Von San Francisco nach Yokohama, Japan

Am Samstag, den 22. November 1884, Nachmittags 3 Uhr, nahmen wir von unseren San Franciscoer Freunden Abschied und schifften uns auf dem prachtvollen Dampfer „Rio Janeiro,“ von der Pacific Postdampfer-Linie, auf dem wir Passage nach Yokohama genommen hatten, ein. Wir reisten unter den verheißendsten Vorbedeutungen ab, denn wir hatten das denkbar schönste Wetter, aber es stellte sich bald heraus, wie wenig man auf Anzeichen geben kann. Am Morgen nach unserer Abreise zeigte sich der Himmel nämlich schon in ganz anderer Gestalt. Dahin war sein klares Blau und seine leuchtende Sonne, die uns am Tage vorher so freundlich zugelächelt hatte; dahin die spiegelglatte See, die der Dampfer so stolz durchfurchte! Graue Wolken hingen bleischwer vom Himmel herab und hoch gingen die rollenden Wogen der Salzflut.

Und von Stund' an sahen wir auf der ganzen Reise keinen Sonnenstrahl mehr. Wir waren keine Günstlinge des Meeresgottes, denn unsere Reise war eine so unangenehme und stürmische, dass die Offiziere des Schiffes sie für die schlimmste erklärten, die sie je auf dem stillen Ozean mitgemacht hätten, und einige von ihnen fuhren bereits seit 40 Jahren auf seinen Gewässern. Am vierundzwanzigsten Tage unserer Reise erreichte der Sturm seinen Höhepunkt. Vom frühen Morgen bis Mitternacht brauste ein Orkan über das Meer und wühlte seine Wellen turmhoch auf, so dass das Schiff fortwährend wie in eine Wasserdecke eingehüllt erschien. Das Wasser überflutete das Deck, drang in unsere Kojen und löschte selbst die Feuer in der Küche aus. Wie ein Spielzeug wurde das mächtige Schiff von den wütenden Wogen hin und her geworfen und die Passagiere, welche sich unter Deck halten mussten, litten schrecklich ; an ein Vorwärtskommen war nicht zu denken. Später sagte mir der Kapitän, dass wir sechs Stunden lang keine einzige Meile weiter gekommen wären.


Man kann sich denken, dass keine rosige Stimmung an Bord des Dampfers herrschte. Ein Scherzwort war ein seltener Artikel; Gebetbücher, sowie „Joss-Sticks“ (kleine Stücke von Sandelholz, welche die Chinesen ihren Götzen als Opfer darbringen) waren dagegen gesucht. Eine Missionärin, die in der Kajüte reiste, bestand darauf, dass es nicht die Geschicklichkeit von Menschen gewesen sei, welche das Schiff gerettet habe, sondern einzig und allein die göttliche Vorsehung. Sei dem nun wie ihm wolle, eines ist gewiss: es war ein Wunder, dass das Schiff nicht unterging, denn selten haben Seefahrer gegen eine so schreckliche und wütende See zu kämpfen gehabt. Mit welcher Angst wohl die Aktionäre der Pacific Mail Company auf Nachrichten von ihrem guten Schiff „Rio Janeiro“ und seiner wertvollen Ladung gewartet haben!

Wie gerne hätten wir sie beruhigt, wenn wir nur im Staude gewesen wären, ihnen die Nachricht über unsere glückliche Ankunft in Yokohama zukommen zu lassen! Aber diese Freude war uns versagt, und wir konnten nichts tun, als uns geduldig in das Unvermeidliche zu fügen und der Dinge zu harren, die da kommen sollten.

Eines Tages, während ich in tiefem Nachdenken über unsere trostlose Lage in meiner Kajüte saß, erschien plötzlich mein Freund John in der Türe. Er war ein Bild des Jammers, helles Elend drückte sich auf seinem Gesichte aus und lies mich fast fürchten, dass er sich am Rande der Verzweiflung befinde. In kläglichem Tone machte er mir folgende Mitteilung: „George, ich bin vollständig angeekelt von den Reizen einer Reise auf „wogender See.“ Gott bewahre mich davor, dass ich auf diese Weise von den Wogen in Schlaf gelullt werde. Ich wünschte es wäre vorüber!“ Sprach's und verschwand wie ein Phantom, um wahrscheinlich einem anderen geduldigen Zuhörer dasselbe Klagelied vorzusingen. Armer John! Freund Charles leerte den bitteren Kelch ebenfalls bis auf die Neige. Am nämlichen Tage machte auch er unter heftigen Gestikulationen seinem übervollen Herzen durch folgende Worte Luft: „Also das ist der Pacific Ozean!“ Bis jetzt habe ich immer geglaubt, dass das. Wort „pacific“ ruhig, friedliebend bedeutet, dass der Stille Ozean also in Wahrheit ein ruhiges und glattes Meer ist. Oh, welcher schmähliche Betrug! Welch' ein Hohn! Welche Niederträchtigkeit! Die ganze See in wütender Bewegung! Berghohe Wellen, die uns jeden Augenblick zu zerstören drohen! Ist das der „stille, ruhige“ Ozean? Wann werden wir erlöst von diesem Übel?“

Ich hatte nur einen tiefen Seufzer als Antwort. Charles aber warf mir noch einen mitleidigen Blick zu und verschwand im Rauchzimmer, wo er bald allen irdischen Sorgen entrückt war, da ein wohltätiger Schlummer ihn umfing. Er schlief, und zu derselben Zeit fand eine ernsthafte Beratung der Schiffsoffiziere statt, wie man die vollständige Erschöpfung des Kohlenvorrates, der in einigen Tagen zu Ende gehen musste, verhindern könnte.

Unsere Reisegefährten, die das Unglück hatten, mit uns diese denkwürdige Seereise zu machen, bestanden aus noch fünf Kajüten-Passagieren: vier Damen und einem Herrn. Die ersteren waren sehr verschiedenen Alters. Die eine im Alter von etwa fünfzig Jahren, die andere fünfzehn, die dritte zwanzig und die letzte sechsundzwanzig Jahre alt. Außer meinen beiden Freunden und mir selbst reiste noch ein Herr in der Kajüte. Im Zwischendecke befanden sich über siebenhundert Chinesen, die wie Heringe dort verpackt waren.

Diese Chinesen sind eine so schreckliche Menschenklasse, wie man sie überhaupt finden kann. Ich machte ihnen in ihrem Quartier einen Besuch, hatte aber genug davon. Die Meisten begaben sich nach China, um das Neujahr daselbst zu feiern, das in der Mitte des Februar nach unserer Zeitrechnung dort abgehalten wird. Man kann sich eine Vorstellung davon machen, wie fest diese Chinesen an ihrer Religion hängen, wenn man erfährt, dass Tausende derselben jedes Jahr nach China reisen, also etwa 6.000 Meilen zurücklegen, lediglich um die Feiertage in ihrem Vaterlande zuzubringen und den Götzen, die sie selbst geschaffen, ihre Verehrung darzubringen. Viele von den Chinesen an Bord unseres Dampfers waren ihrem Lebensende nahe und reisten heim, um in ihrem Vaterlande zu sterben. Es war ein trauriger Anblick. Einige waren ihren Leiden bereits erlegen. Die letzteren erfreuten das Herz des Schiffsarztes, der sie einbalsamierte und $12.50 Cts. per Stück erhielt. Die Chinesen dulden nämlich nicht, dass einer von ihnen nach seinem Tode in die See versenkt wird, denn es ist stets der letzte Wunsch eines jeden derselben in vaterländischer Erde bei seinen Vorfahren begraben zu werden. Wenn die Hinterlassenschaft des Toten nicht wertvoll genug ist, so wird von seinen Freunden eine Sammlung veranstaltet, um die Kosten der Einbalsamierung und der Versendung der Leiche nach China zu decken.

Der Doktor erwartete täglich das Hinscheiden mehrerer Todes-Kandidaten und war in bester Laune, indem er eine reiche Ernte von den Chinesen, welche noch vor Ankunft des Schiffes im Hafen von Hong Kong sterben würden, einzuheimsen hoffte. Der würdige Herr hatte auch Absichten auf mich, wenigstens habe ich guten Grund, das anzunehmen, aber ich durchkreuzte seine Pläne, indem ich mich ganz positiv weigerte, mich von ihm behandeln zu lassen.

Unsere Missionarin war eine höchst interessante, stattliche und dabei gemütliche Frau. Sie machte auf uns den Eindruck einer aufrichtig gläubigen, guten Christin, die es mit ihrem Beruf Ernst nahm. Sie hatte mit ihrem Gatten viele Jahre in China gewohnt, in welches Land sie von einer der Missions-Gesellschaften in den New England Staaten geschickt worden waren, um den Heiden des „Blumenreiches“ das christliche Evangelium zu verkünden.

Shanghai war ihre Heimat, und aus ihren Reden zu schließen, hatten sie und ihr Gatte nicht die Absicht, wieder nach den Vereinigten Staaten zurückzukehren.

„Wir haben viel im Leben durchgemacht und in den Tagen unserer Jugend in unserem Berufe mit Hilfe Gottes viele Gefahren überstanden. Aber jetzt gestaltet sich, Gott sei Dank, unser Schicksal günstiger und die Hoffnung, die wir stets gehegt, dass wir unseren Lebensabend in Ruhe und Behaglichkeit würden genießen können, scheint jetzt in Erfüllung gehen zu sollen,“ sagte sie eines Abends und Tränen rollten ihr dabei über die Wangen. Sie war, seitdem sie in China stationiert worden war, dreimal in den Vereinigten Staaten gewesen und hatte zweimal die Reise um die Welt gemacht. Das erste Mal über Singapore, Ceylon, Suez, Malta, Gibraltar, Liverpool nach Amerika und zurück über San Francisco; das zweite Mal reiste sie gerade umgekehrt. Ihr Gatte hatte China nie verlassen, seitdem er dort vor vielen Jahren gelandet war, auch hatte er nie die geringste Sehnsucht empfunden, sein Geburtsland wiederzusehen.

Die Missions-Gesellschaft hatte ihm mehrere Male Urlaub angeboten und sich selbst erboten, seine Reisekosten zu bestreiten, er konnte aber nie dazu überredet werden, die Reise zu machen. Wir verlebten mit dieser Dame während der Reise viele angenehme Stunden, indem wir den lebhaften Schilderungen ihrer Erfahrungen lauschten und dadurch wertvolle Kenntnisse über die Sitten, Gewohnheiten und Eigentümlichkeiten der Chinesen erlangten. Wir erhielten von der Dame auch Auskunft in Bezug auf Reisegelegenheiten in China und die besonders interessanten Sehenswürdigkeiten in Shanghai und dessen Umgegend.

Die jungen Damen an Bord wurden von Allen ihres bescheidenen und taktvollen Benehmens wegen geachtet und bewundert. Das Reiseziel der ältesten dieser jungen Damen war ebenfalls Shanghai, in China, wo sie sich dem Missions-Dienste widmen wollte. Sie hatte diesem Beruf ihr ganzes zukünftiges Leben geweiht und wollte ihre Fähigkeiten als Musiklehrerin fernerhin dazu verwenden, der chinesischen Jugend christliche Kirchenlieder beizubringen. Wir wünschten ihr Alle den besten Erfolg, konnten uns aber auch gleichzeitig eines Gefühles des Mitleides nicht erwehren. Ich hörte, dass diese Dame in Pittsburg geboren sei. Die jüngste unserer Mitreisenden war die Tochter eines Missionärs, der in Amoy, China, stationiert war. Ihre Eltern lebten dort schon viele Jahre, sie aber war zur Erziehung nach den Vereinigten Staaten geschickt worden, hatte sich dort sechs Jahre aufgehalten und begab sich, nachdem ihre Ausbildung vollendet war, in ihre Heimat zurück. Die dritte junge Dame, von der wir sehr wenig sahen, da sie während des größten Teiles unserer Reise in ihre Kabine gebannt war, hatte Yokohama zu ihrem Reiseziel erkoren. Sie sollte dort eine verantwortliche Stellung in einem großen Geschäfte einnehmen.

Unser männlicher Mitreisender war Kapitän Nelson von der Vereinigten Staaten Flotte. Er war abkommandiert, um sich beim Geschwader des Stillen Ozeans zu einer dreijährigen Kreuzfahrt zu melden. Kapitän Nelson war ein Reisegefährte, wie er im Buche steht. Wir verdanken ihm eine Masse höchst wertvoller Ratschläge und Anleitungen in Bezug auf unsere Reise durch China und Japan. Er war immer guter Laune, auch wenn die Aussichten noch so düster waren und es gab Niemanden an Bord, der zu irgend einer Zeit auch nur einen Anflug von Furcht, oder Angst bei ihm bemerkt hätte. Er und die Missionarin waren die einzigen Passagiere der ersten Kajüte, die regelmäßig beim Klange der Glocke sich bei Tisch einfanden und mit bestem Appetite ihr Mahl verzehrten. Sie erschienen bei jeder Mahlzeit, klagten immer über schlechten Appetit, ließen aber, wie mir der Steward James nachher im Vertrauen mitteilte, nie einen Gang an sich vorübergehen, ohne ordentlich zuzugreifen.

Um wieder auf unsere Reise zurückzukommen, will ich sagen, dass wir an einem Sonntag Nachmittag um zwei Uhr, am neunundzwanzigsten Tage unserer Reise, durch die freudige Nachricht überrascht wurden, dass unsere lang gehegten Hoffnungen sich der Erfüllung nahten und wir innerhalb ganz kurzer Zeit Japan erreicht haben würden. In nebelhaften Umrissen konnte man bereits in weiter Ferne das „gelobte Land“ sehen. Bei dieser Nachricht stürzte Alles auf das Deck. Die höchste Aufregung hatte sich Aller bemächtigt und herrschte noch längere Zeit vor. Mit Aufwand aller unserer Sehkraft blickten wir nach Westen hin, wo in weiter, weiter Ferne am Horizont ein unbestimmtes, nebeliges Etwas zu sehen war, das sich beim schärferen Hinsehen, mit Hilfe der Ferngläser der Offiziere, bald als schwacher Umriss der zackigen japanesischen Küste erwies.

„Wir werden noch vor Abend in Yokohama Anker werfen,“ sagte der Kapitän, und wie dem durstigen und müden Wanderer in der Wüste die Verkündung, dass eine Oase in der Nähe sei, so glückverheißend erschien uns die Nachricht, und mit Inbrunst wünschten wir, dass sie sich erfüllen möge. Unsere Erfahrungen zur See waren in der Tat dazu angetan, selbst in der auf das Seeleben erpichtesten Teerjacke den Wunsch rege zu machen, wieder einmal Land zu sehen. Für die ausgezeichnete Behandlung auf dem Schiffe von Seiten der Offiziere können wir kaum geeignete Worte finden, die unseren Dank vollständig auszudrücken vermögen. Kapitän Cobb, Proviantmeister Freeman, der erste Steuermann Hart, Fracht-Clerk Donohue, Clerk Wells, Dr. Reardon, Ingenieur Herland, und ganz besonders Stewart James, Hilfs-Stewart Bede, sowie der Wächter Scott, taten Alles was in ihren Kräften stand, um uns den Aufenthalt an Bord des Dampfers so angenehm als möglich zu machen. Sie wetteiferten mit einander um uns Gefälligkeiten zu erweisen und versagten uns Nichts, das auf dem Schiffe zu haben war. Mit einem Worte, wir schalteten und walteten während der ganzen Reise auf dem Dampfer, als ob er uns gehörte. Wir werden ihrer Freundlichkeit stets gedenken und hoffen, dass wir einst Gelegenheit finden, uns für die große Liebenswürdigkeit erkenntlich zeigen zu können.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Reise um die Welt im Jahr 1884-1885