An Herrn Max Schillings in München. Padua im Hotel croce d’oro, den 16. Mai 1903.

LIEBER HERR SCHILLINGS! Ich habe Ihnen schon auf dem Markusplatze allerhand Schönes vom Reisen im Laufwagen erzählt. Verzeihen Sie, wenn ich mich nun schriftlich in Einigem wiederhole. Eine Reise wie die unsre hat doppelten Reiz, weil hier das Reisen an sich, gewissermaßen die Technik des Reisens, neu ist. Man reist fast mit dem Entzücken des Kindes, das zum ersten Mal Eisenbahnfahren darf.

Nach der längeren Pause in Venedig fühlen wir dies wieder stärker. Unsern Adlerwagen haben wir in Mestre wie ein befreundetes lebendes Wesen begrüßt, und wir waren sehr glücklich, ihn bei gutem Befinden wieder zu sehen. Unser Führer hatte ihn schon von Venedig aus öfters besucht und ihm allerhand Gutes, so auch einen neuen Reifen angedeihen lassen. Schon dieses persönliche Verhältnis zum Objekt ist angenehm und nicht etwa eine Last. Es ist halt doch auch eine Liebe, und deren Betätigung ist immer angenehm. Daher haben, glaube ich, Frauen mehr Glücksgefühl im Leben, weil sie es besser als Männer verstehen, auch Objekte liebreich zu behandeln.


Die Fahrt von heute hatten wir ein paar Tage vorher bereits mit der Eisenbahn gemacht, und so können wir nun einmal genau abmessen, wie verschieden stark die Eindrücke derselben Landschaft sind, wenn man sie im Eisenbahnwagen und wenn man sie im Automobil genießt. Der Unterschied ist sehr groß, so groß etwa wie der Unterschied einer flüchtigen und einer intimen Bekanntschaft. Im Eisenbahnwagen fährt man eigentlich nur an einer Landschaft vorbei, im Laufwagen bewegt man sich mitten in ihr. Sagt man im Eisenbahnwagen zu den Schönheiten eines Landes „Guten Tag!“ und „Lebewohl!“ in einem Atemzuge, so gewährt der Laufwagen die Möglichkeit, sich mit ihr gemütlich zu unterhalten. Nichts ist unterhaltender als solch eine Unterhaltung, zumal, wenn es sich, wie hier, verlohnt, d. h. wenn die Gegend etwas zu sagen hat. Die Ufer der Brenta von Mestre bis Padua sind landschaftlich nicht weiter „interessant“; es ist eine weite sehr fruchtbare Ebene, gartenartig bebaut; was ihr den besonderen Reiz verleiht, sind die außerordentlich zahlreichen alten Landsitze der venezianischen Adelsfamilien, die sich die Straße und damit den Fluß entlang hinziehen, zuweilen in ununterbrochener Kette, zuweilen mit Meiereien abwechselnd. Viele dieser Besitzungen zeichnen sich durch architektonisch schöne Herrenhäuser aus, deren einige die Größe und das Ansehen von Schlössern haben. Auffällig ist der reiche bildhauerische Schmuck. Überall, auf den Toren, Mauern, Giebeln, in den Gärten: Statuen, meist wohl aus der Zopfzeit und leider recht häufig übertüncht, aber auch noch in diesem Zustande lustig anzusehen. Ausgedehnte Vorgärten, oft mit Zitronen- und Orangenbäumen in Tonkübeln besetzt, schützen das Herrenhaus vor dem Staub und Lärm der Straße, und hinter den Häusern dehnen sich Parks mit wundervollen alten Bäumen aus. Alles atmet Vornehmheit bei durchaus ländlichem und ungezwungenem Wesen. Die repräsentative Würde der Palazzi blieb der Stadt vorbehalten; nur das Schloß bei Malcontenta und der Schloßkomplex von Strà machen eine Ausnahme davon. Das Schloß von Strà ist außerhalb Italiens (wie dieser ganze Strich) wenig bekannt, aber eine große Sehenswürdigkeit, die wir uns natürlich nicht entgehen ließen. Es wurde von einem aus der mächtigen venezianischen Familie der Pisani Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gebaut, kam 1808 in den Besitz Napoleons, dann an das Erzhaus der Habsburger, dann an das königliche Haus Savoyen und wurde schließlich als Monumentum nationale von der italienischen Regierung übernommen. Es ist ein Vergnügen, diese schier endlosen Zimmerfluchten mit ihren hohen, schönen Zimmern zu durchschreiten, die architektonisch und in der Wandbemalung meist rein im Stile vom Anfang des 18. Jahrhunderts sind, während ihre Möblierung, von der Anwesenheit des erlauchtesten Schloßherrn von Strà, Napoleons, her, Empirarbeit ist. Im Schlafzimmer Napoleons wird eine Sänfte gezeigt, in der sich der zum Diktator Europas gewordene korsische Advokatensohn soll ins Bad haben tragen lassen. Ich erinnerte mich, als ich dies hörte, an den schönen Napoleonskopf Canovas, dessen Modell wir in Bassano gesehen hatten, und ich hatte, wie es einem zuweilen begegnet, blitzartig eine fast visionäre Vorstellung: den nackten brauen Körper des Erben der Revolution mit dem Cäsarenkopfe, hingestreckt in die gelbseidenen Kissen des Tragstuhles. Dieses Bild wird für mich immer mit dem Schlosse Strà verbunden bleiben. Dies und der Zitronengarten mit seinen Hunderten wohlgepflegter Zitronenbäume aller Arten. Der uns führende Gärtner erzählte, daß 68 verschiedene Sorten Zitronen hier gezogen werden, darunter auch die riesigen Pompeani, die sich bis zur Größe kleiner Kürbisse auswachsen. Es sind wunderbare Schaufrüchte, aber ungenießbar. Das saftige Zellenfleisch, das bitterer schmeckt als das Fleisch der gewöhnlichen Zitrone, ist im Vergleich zu der Schale, die außerordentlich dick ist, sehr spärlich. Wir maßen den Durchmesser einer Frucht und fanden ihn 12 Zentimeter groß, wovon auf das Fleisch kaum sechs Zentimeter kamen. Was bei der gewöhnlichen Zitrone eine dünne Scheidehaut zwischen Fleisch und Schale ist, bildet hier das Hauptvolumen der Frucht in Form einer porösen, ziemlich trockenen, weißen Masse. – Zu Wächtern des Zitronengartens in Strà ist der ganze griechische Olymp bestellt. Die steinernen Götter u die aus dunklem Glanzgrün goldig leuchtenden Früchte passen gut zusammen. Übrigens sind die alten Götter hier zu Lande noch nicht tot; sie leben noch in der Sprache des Volkes, das seine Rede gern mit einem „per Bacco!“ oder „per Diana!“ bekräftigt. – In Padua haben wir, wie sich’s gehört, zuerst dem heiligen Antonius einen Besuch gemacht. Wir trafen es gut, da der Freitag der Tag des Heiligen ist und die Franziskaner dem Andenken ihres großen Ordensbruders gerade die feierliche wöchentliche Verehrung darbrachten. Sie schritten in langer Reihe an seinen Altar und knieten dort nieder, dann begann ein langer Wechselgesang, etwas näselnd von Seiten der Mönche, aber in wunderbarer Stimmfülle von der Orgelempore her; eine fast fröhliche Melodie, man möchte sagen ein heiliger Marschgesang.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil