An Herrn Professor Peter Behrens in Darmstadt. Cortona, den 4. Juni 1902 im Albergo nationale.

LIEBER PETER! Ich erinnere mich, wie Du mir vor Jahren von Siena geschwärmt hast, und so soll dieser Teil der Reise Dir gewidmet sein, den ich jetzt besonders gerne an meiner Seite sähe.

Wir fuhren vergangenen Sonnabend, den 31. Mai in Begleitung eines Bruders meiner Frau früh ½9 Uhr von Florenz weg und nahmen unseren Weg über San Miniato, als letztes Wahrzeichen der schönen Stadt die Bronzenachbildung von Michel Angelos David grüßend, die von der Höhe des nach dem gewaltigen Meister benannten Platzes auf dieses Bild einer in lauter Schönheit gebetteten Stadt niederblickt.


So herrlich die Kunst ist, die in dieser Stadt entstanden ist oder ihre zweite Heimat in ihr gefunden hat, – wir verließen sie doch gerne, denn wir sehnten uns wieder in die freie Landschaft.

Es gibt Menschen der Stadt und Menschen des Landes. Ich gehören zu denen, die sich auf die Dauer nur auf dem Lande wohl fühlen und in den Städten am liebsten nur als Gäste weilen. Vermutlich ist das eine Neigung, die mit dem lyrischen Metier zusammenhängt. Im Horaz findet sich manches schöne Wort darüber, und auch sonst haben die antiken Lyriker (so die in der Anthologie vereinigten) gezeigt, daß sie den Reizen idyllischen Lebens empfänglich waren. Auch was in China und Japan in lyrischen Zungen gedichtet hat, war der grünen Einsamkeit hold (der alte Li-tai-po voran), und unsre lieben deutschen Minnesänger haben desgleichen ihre innigsten und lautersten Töne draußen gefunden, – unter einer Linden in einem Tal. Kein Wunder, denn es läßt sich nirgends so lieben wie auf dem Lande, wo ja auch die Frauen erst ganz köstlich werden und ihr heimlichstes naturnahes Wesen am unmittelbarsten offenbaren. Die Stadt produziert Surrogate, auf dem Lande wird hervorgebracht, was direkt von Gottes Gnaden ist. Ein Weizenfeld ist schöner, als die „bedeutendste“ Fabrik, und wenn gar zwischen dem Weizen Öl und Wein, Feigen und Zitronen gedeihen, dann ist der Herrlichkeit gar kein Ende, und den Dichtern fallen die rundesten Reime so voll ins Herz, wie die reifen Früchten den Ernterinnen in die Schürzen fallen. Die einzige passende Nebenbeschäftigung für einen, der in der Hauptsache dazu geschaffen ist, Verse aufzufangen, scheint mir die Landwirtschaft zu sein, soweit sie keine industrielle Nüance angenommen hat. Schnaps und Ziegel brennen, das ginge zu weit für den lyrischen Landwirt, aber ein bißchen Getreide, Wein, Öl, Obst bauen und ernten und dazwischen Rosen ziehen, – per Diana, ich wollte dafür getrost alle Premièren Berlins hingeben und alle Klugredereien über Literatur und Kunst und alles was „Ruhm“ heißt „unter dem Strich“. Auch würde mich auf meinem Acker, zwischen meinen Bäumen noch viel weniger als jetzt schon kümmern, was unter dem Vorwande kritischer Belehrung an Gift und Galle hervorgebracht wird, und die Krämpfe des literarischen Neides, die man, ob man will oder nicht, in der Stadt mit ansehen muß, würde ich, hörte ich unter meinen Rosen davon, ins Reich der Sage verweisen und ganz einfach nicht glauben. –Schade, daß ich fürs Erste nur Gast sein darf, wo Milch und Honig fließt, der Weinstock sich um die Ulme windet, das Silbergrau des Ölbaumes über dem Grün der Saaten leuchtet. Indessen ziemt sich mir dieses Bedauern jetzt nicht, wo ich vor allem Dank dafür schulde, daß ich eben doch zu Gaste bei Bacchus und Ceres sein durfte, jetzt, da wir in Bagnano waren, wo eine Tante meiner Frau ein Landgut hat, dem kein Reiz der echten Idylle fehlt. Wir sind durch das Tal der Elsa über Tavernelle, den Geburtsort meiner Frau, dahingefahren inmitten des gesegneten Hügellandes von Toskana, für dessen Landschaft es mir an Worten gebricht. So weit der Blick reicht, eine unabsehbare Folge sanfter Hügel im zartesten Grün, unterbrochen von ebenso zartem Grau und Rosa. Dieses Rosa kommt von den Feldern her, auf denen der hohe toskanische Klee mit den wunderschönen zartrosafarbenen Blüten steht. Das Grau ist die Farbe des Olivenlaubes und der Gebäude. Was sind das für entzückende Villen, für prächtige Schlösser! Alles hat den vornehmen Reiz des Alters, nirgends drängt sich protziges Moderntun hervor, – es ist eine unbeschreibliche Harmonie von Natur und Kultur. In anderen Gegenden Italiens zeigt sich das Alte oft von seiner fataleren Seite: als Verfall. Davon läßt sich hier wenig bemerken. Die Landhäuser der Herrschaften haben im allgemeinen zwar ein bescheidenes Ansehen und zeigen nicht den Luxus überströmenden Reichtums, aber sie sind anständig erhalten, und auch die Bauerhäuser präsentieren sich nicht als malerische Ruinen, sondern als ordentliche, meist groß angelegte Gebäude. – Bei dieser Gelegenheit ist eine Bemerkung über die Art am Platze, wie hier das Verhältnis zwischen Herren und Bauern geregelt ist. Ein eigentlicher bäuerlicher Besitzstand existiert nicht. Alles ist in Herrschaftshänden. Aber der Bauer ist auch nicht direkt Lohnarbeiter oder Pächter. Es ist so: die Herrschaft übergibt einem Bauern einen Teil ihres Besitztums zur Bewirtschaftung gegen die Hälfte des Ertrags. Alle Anschaffungen und Extrakosten trägt die Signoria, und der Bauer hat die Wohnung sowohl wie alles Geräte umsonst. Ist er tüchtig, so entwickelt sich ein durchaus gegenseitig gutes und dauerndes Verhältnis, das unter Umständen über viele Generationen hindauert. So ist z. B. das Landgut der Verwandten meiner Frau schon über 300 Jahre in den Händen der Familie und ebenso lange ist eine bäuerliche Familie im Anteil daran. Das sind sehr unmodern patriarchalische Zustände, aber sie haben sicherlich vieles für sich, so lange nur die Herrschaft sowohl wie der Bauer gerechten und redlichen Sinnes sind. –Ich hatte noch ein gut Teil der Mattigkeit in mit, die ich der Kessellage von Florenz verdanke, in der sich Korpulenzen wie die meine auf die Dauer kaum wohlfühlen können, trotz aller primitiven Madonnen, und so fehlte es mir etwas an der Frische, ohne die es eine volle Empfänglichkeit nicht gibt, aber ich habe doch einen starken Begriff von den Reizen erhalten, die das italienische Landleben bietet. Dieses Leben hat durchaus keinen großen Stil, aber es gibt alles her, was der Freund der Natur und Einfachheit zu seinem Behagen sich nur wünschen kann. Man hat ein hübsches altes Haus mit kühlen wohnlichen Räumen, eine kleine Bibliothek, schönen alten Hausrat, freundliche Dienerschaft, die zur Familie zählt, und rings umher breitet sich die Wirtschaft aus, die nach unsern deutschen Begriffen ein großer Garten ist. Die Küche wird bis auf das Fleisch von dem bestritten, was das eigne Land bringt. Im Keller liegt der rote Chianti und der gelbe Vino santo, und nebenan stehen die großen Tonkübel voll Öl. Auch das Brot wird selber gebacken. Es schmeckt, besonders geröstet, ausgezeichnet. Enrico, der Vetter meiner Frau, spricht auch von der Jagd, doch ist mir das ein zweifelhafter Punkt, da ich außer einem bißchen Unterholz von Eichen nichts wahrgenommen habe, was man mit einigem Fuge einen Wald nennen könnte. Ich hege den Verdacht, daß man Vogeljagd betreibt, und das wäre dann das einzige mir Unsympathische an der Idylle von Bagnano. –Mit der Kirche lebt man natürlich in Frieden. Man hat seine eigene Kapelle, in der man sich auch einmal begraben lassen kann, und wenn es, wie letzten Sonntag, eine Prozession gibt, so macht man auf dem kleinen Vorplatz dieser Kapelle ein kleines Kunstwerk aus Blättern und Blumen: erst einen Kreis aus roten Rosen, darum ein Band aus gelben Ginster, dann eines aus hellgrünen Akazienblättern, und, damit man merke, daß dies eine Sonne sein soll, läßt man rings herum aus andern Blumen kleine Strahlen hervorgehen. Über das Ganze schreiten dann mit großen Kerzen in den Händen kleine weißgekleidete Mädchen im Kommunikantenschleier, alte Bauern in weißen Kitteln, und, unter dem gelben Baldachin, Mönche und Priester mit dem Sanktissimum. Es versteht sich, daß man davor niederkniet, selbst wenn man, wie wir, gleichzeitig ein paar Momentaufnahmen macht. Ich denke, sie müssen gelungen sein, denn der Priester, weit entfernt, unsere Verbindung von Devotion und Amateurphotographie zu mißbilligen, wandte uns segnend das Sanctissimum zu. – Ich kann nicht sagen, daß ich in Italien an Christentum zunehme, aber ich verstehe den Katholizismus immer besser. Diese Religion ist hier durchaus national und entspricht den Bedürfnissen des Volkes an praktischer Metaphsysik vollkommen. Denken erfordert sie gar nicht; das ist (ohne Ironie gesprochen) ihr Hauptvorzug. Dafür liefert sie alles Notwendige an fertigen Formeln und versäumt keine Gelegenheit, ein Schauspiel zu geben, das, so sehr es auch immer sich an die Sinne wenden mag, doch stets seine deutliche Beziehung zum Übersinnlichen hat. Diese Religion unterbricht die Werktagsreihe nicht bloß einmal in der Woche, sondern umrankt mit ihren Blüten, seien es Rosen oder Passionsblumen, das ganze graue Gerüst der dreihundertfünfundsechzig Tage des Jahres. Was wir als Neues erstreben und wozu wir kaum Ansätze fertig gebracht haben, hat diese Religion, die das alte Heidentum beerbte, indem sie es ablöste, längst erreicht: sie hat dem Alltage Kunst gegeben. Es muß freilich gleich hinzugefügt werden, daß sie sich darin ausgegeben hat. Eine lebendige katholische Kunst gibt es seit langem nicht mehr, und es kann einem heute in Italien begegnen, daß man, wie wir heute in der Kirche des heiligen Domenicus zu Cortona, ein unsäglich schönes altes Meisterwerk ohne Rahmen an die Wand gelehnt findet, während auf den Altären scheußliche Öldrucke aufgestellt sind, das Stück zu 15–20 Franken. Wie man es wenden möge: ob man sage, daß die Kunst sich von der Religion abgewendet oder daß die Religion nicht mehr die Kraft hat, die Kunst zu befruchten, – eins ist sicher, die beiden gehen nicht mehr zusammen. Kein „Verein für christliche Kunst“ wird daran Wesentliches ändern, denn die Religion durchdringt nicht mehr alles Schichten des Volkes, ist nicht mehr das Herz des ganzen Lebens. Daß sie in den unteren Schichten und in einzelnen Herzen noch überaus mächtig ist, ändert daran nichts. – Ich komme nicht von ungefähr auf dieses Thema (das sich übrigens hier in Italien jedem aufdrängt, der nachdenklichen Gemütes ist), sondern es ist eine Begegnung der letzten Tage, die mir die Frage der Religion näher gebracht hat. Ich habe vergangenen Sonntag zum ersten Male Gelegenheit gehabt, eine Nonne kennen zu lernen, die von ganzer Seele und aus innerster Bestimmung Nonne ist und so vollkommen den Eindruck beglückten Friedens, reinster Seelenruhe macht, wie ich es noch nie an einem Menschen bemerkt habe. Es ist eine ältere Schwester meiner Frau, jetzt fünfunddreißig Jahre alt und seit mehr als zwanzig Jahren im Kloster, aber ich hatte die Empfindung, einem jungen Mädchen gegenüber zu stehen, das kaum die Zwanzig überschritten hat. Nur Menschen des innersten Glückes könne sich so jung erhalten. Es war für mich eine der größten Überraschungen, die ich je erlebt habe, denn ich hatte mir eine Verwelkte, Strenge, erwartet, und was ich sah, war der Inbegriff stillen Blühens, seligen Daseins. Eine unbeschreibliche Güte in jedem Blick, jedem Wort, die lieblichste Grazie in jeder Bewegung, nichts, durchaus nichts, was verriet, daß dieses Wesen auch nur das geringste an innerem Lebenswerte verloren hätte durch die Aufgabe der Welt. Suor Luigia, wie Antonietta im Kloster heißt, hat den Weg zum reinsten Glück gefunden, indem sie, ein halbes Kind noch, das es von früh auf dahin verlangte, ins Kloster ging, und ich sage mir: eine Institution, die, wenn auch vielleicht nur in seltenen Fällen, dies vermag, beweist dadurch, daß sie nicht durchaus die Verirrung des menschlichen Geistes ist, als welche sie den meisten im Geiste Luthers, des ausgesprungenen Mönches, aufgewachsenen Deutschen und auch vielen Katholiken erscheint. Es ist vielmehr wohl so, daß der vollkommene und ganze Christ nur im Kloster gedeihen, nur im Kloster sein volles Glück erfahren kann. Woraus denn freilich hervorgeht, daß das reine und ganze Christentum eine Sache ist, die sich nur für wenige schickt. Wie könnte es auch anders sein bei einer so extravagant idealistischen Lehre, für die das Leben mit der Todsünde beginnt. Unsre protestantischen Pietisten sind schlechte Dilettanten dieses reinen Christentums, und es wäre unbegreiflich, daß ihnen ihr Stümpertum nicht zum Ekel wird, wüßte man nicht, daß alle Dilettanten ein so unbeirrbares Vergnügen an ihren Stümpereien haben. Ein Vergnügen in Gott, wie das selige Leben einer reichen Nonne, ist es nun aber doch nicht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil