XV. In den Stürmen, welche Alfred’s Leben bewegt, hatte er Sophien’s weniger gedacht und sie fast gar nicht gesehen. Julian’s Bitte, sie nicht zu verlassen, fiel wie ein Vorwurf in seine Seele ...

XV. In den Stürmen, welche Alfred’s Leben bewegt, hatte er Sophien’s weniger gedacht und sie fast gar nicht gesehen. Julian’s Bitte, sie nicht zu verlassen, fiel wie ein Vorwurf in seine Seele und schon am frühen Morgen des ersten Feiertages schickte er sich an, sie aufzusuchen. Briefe und Journale, die ihm gebracht wurden und die er lesen mußte, hielten ihn davon ab.

Der Verwalter sendete ihm den Abschluß der Jahresrechnung, der höchst günstig ausgefallen war, als Weihnachtsgabe. Alfred sah die Papiere nicht an, jede praktische Beschäftigung war ihm lästig geworden. Der Besitz großer Reichthümer hatte so wenig zu seinem Glücke beigetragen, daß es ihm gleichgültig schien, wenn zu den Summen, die er besaß, sich noch neue ansammelten. Klagen seiner Arbeiter, Bitten um Erlaß von Abgaben blickte er flüchtig durch, und suchte durch Befehle, die er an den Rand schrieb, den Beschwerden abzuhelfen, die Forderungen zu gewähren. Aber das Alles war ihm nicht mehr Lust und Bedürfniß wie früher; er that es, um es abgethan zu haben. Er fühlte sich kalt dem Kummer der Armen gegenüber, er hatte nur Sinn für die eigenen Leiden.


Anfragen seines Buchhändlers, Kritiken seiner letzten Arbeiten legte er ungelesen von sich. Was war ihm das Urtheil der Menge? Konnte es ihn beglücken? Konnte Ruhm ihn vergessen machen, was er entbehrte?

Mit Erschrecken empfand er, wie er gleichgültig geworden sei gegen Alles, was ihm einst erfreulich und theuer gewesen, weil Ein Wunsch jedes andere Interesse überwog und ertödtete. Er kam sich abgestorben vor und legte misgestimmt die Papiere wieder fort, als ihm ein schwarzgesiegelter Brief in die Hände fiel, den er noch nicht eröffnet hatte. Die Handschrift war ihm fremd, er sah nach der Unterschrift und fand Ruhberg’s Namen. Mit bedauernden Phrasen und schlechtverhehlter Freude kündete er Alfred den Tod des Domherrn Fernow an und meldete, daß er gleich nach Neujahr in die Stadt kommen werde, wo er die Ehre zu haben hoffe, Frau von Reichenbach, sein geschätztes Beichtkind zu begrüßen. Er bat Alfred, den kleinen Streit, der zwischen ihnen vorgefallen sei, zu vergessen, da der Domherr sterbend den Wunsch ausgesprochen habe, sie möchten sich zu christlicher Versöhnung geneigt finden lassen. Er schloß mit der Versicherung, wie er den innigsten Antheil an dem guten Einverständniß der Eheleute nehme, das er zu seiner großen Freude zum Theil als sein Werk betrachten dürfe.

Die Heuchelei erfüllte Alfred mit Verachtung, und die Aussicht, den verhaßten Ruhberg bald in seiner Nähe zu wissen, war ihm eben so unangenehm, als der Tod des Domherrn schmerzlich. Er hatte einen treuen, zuverlässigen Freund in ihm verloren, einen liebenswürdigen Gutsnachbar, und seine Besitzungen einen geistlichen Hirten, der klar die Bedürfnisse der Zeit verstand und nach diesem Verständniß handelte.

Er trug den Brief in Carolinen’s Zimmer. Sie kam aus der Messe und hatte dort von andern Damen das plötzliche und gefährliche Erkranken des Präsidenten erfahren. Sie theilte es ihrem Manne mit, ohne zu ahnen, daß dieser bei dem Vorfalle gegenwärtig gewesen sei, und fragte ihn, ob er nicht hingehen werde, den kranken Freund zu besuchen.

Alfred, von dem Vorschlag aus ihrem Munde überrascht, mochte seine Befremdung darüber nicht genug verbergen, so daß Caroline seine Hand ergriff und sagte: Glaubst Du denn, Alfred, ich hätte kein menschliches Gefühl? Therese dauert mich sehr, sie wird Trost nöthig haben, gehe doch zu ihr.

Er war von diesen Worten bewegt, er wußte sie ihr Dank und hätte sie umarmen mögen, wäre ihm nicht das Bewußtsein störend gewesen, er habe seiner Frau den gestrigen Besuch in Julian’s Hause und die Widmung der Gedichte an Therese zu verschweigen. Er fühlte, wie die Nachsicht seiner Frau allein im Stande wäre, ihm das Opfer möglich zu machen, das er sich auferlegte. Er sagte ihr das offen, wie er es ihr bei ihrer ersten Zusammenkunft in Berlin gesagt, aber dies Vertrauen verstand sie nicht zu würdigen.

Sei immer so gut, Caroline! bat er, lehre mich, Dich wieder zu lieben, laß mich eine friedliche Heimath in meinem Hause finden, in der ich ausruhe von dem Kampf meiner Seele. Wir sind durch unsere Schuld in Verwirrungen mancher Art gerathen, stehe mir bei, uns daraus zu erlösen; Du kannst es durch Güte und Sanftmuth. Mein Wille war redlich und gut und mein Kampf ist schwer.

Sie versprach mit tausend Schwüren Alles, was er verlangte. Sie war nicht böse, aber ihre Seele hatte Schaden genommen in ihrer unglücklichen Ehe. Von jedem Aufschwung ihres bessern Gefühls sank sie in die Schwächen zurück, die ihr zur zweiten Natur geworden waren. Sie fühlte nicht, welche Ueberwindung es Alfred kosten mußte, vor ihr seiner Liebe und seines Kampfes zu gedenken; sie begriff das ehrende Vertrauen nicht, das in seiner Bitte lag, ihm durch Güte und Nachsicht beizustehen. Es schien ihr, als müsse Alfred seine Liebe, die sie seit lange kannte, vor ihr verbergen; und doch fehlte ihr die Schonung, dasjenige nicht errathen zu wollen, was er nach ihrer Meinung nicht gestehen durfte.

Sie gehörte nicht zu den großen Frauenseelen, denen es möglich ist, in solchen Verwirrungen wie ein rettender Schutzgeist zu helfen und sie zu lösen. Ihr fehlte das einzige untrügiche Mittel dazu, die Selbstverleugnung und das rückhaltlose Hingeben an das Herz des Mannes. Hätte Caroline das vermocht, hätte sie den Muth und die Liebe besessen, Alfred Zeit zu gönnen, hätte sie sich zu seiner Vertrauten zu machen gesucht, so würde das Gefühl des gerechten Dankes, das sie ihm eingeflößt, zu einem neuen und dauernden Bande zwischen ihnen geworden sein. Aber diese Seelengröße war ihr nicht gegeben.

Schon nach wenig Augenblicken bereute sie es, Alfred zu dem Besuche bei Therese aufgefordert zu haben, und sann auf Mittel, ihn dorthin zu begleiten, als ihm ein Diener ein Billet überbrachte. Es war von Therese und enthielt nur die Worte: „Julian hat ein Nervenfieber, sein Leben ist in Gefahr. Kommen Sie nicht zu mir, ich darf und will nichts denken, als ihn. Ich beschwöre Sie, kommen Sie nicht!“

Er las das Blatt und steckte es zu sich, ohne etwas zu sagen. Caroline hatte in der Adresse eine weibliche Handschrift zu erkennen geglaubt und begehrte in hellauflodernder Eifersucht zu wissen, was das Billet enthalte. Alfred wich Anfangs ihren Forderungen aus, endlich, da sie immer dringender ward, gab er ihr das Blättchen.

So hast Du sie dennoch wiedergesehen! rief sie aus. O! ich Thörin, ich glaubte, Du würdest dazu meiner Erlaubniß bedürfen! ich Thörin, die in blinder Gutmüthigkeit Dich bat ihr Trost zu bringen.

Caroline! sagte Alfred, ich habe Therese nur einmal gesprochen, ohne daß Du es weißt. Ich hatte mir’s gelobt, sie nur in Deinem Beisein zu sehen; aber der Unfriede des gestrigen Abends lastete zu schwer auf mir. Das Mistrauen hatte mich erbittert, mit dem Du Therese und mich auf’s Neue beleidigtest; mich erdrückte gestern Abend die Freud- und Lieblosigkeit in unserm Hause und fast ohne daß ich es wollte, fand ich mich in Theresen’s Nähe nach langem einsamen Umhergehen wieder.

Spare die Entschuldigung, meinte Caroline, außer sich vor Zorn, ich glaube Dir nicht mehr, und Du und sie Ihr verdient keinen Glauben.

Alfred, einer der wahrhaftesten Menschen, empfand diesen Vorwurf schwer, ein neuer, lebhafter Streit entstand. Er endete mit solcher Erbitterung von beiden Theilen, daß sie sich im Laufe der nächsten Tage zu begegnen vermieden und sich auswichen, wenn sie zufällig irgendwie zusammentrafen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Lebensfrage. Zweiter Teil.