XIV. Im Hause des Präsidenten hatte der Weihnachtsabend heiterer begonnen. Wenn schon nicht Alle fröhlich waren, so herrschte doch das innigste Wohlwollen unter den Mitgliedern des kleinen Kreises, ...

XIV. Im Hause des Präsidenten hatte der Weihnachtsabend heiterer begonnen. Wenn schon nicht Alle fröhlich waren, so herrschte doch das innigste Wohlwollen unter den Mitgliedern des kleinen Kreises, und Therese war bemüht, die Lust der Andern nicht durch ihre Traurigkeit zu stören.

Die schönsten Erzeugnisse des Luxus hatte der Präsident mit verschwenderischer Liebe für Therese, Eva und Agnes herbeigeschafft; die Freude der beiden jüngern Damen war so ungekünstelt und wahr, daß sie die Uebrigen mit sich fortriß.


Wie fröhliche Kinder betrachteten sie bewundernd die verschiedenen Gaben. Schäkernd steckte Eva einen Strauß künstlicher Orangenblüten in Agnes’ Haar, die Theophil dieser geschenkt, während sie sich ein Flacon an kleinem, goldenem Kettchen umhing und es, ohne daß es Jemand gewahrte, leise an ihre Lippen drückte. Der Präsident hatte es ihr gegeben.

Mitten unter den Aufforderungen zu Lust und Scherz drängte sich aber heute ein Bild in Julian’s Seele, das er nicht zu verscheuchen vermochte und das sich unheimlich vor sein Auge stellte, wenn es mit unendlicher Theilnahme an Agnes hing. Er hatte die spätern Stunden des vorigen Weihnachtsabends mit Sophie verlebt, sie war so glücklich gewesen, wie diese Frauen um ihn her – wie mochte es ihr heute wol ergehen?

Zum ersten Male seit langer Zeit dachte er ihrer mit lebhaftem Bedauern. Er besaß eben so wenig die Willenskraft, dem Begehren zu widerstehen, das ihn zu einer Frau zog, als es ihm möglich war, ein Verhältniß fortzusetzen, wenn es ihm keinen Genuß mehr bot. Er fühlte nicht die geringste Liebe für Sophie, nicht die mindeste Sehnsucht nach ihr, aber es schmerzte ihn, sie unglücklich zu wissen, sie, der er so viel Entzücken verdankt. Er hätte nichts für sie thun mögen, was zu erneuter Annäherung führen konnte, nur leidend, ohne einen Strahl der Freude, wollte er sie an dem Feste nicht wissen. Er stellte sich vor, wie sie einsam vergangener glücklicher Zeiten gedenken werde, und eilte mit einem gleichgültigen Vorgeben davon, und auf die Straße hinunter.

Der Laden einer Blumenhändlerin war bald erreicht, ein Rosenstock von seltener Schönheit gewählt und ein Bote gefunden, ihn in Sophien’s Wohnung zu tragen. Sie sollte und konnte nicht ahnen, woher ihr die Gabe käme, nur eine Freude sollte sie empfinden, und beruhigter durch das Bewußtsein, sie ihr bereitet zu haben, kehrte er in seine Behausung zurück, wo er über die lachende Gegenwart bald wieder der Vergangenheit vergaß, und wo die augenblickliche Wehmuth freudigern Gefühlen wich.

Agnes, die sich seit einiger Zeit in ängstlicher Befangenheit von dem Präsidenten entfernt gehalten hatte, was sie ihm nur noch reizender machte, schien heute mit der Freude an dem Kinderfeste auch die alte Sorglosigkeit wiedergefunden zu haben. Sie sprach von der Art, in der das Fest in ihrem väterlichen Hause gefeiert werde, tausend lachende Erinnerungen aus der Kindheit schwebten ihr vor, und Eva überbot sie noch in lustigen Schwänken, so daß man in fröhlichster Stimmung beisammen var, als plötzlich bleich und verstört Alfred unter sie trat.

Alle blickten ihn erschrocken an. Theophil trat an Thereen’s Seite, als ob er sie damit vor der Erschütterung bewahren könne, aber Alfred beachtete es nicht. Er schritt auf Therese zu, bot ihr die Hand und sagte: Ich mußte Sie heute doch wenigstens noch sehen.

Erschöpft sank er darauf in den Sessel neben Therese, die Andern standen schweigend umher, er sah so verstört aus, daß selbst der Präsident das rechte Wort, diesem unerwarteten Ereignisse gegenüber, nicht gleich fand, besonders da ein heftiger Schmerz in Kopf und Brust ihn plötzlich überfiel. Er hatte ihn schon leicht empfunden, als er von seinem Einkauf für Sophie zurückgekehrt war, den er in gewohnter Schnelle auszuführen geeilt, ohne sich gegen die empfindliche Kälte des Abends zu schützen. Jetzt, durch die Erschütterung schien das Uebel sich zu verdoppeln und nur mühsam brachte er die Worte hervor: Du hättest nicht kommen sollen, Alfred!

Zugleich preßte er die Hand gegen die Stirne und sagte: Beunruhigt Euch nicht, es wird vorübergehen, aber mir ist unwohl. Er wollte das Zimmer verlassen, konnte jedoch, von betäubendem Schwindel erfaßt, die Thüre nicht mehr erreichen und ließ sich bewußtlos auf das Sopha fallen, zu dem seine erschreckten Freunde ihn geleiteten.

Man trug ihn mit Hilfe seines Dieners in sein Zimmer, Theophil eilte den Arzt herbeizuholen und dieser erklärte, daß irgend eine bedeutende Krankheit im Anzuge sei, daß man jedoch nicht bestimmen könne, was es werden würde. Vor der Unruhe, welche dies Ereigniß mit sich brachte, vor der ängstlichen Sorge um den Präsidenten trat das unerwartete Erscheinen Alfred’s in den Hintergrund. Niemand dachte mehr daran. Alfred half mit Theophil mancherlei Vorkehrungen treffen, die für den Kranken nöthig waren, da man die Dienerschaft fortgesendet, um einen Chirurgen und die Mittel herbeizuschaffen, welche der Arzt schleunig anzuwenden verordnet hatte. Bei diesen Beschäftigungen kam er in Julian’s Nähe, der seit einigen Augenblicken die Besinnung wiedergewonnen hatte; er winkte Alfred zu sich heran, und sagte, trotz seines Leidens über sich selbst spöttelnd: Ich muß büßen, weil ich so schwach war, Reue zu empfinden. Aus Sentimentalität kaufte ich einen Blumenstock für Sophie, da packte mich der Nordwind in den Straßen – – Heftige Schmerzen schlossen ihm den Mund; als sie nachließen, wendete er sich nochmals zu Alfred mit den Worten: Mache die Verwirrung nicht größer; suche Dir und uns Frieden zu schaffen – und verlasse Sophie nicht –

Dann fiel er in einen Zustand der Betäubung, aus dem ihn die angewendeten Mittel nicht zu reißen vermochten; die Freunde entfernten sich und Therese blieb allein wachend an dem Lager des theuren Kranken zurück.

Aengstlich auf seine ungleichen Athemzüge lauschend, schwanden ihr die Stunden hin. Von den traurigsten Bildern der Zukunft wendete sich ihr inneres Auge den Erlebnissen der letzten Stunden zu. Alfred’s unverhoffte Ankunft, Julian’s Erkranken, der eben noch in Fülle der Gesundheit dagestanden, das Alles war so plötzlich und gewaltsam gewesen, daß es sie fast unmöglich dünkte. Sie kannte Alfred zu genau, um nicht zu wissen, daß er einen langen Kampf gekämpft hatte, ehe er gekommen war; sie konnte an der Sehnsucht, die sie den ganzen Abend gehegt, ihn nur einen Augenblick zu sehen, das Verlangen ermessen, das ihn zu ihr geführt hatte. Wie mußte er gelitten haben, um so erschöpft zu werden, als sie ihn gesehen? Und wenn auch er erkrankte? Wenn das qualvolle Leben, das er an der Seite seiner Frau führte, ihn aufreiben sollte? Wenn Alfred stürbe? – Sie ertrug den Gedanken nicht, weil eine innere Stimme ihr zurief: Du bist es, die ihn in den Tod schickt – und sie sah ihn sterben.

Schaudernd bebte sie zusammen und blickte in dem dunkeln Zimmer umher, sich zu überzeugen, daß nur ihre Phantasie ihr die entsetzlichen Bilder vorspiegele. Dabei fiel ihr Blick auf ein Päckchen, das sie vorher nicht bemerkt hatte. Sie glaubte, es könne irgend ein Medikament darin enthalten sein, das man aus Vorsorge hingelegt, und trat leise an den Tisch, es zu untersuchen.

Es war an sie adressirt. Beim Oeffnen fielen ihr lose, beschriebene Blätter entgegen, Gedichte und Aufsätze von Alfred’s Hand. Dabei lag ein Brief, dessen flüchtige, unregelmäßige Schriftzüge, abweichend von der schönen Regelmäßigkeit seiner Schrift, deutlich das Gepräge der Aufregung trugen, mit der sie auf das Papier geworfen waren. Das Schreiben lautete:

„Mein Felix ist zur Ruhe gegangen, ich bin allein in meinem Zimmer. Was sage ich! allein? – Steht nicht Dein geliebtes Bild mit dem Zauber seiner stillen Weiblichkeit vor mir? Ich breite meine Arme verlangend nach Dir aus, die Sehnsucht der letzten qualvollen Zeit, den Schmerz des heutigen Abends aufzulösen in dem einzigen Gedanken: Ich liebe Dich.

Eine neue Offenbarung ward, nach dem lieblichen Glauben des Christenthums, leuchtend geboren in dieser Nacht. Ein Stern ging auf an dem dunkeln Himmel. Du bist der Stern, der in mein Leben geleuchtet, von Dir wende ich mein Auge nicht ab, Dir muß ich gläubig folgen, wie die Könige aus dem Morgenlande dem Stern im Osten.

Ich habe gethan, was Du verlangst. Ich leide in Ketten, die mich erdrücken – bist Du frei, bist Du glücklich dadurch geworden?

Mitten aus der kalten Eisregion, in der ich lebe und in der mein Herzblut stockt, ließ das Andenken an Dich diese Blüthen entstehen, glühend, wie die heißen Tropfen, die der Schmerz aus meinem Herzen hervorpreßt.

Du hast sie geschaffen, Du allein sollst sie sehen. Nimm sie hin!“

In tiefer Erregung kehrte sie an das Krankenbett zurück. Gewiß hatte Alfred ihr diese Blätter senden wollen, dann aber mußte der Wunsch, sie zu sehen, übermächtig geworden sein und er hatte sie ihr gebracht, er war selbst gekommen.

Was sollte sie beginnen? Alfred von den Pflichten abwendig machen, die er und Julian für bindend erklärt, das konnte und durfte sie nicht. Sie sah, daß er die Ruhe nicht gefunden hatte, die sie für ihn erhofft, sie ward auch ihr nicht zu Theil, so sehr sie danach strebte. Was erwartete Alfred? Was konnte er begehren, da sie ihm jede Hoffnung genommen hatte, die Seine zu werden? Aber scheidet das arme Menschenherz denn von seinen Wünschen, so lange ihm noch der Schatten einer Möglichkeit bleibt, sie zu erreichen?

Mit einemmale tauchte in diesem Augenblicke der Gedanke in ihr empor: Wie! wenn ich eine unumstößliche Scheidewand zwischen uns stellte? Theophil’s großmüthige Bewerbung fiel ihr ein. Er kannte ihre Liebe für Alfred seit langer Zeit, er bot ihr dennoch seine Hand. Wenn sie sie annähme, wenn sie Theophil’s Frau würde? Wie dankbar wollte sie einem Manne sein, der sie und mit ihr Alfred von den Leiden erlösete, aus denen sie keinen andern Ausweg sah.

Alfred mußte sich dann beruhigen, er mußte sie zu vergessen suchen, er konnte die Frau eines Andern nicht begehren, sagte sie sich. Aber liebte sie selbst nicht Carolinen’s Gemahl, und hatte sie trotz aller Kämpfe aufgehört, ihn zu lieben? – Hier von dem Krankenlager des einzigen Bruders, das sein Todtenbett werden konnte, schweifte ihre Seele noch zu Alfred hinüber. Sie konnte des Bruders Leiden für Augenblicke vergessen, sie wollte Theophil’s Gattin werden und trug das Bild eines Andern unauslöschlich im Herzen. Theophil, den hingebenden, vertrauenden Freund wollte sie für Alfred opfern, sich selbst zu einer Ehe erniedrigen, die den Keim des Unglücks in sich schloß, weil sie auf Unwahrheit gegründet war.

So weit hatte sie sich schon von der schlichten Pflichterfüllung entfernt, die ihr Ziel gewesen war seit frühester Jugend, und wo war das Ende dieser Leiden? – Angstvoll prüfte sie ihre Handlungen, blickte in die verborgensten Falten ihrer Seele und der Gedanke, sie könne in redlichster Absicht falsche Wege gewandelt sein, fing an sie zu martern, als Julian sich unruhig umherwarf und eine Hilfsleistung von ihr verlangte. Der lethargische Schlummer, der ihn bis dahin gefesselt, machte einem heftigen Fieber Platz. In beängstigenden Phantasien ergriff er die Hände der Schwester, und regungslos, die Augen in tödtlicher Angst auf Julian’s bleiches Gesicht geheftet, kniete sie an seinem Lager, bis die ersten trüben Strahlen des Wintermorgens in das Zimmer fielen und mit der Nacht die wilden Träume des Kranken zu fliehen schienen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Lebensfrage. Zweiter Teil.