzerbrechens macht, sondern ihnen oft eine schöne Komödie, ebenso lustig für die Sinne, wie lieblich fürs Gemüt, bietet. Dazu weniger „Bildung“, als bei uns, aber mehr leichter Sinn und eine angeborene Lebensweisheit: Unzufriedenheit ist Dummheit. „Laß dir die Sinne in den Mund scheinen, und du hast Gold im Munde.“ Die „Signori“ sind ihnen im allgemeinen nicht Gegenstände des Neides, sondern eines gewissermaßen künstlerischen Interesses. Diese Leute denken gar nicht daran, wenn sie unsern roten Adlerwagen sehen, sich zu sagen: ach, wenn wir doch auch so dahinfahren könnten, sondern sie rufen laut und freudig aus: Wie schön ist das! Ah! Wie schön! Und die Signora! Seht nur den Hut und Schleier! Und da ist dann der Evviva! Evviva! kein Ende. Evviva la benzina (so nennen sie das Automobil)! Evviva gli signori! – Am meisten bewundern sie Riegel, unsern Führer. Ein Riese! Ein deutscher Riese! Und was er alles kann! Sehr, der verstehts, zu fahren! Er allein lenkt diesen Wagen und läßt ihn jetzt schnell, jetzt langsam fahren. Das will gelernt sein! Das ist mehr als Gras mähen! – Und wie wißbegierig sie sind. Regelmäßig, wenn wir abends wo eingestellt haben, versammelt sich der halbe Ort um Riegel und wünscht durchaus in den Mechanismus eingeweiht zu werden, wobei ein jeder ohne weiteres bereit ist, zu helfen, ohne dabei an ein Trinkgeld zu denken. – Auf dem Lande ist das bei uns in manchen Gegenden ja wohl auch so, aber es fehlt diese angenehm lebendige Art und Heiterkeit. – Riegel freilich hat wenig Geschmack daran. Für ihn sind die Italiener ein durchaus verdächtiges Volk, und er schwört darauf, daß sie allesamt nur auf Diebstahl und Heimtücke aus sind. „Ich sag Ihne, Herr Bierbaum, jeder von dene Halunken hat ‘s Messer im Sack. Da muß mer aufpasse!“ Vor allem aber findet er es tadelnswert an ihnen, daß sie nicht deutsch verstehen. Sonst ein sehr guter (und durchaus nicht dummer) Mensch überschüttet er die Unglückseligen, die ihm ihre Dienste wortreich, aber natürlich nicht auf Frankfortsch, anbieten, mit massiven Grobheiten, die sie ihrerseits für Belehrungen hinnehmen, sehr bedauernd, daß es ihnen nicht gegeben ist, sie zu verstehen. – Ich hoffe, daß der Gute nach und nach menschlicher von diesen braven Leuten denken lernen und mit der Erfahrung nach Hause zurückkehren wird, daß auch die Italiener zwar nicht mit einem echten Frankfurter zu vergleichen, aber immerhin Menschen sind.



*) Bettina von Arnim,: „Heute sind’s acht Tage, aber ich schmachte noch danach, die gespeisten sind vergessen, die ungepflückten brennen mich noch auf der Seele.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil