Torni, den 7. Juni, Albergo Europa.

Ich setze meine gestern unterbrochenen Aufzeichnungen hier fort, wo wir Station gemacht haben, um morgen die berühmten Wasserfälle zu besuchen. Leider geht unser Zimmer direkt auf die Piazza hinaus, und so bin ich gezwungen, inmitten eines Lärmes zu schreiben, der zweifellos bis um Mitternacht anhalten wird und meinen Ohren keineswegs angenehm ist. Ich glaubt nicht, daß ich mich jemals an den abendlichen Spektakel auf den Hauptplätzen der kleinen italienischen Städte gewöhnen werde. Das Stimmengesumme der Promenierenden möchte noch hingehen, obwohl die guten Leute lauter reden, als es einem Deutschen anständig zu sein scheint, aber die Zeitungsausrufer und Leierklaviere sind schlechthin unerträglich. Ich möchte wohl wissen, ob die alten Römer auch schon so gebrüllt haben. Jedenfalls hatten die Vornehmen ihre Wohnungen fern dem Lärm der Straße und waren dem plebejischen Geschrei und Getrubel entrückt. Ich, der ich der Stille bedarf wie der reinen Luft, bin hier übel daran und muß meine ganze Philosophie aufbieten, dabei gelassen zu bleiben. Ich habe mir einen Spruch im Tonfalle des Angelus Silesius gemacht, den ich mir sofort zitiere, wenn mir ärgerliche Gefühle bei dem Getobe kommen. Er hat mir bisher immer geholfen und heißt so:

Sei Du nur still in Dir
Und laß den Pöbel schrein,
Dann wirst Du allem Lärm
Taub und enthoben sein.
Im Garten Gottes wird
Der Lärm der Welt Gesang,
Und Gottes Garten wird
Ein Herz, das sich bezwang.


So will ich also fortfahren und jetzt von San Gimignano erzählen. Es ist die Stadt, die früher die schöntürmige hieß und, so klein sie war, gegen siebzig Türme gehabt haben soll. Man ersieht aus alten Städtebildern (z. B. in Siena), daß die italienischen Städte des Mittelalters überhaupt voller Türme gewesen sind. Das kam von den vielen Zwistigkeiten der edlen Geschlechter untereinander, deren Paläste zugleich Burgen sein mußten. Auch in einzelnen Städten Deutschlands, so in Regensburg, finden sich noch Wahrzeichen dieser streitbaren Privatarchitektur. San Gimignano scheint aber in Türmen alle übrigen Städte des Landes übertroffen zu haben. Auf alten Bildern sieht es aus, wie ein großer Igel mit gesträubten Stacheln. Selbst jetzt zählt es noch dreizehn Türme, und da es hoch auf einem Berge gelegen ist, macht es schon von weit her einen recht grimmigen Eindruck. Durchwandert man seine Straßen, so bedarf man nicht vieler Phantasie, sich in die Zeit zurückzuversetzen, als Dante hier als Gesandter von Florenz gewirkt hat. Die Straßen eng, die Häuser hoch und düster, – aber in den Kirchen leuchten die brünstigen Farben einer starken Frömmigkeit. So wirkt das Innere des Domes, wie wenn es mit köstlichen Gobelins behängt wäre, und wir erhielten hier zum ersten Male einen Eindruck davon, welcher Wirkung die Innendekoration al fresco fähig gewesen ist. Gegen das Mosaik der frühesten christlichen Kunst gehalten, ist auch diese Wirkung matt, aber es bleibt doch ein köstlicher Schmuck, und an den Einzelheiten kann man sich kaum satt sehen. Domenico Ghirlandajo hat in zwei Fresken die heilige Fina verherrlicht, die eine Gimignanerin gewesen ist; es sind Malereien von einer ergreifenden Schönheit, und so innig empfunden, wie alles, was wir sonst von diesem Meister bisher gesehen haben. Benozzo Gozzoli, der in der Kirche San Agostino das Leben des heiligen Augustin al fresco erzählt, zeigt sich als anmutiger Novellist und ich delikater Zeichner gleichzeitig. Uns gefiel besonders das Bild, auf dem dargestellt wird, wie der kleine Augustin von seinen Eltern dem Grammatikprofessor in Tagaste überantwortet wird. Man sieht schon hier dem artigen Bengel an, daß er einmal ein großer Heiliger werden will, aber das übrige kleine Volk ist nicht minder hübsch anzusehen. – Von San Gimignano sind wir bei ziemlicher Hitze nach Siena gefahren, an vielen alten mauerumgürteten Ortschaften und den echten sieneser Strohhüten vorbei, die sich auf hübschen Bauernmädchenköpfen allerliebst ausnehmen, aber durch einen modischen Aufputz aus falschen Blumen und Federn nicht gerade gewinnen. Diese Hüte sind von der einfachsten alten Form: ein sehr niederer platter Kopf mit enormer biegsamer Krempe. Legt man um den Kopf einen schlichten Kranz von Rosen oder Mohnblumen, so ist es der ideale Strohhut für junge Mädchen und Frauen. Aber was sage ich das Dir, dessen Frau einen solchen Hut trägt? Auf Siena war ich etwas vorbereitet durch das, was Du mir darüber früher erzählt hast, und so machte ich mich nicht ohne große Erwartungen ans Schauen. Das hat zuweilen böse Folgen, denn die Wirklichkeit bleibt oft hinter schrankenlosen Einbildungen zurück, und niemand ist ärgerlicher als einer, der mit aller Kraft der Phantasie sich ein Bild von einer Sache gemacht hat und dann findet, daß die Sacht nicht hält, was die Phantasie versprach. So ist es mir als jungem Studenten mit den Bergen der Schweiz ergangen. Ich hatte mir so unsinnig hohe und dermaßen „pittoreske“ Felsen gedacht, daß mir das Berner Oberland wie eine Reihe von Hügeln vorkam, für die ich ein mitleidiges Lächeln hatte. Mittlerweile habe ich mich dieses knabenhaften Überschwangs der Phantasie glücklich entwöhnt und lasse mir von der Realität gern imponieren. So auch hier. Und nun verzeihe, wenn ich Dir von Dingen berichte, die Du mit Deinen Maleraugen noch besser gesehen haben wirst, als ich. Nimm es als einen Versuch, Dich an Schönheiten zu erinnern, von denen ich zuerst durch Dich erfahren habe, und wenn Du sie deutlicher in der Erinnerung hast, als meine Worte sie Dir machen können, so denke daran, daß Worte das schlechteste Mittel sind, Schönheiten, die das Auge genossen hat, leibhaft wieder erstehen zu lassen. Man kann um die Dinge immer nur herumreden. Der Palazzo Publico ist ein prächtiges Stück alter Trutzarchitektur, und sein Inneres reich an eindrucksvollem Schmuck. Ambrosio Lorenzetti hat den Machthabern seiner Stadt in großen Fresken vorgehalten, was eine gute und was eine schlechte Regierung ist. Allzuviel ist davon nicht zu sehen, und gute und schlechte Regierung sind nur noch ein schön zusammengewachsenes Stück reicher Farbe, aber einiges hebt sich noch heraus und macht viel Vergnügen, so die angenehme Fülle des Mädchens, das den Frieden vorstellt. Doch ist dies wenig gegen zwei Fresken von Taddeo di Bartolo, die den Leichenzug und die Himmelfahrt Mariä vorstellen. Es ist nicht zu sagen, mit welchem Geschmack auf diesen Bildern das aufgelegte Gold verwendet ist. So wie die Stadt auf dem Hintergrunde der Himmelfahrt mag San Gimignano früher ausgesehen haben. Der Hintergrund des andren Bildes zeigt, wie sich der Maler das alte Jerusalem vorgestellt hat. Er wäre gewiß enttäuscht gewesen, wenn er in das wirkliche gekommen wäre. Vom holdesten Liebreiz ist eine Freske von Matteo di Giovanni da Siena. Aber solcher Madonnen und Engel gibt es hier gar viele. Schildern läßt sich ihre Lieblichkeit nicht; man muß sie sehen (meist in der Academia), und ich habe mir zur Erinnerung einige in Photographien mitgenommen. Wenn man sich die Farben dazu vorstellen will, so darf man ja nicht mit zartestem Rosa, Blaßgrün, Blaßblau und hingehauchtem Golde sparen. Doch fehlte es auch nicht an solchen mit tiefen, satten Farben. Diese muß man sich z. B. bei der Madonna und dem Erzengel von Neroccio Landi und bei der Madonna des Sano del Pietro denken. Den holdesten Ausdruck von allen hat wohl die Maria des Neroccio, die in halber Figur dargestellt ist. Soll man darüber noch Worte machen? Es ist besser, dieses Antlitz recht lange zu betrachten und von Herzen froh des Anblickes zu sein. Der Maler muß, während ihm dies gelang, ein vollkommenes Glück empfunden haben, – das spürt man heute noch. – Der Dom von Siena hat eine kostbare Fassade aus rotem, weißem und schwarzem Marmor; steht das im hellen Sonnenlichte da, in allen Einzelheiten der reichen Meißelarbeit scharf beleuchtet, so wirkt es wie ein riesiges Schnitzwerk aus einem Stücke, und man mag gar nicht auf Einzelheiten achten. Es ist herrlich. Tritt man dann ins Innere, jenen Glanz noch in den Augen, so hat man die Empfindung, als seien diese Mauern durchscheinend und es ruhe hier dasselbe Licht, doch gedämpft. Ein stilles Leuchten erfüllt den wundervollen Raum. So schön er aber als Ganzes ist, man wendet sich sofort an Einzelnes, sobald man den Fußboden betrachtet hat. Dieser ist etwas höchst merkwürdiges und einzig in seiner Art. Er ist mit Platten bedeckt, die wie riesige Holzschnitte wirken: mit schwarzem Stuck ausgegossene Umrisse in weißem Marmor. Ich kann nur von denen reden, die den Boden der Seitenschiffe bedecken und antike Sibyllen darstellen, denn die Platten des Mittelschiffes waren verdeckt, aber was ich sehen durfte, ist ganz herrlich. Die eine Photographie, die ich davon beilege, ist nach einer Kopie gemacht, die nicht entfernt den Reiz der strengen und doch höchst eleganten Linie wiedergibt. Die Darstellungen im Mittelschiff müssen, nach Photographien zu urteilen, sehr interessant sein, doch kann ich mir nicht denken, daß sie stärkere Wirkung zu machen vermögen als diese köstlichen Sibyllen. – Die Bibliothek ist prachtvoll durch Fresken Pinturicchios und enthält als Kleinod die antike Gruppe der drei Grazien, der Canova die seine nachempfunden hat. – Zum Schluß haben wir der heiligen Katharina einen Besuch gemacht, der wundertätigen Färberstochter von Siena. Ich bin doch zu sehr Protestant, um von wundertätigen Jungfrauen besondere Eindrücke zu empfangen, es sei denn, sie treten mir in schönen Malereien gegenüber, wie Sankta Fina von Ghirlandajos Gnaden. Aber das Gebet Katharinens hat eine schöne Inbrunst. Deutsch möchte es so lauten: „O heiliger Geist, o ewige Gottheit, Liebe, Christus, kehr ein in mein Herz; zieh es zu Dir, o mein Gott, durch deine Macht und erfüll es mit Güte voller Bangen. Behüte mich, ewige Liebe, vor jedem bösen Gedanken, laß mich warm werden und erglühen in Deiner süßen Liebe, auf daß mir alles Schwere leicht werde. O mein heiliger Vater und süßer Herr, hilf meinem Dienste. Christus, Liebe, Christus, Liebe, – Amen!“ – Das ist nicht bloß das Gebet Katharinens, das ist auch das Gebet all dieser holden Madonnen von Siena. – Lebe wohl!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine empfindsame Reise im Automobil