Foligno, den 6. Juni 1902, Albergo La Posta.

Ich sehe mit Schrecken, wie ich mich in Allgemeinheiten verloren habe, statt Dir von meiner Reise zu erzählen. Suor Luigia gehört freilich zu meinen Reiseerlebnissen, und zu den schönsten, – was aber gehen mich hier in Italien die deutschen Pietisten an? Ich muß mich beeilen, hinter mir herzukommen. Man sieht, daß ich im Automobil reise, – nicht einmal mit der Feder komme ich nach. – Das Kloster, in dem Antonietta Pruneti-Lotti als Suor Luigia lebt, steht in Certaldo allo neben dem alten Schlosse, das, als es monumento nazionale wurde, der Familie Pruneti-Lotti gehört hat. Schade, daß dem nicht mehr so ist. Ich würde gewiß jedes Jahr auf ein paar Wochen in ihm zu Gaste sein, und das wäre herrlich. Es ist ein schöner, ernster Herrenbau, aufs Reichste mit alten Fresken und Wappen geschmückt, darunter ein paar schöne della Robbias. Besonders der Hof ist schön in seiner scheinbar launenhaften Form mit Treppen und Säulen. Ich machte mir sogleich ein Bild, wie man den alten Freskenschmuck unmittelbar einer für uns heutige behaglichen Möbeleinrichtung am besten zur Geltung bringen könnte. Man müßte, so dachte ich mir, die Wände überall dort, wo die Bemalung verloren gegangen ist, mit schweren, auf den Ton der Freskenreste gestimmten Stoffen verkleiden und die kostbaren Überbleibsel der alten Malereien mit alten Goldborden einsäumen. Das sollte, meine ich, heimlich und prächtig zugleich lassen, doch wäre es freilich schwer, Stoffe zu finden, die würdig wären, diesen alten Herrlichkeiten benachbart zu werden. – Im Kloster der heiligen Dorothea verbrachte ich, während meine Frau mit Antonietta in deren Zelle war, eine halbe Stunde voll reinster Stimmung zwischen den Obstbäumen und Blumenbeeten des Nonnengartens, von dem aus man eine wundervolle Aussicht über dieses gesegnete Hügelland genießt. Es war um die Stunde des Ave-Läutens, und ich empfand einen innigen Frieden, ein Gefühl der vollkommensten Beruhigung und Klarheit. Ich mußte an Angelus Silesius denken, diesen Fra Angelico der Lyrik, der mir aber lieber ist als dieser, weil er tiefer und weil er so grunddeutsch ist. Es ist ein großes Verdienst Hartlebens, daß er auf diesen deutschen Dichter-Mönch wieder aufmerksam gemacht hat. – Montag, den 2. Juli haben wir von Bagnano Abschied genommen, wo wir so wohl aufgenommen waren und wo es auch unseren getreuen Führer und Helfer in allen Automobildingen, dem trefflichen Riegel, so gut gefallen hatte, daß er seinem neuesten italienischen Freunde, dem witzigen Geschichtenerzähler und brillanten Bocciaspieler Pietro, eine Adlernadel verehrte, will sagen eine Shlipsnadel mit dem Fabrikzeichen der Adlerfahrradwerke. Louis Riegel hat nur dieses Ordens- und Ehrenzeichen zu verleihen, und ich glaube, daß er sparsamer damit umgeht, als irgend ein Fürst mit seinem Hausorden. Verleiht er es also einmal, so zeigt dies an, daß er von den angenehmsten Gefühlen aufrichtiger Zuneigung erfüllt ist. Im allgemeinen gibt er sich solchen Zuneigungen Italienern gegenüber nicht schnell hin, schon deshalb nicht, weil er im Grunde einige Voreingenommenheit gegen alle Leute hegt, die kein deutsch verstehen. Er findet das ungebildet. Es ist merkwürdig, wie schnell er sich trotzdem überall verständlich macht. Selbst Reparaturdetails gibt er aufs genaueste an, und es ist noch nie passiert, daß er darin falsch verstanden worden wäre. Sein Hauptinteresse gilt den Dingen, die mit seinem ursprünglichen Handwerk, der Schlosserei, zusammenhängen. Begleitet er uns in alte Kirchen oder Schlösser, so bleibt er sofort in Betrachtung vor irgend welchem Eisenwerk versunken stehen und kargt nicht mit Ausdrücken der Anerkennung. Er hat sich auch schon manches abgezeichnet oder aufnotiert, und oft macht er mich auf interessante Dinge dieser Art aufmerksam, die mir sonst entgehen würden. So erregte in Bagnano sein Interesse das Handwerkzeug der Bauern, besonders ein Gerät, das gleichzeitig Rundmesser und Hacke ist, und eine Leiter, die aus einem gespaltenen Stamm besteht, in den die Sprossen eingefügt sind. In Venedig konnte er sich nicht satt sehen an dem schönen schmiedeeisernen Gitterwerk der Palastfenster. Es ist eine Freude, ihn zu beobachten, und auch das ist angenehm, zu sehen, wie alle Leute seines Standes, die hier mit ihm zu tun bekommen, sich ihm vertraulich anschließen. Sie verstehen einander mit Worten gar nicht, aber sie kommen vortrefflich miteinander aus, und wo Riegel ist, hat Lachen und fröhliches Gehabe kein Ende. Nur die Gassenjungen kann er nicht leiden, die sich immer, wo der Wagen Halt macht, um ihn versammeln, lärmend und gestikulierend und alles anfassend. Da wird er wild, weil er bei jedem die Absicht voraussetzt, die Laufmäntel zu zerschlitzen. Die Mädchen finden den stattlichen Deutschen offenbar überall sehr nett, er aber läßt sich durchaus nicht mit ihnen ein, denn er hat sein „Käthche“ in Frankfurt und hält es mit dem Liede: „Nur in Deutschland, ja nur in Deutschland, da soll mein Schätzlein wohnen.“ (Worin er sich sehr wesentlich von mir unterscheidet.) Ein grundbraver, geschickter und tüchtiger Mensch, dessen Begleitung uns noch nie einen Augenblick lästig war, abgesehen davon, daß er sein Geschäft bis ins Letzte versteht. Er ist unsre Zuversicht für und für, und, was auch am Wagen passieren mag, er wird sicher immer Rat wissen. Ich wünsche jedem, der sich einen Laufwagen anschafft, einen Maschinisten wie unsern Riegel dazu, denn das beste Automobil ist ein unvollkommenes Ding, wenn ihm nicht ein Besorger und Lenker beigegeben ist, der es bis in die Einzelheiten kennt und Liebe zu ihm hat. Wir machten mit unserm verhältnismäßig leichten Adlerwagen, dessen einzylindriger Motor nur acht Pferdestärken besitzt, mehr, als manches Automobil mit zwei und mehr Zylindern von doppelter und dreifacher Kraft, und dies verdanken wir, neben der sehr zweckmäßigen Konstruktion unsres Wagens, doch in erster Linie der Tüchtigkeit unsres Führers. Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, denn es scheint mir, daß diesem wesentlichen Punkte nicht überall die Wichtigkeit beigemessen wird, die er hat. Wer sich einen Laufwagen anschafft, um mit ihm längere Reisen zu unternehmen, der soll sich seinen Maschinisten in der Fabrik, der er sein Vehikel entnimmt, mindestens anderthalb Monate anlernen lassen, und dann möge er sich selber bei ihm in die Lehre begeben. – Wenn wir kein so festes Vertrauen auf unsern Wagen und seinen Führer hätten, würden wir es von Bagnano aus nicht unternommen haben, nach dem steil hoch gelegenen alten San Gimignano zu fahren, das, wie wir freilich erst später erfuhren, selbst dem Automobil des Herzogs von Aosta große Schwierigkeiten bereitet hat. es wurde uns erzählt, daß der Wagen des Herzogs nach rückwärts ins Rollen gekommen und ein Unglück nur dadurch verhütet worden sei, daß die ganze Volksmenge sich ihm entgegengestemmt habe. Derlei wird uns mit unserem Adlerwagen und Riegel gewiß nie passieren, doch sind auch wir nicht ohne Zwischenfall, dem ersten dieser Art, auf die Höhe von San Gimignano gelangt. Die Straße da hinauf, von Anfang an steil, nahm kurz vor der Stadt solche Steigungsprozente an, daß erst ich, dann meine Frau und schließlich auch Riegel absteigen mußte, nun neben seinem Wagen einherschreitend das Lenkrad in der Hand, wie jener schwäbische Ritter im gelobten Lande das Halfterband seines Schlachtrosses. Plötzlich aber, kaum zehn Meter von der Höhe, blieb der Wagen stehen, und Riegel erklärte sofort, daß jetzt kein Zureden mehr helfen werde. Die Grenze der Leistungsfähigkeit unserer acht Pferdekräfte war überschritten. Schon nahten Bauern, die Ochsen anboten, aber sie machten ihre Vorspannrechnung zu früh. Wir luden sie einfach ein, den großen Reisekoffer hinaufzutragen, und der Wagen bequemte sich sofort, seinen alten guten Viertakt wieder anzunehmen, als er sich dieser Last entledigt fühlte. Auf der Höhe schnallten wir ihm den Koffer wieder auf, nahmen alle drei unsre Sitze ein und fuhren, als wäre uns nicht das Geringste passiert gleichmütig und gelassen in das alte Turmnest ein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil