IV. Alfred fuhr die ganze Nacht hindurch. Er konnte nicht schlafen, denn sein Gemüth war zu aufgeregt durch das Scheiden von seiner Frau; all seine Gedanken wendeten sich der Heimat zu...

IV. Alfred fuhr die ganze Nacht hindurch. Er konnte nicht schlafen, denn sein Gemüth war zu aufgeregt durch das Scheiden von seiner Frau; all seine Gedanken wendeten sich der Heimat zu. Er sah seine Frau weinen, seinen Sohn nach dem Vater verlangen, das kleine Arbeitscabinet leer. Eine tiefe Wehmuth überfiel ihn, und wieder und immer wieder gedachte er prüfend der letzten Jahre, um sich zu überzeugen, daß der Schritt nothwendig, ja daß er unerläßlich gewesen sei, den er am Abende gethan hatte.

Diese Ueberzeugung beruhigte ihn allmälig, so daß er mit einer Art von Heiterkeit und mit einem Gefühl von Freiheit in die Natur hinausblickte, als ein frischer Windhauch seine Stirne kühlte und der junge Morgen die Erde beleuchtete. Es war ihm, wie in jenen Tagen erster Jugend, in denen man bei jedem Schritte aus dem gewohnten Kreise besondere Begebenheiten erwartet und Abenteuer träumt; und wirklich bereitete sich, während er über sich lächelte, ein ganz artiges Ereigniß für ihn vor.


Eine halbe Stunde näher zur Residenz fuhr ebenfalls ein eleganter, von Postpferden gezogener Reisewagen auf der Chaussee. Die Fenster desselben waren geschlossen, Postillon und Diener waren eingeschlafen, die Pferde gingen ruhig den oft gemachten Weg. Plötzlich, als die Straße sich senkte, trat das eine Pferd über die Deichsel und fiel nieder. Das erweckte den Postillon, er zerrte an den Zügeln, um das Thier zum Aufstehen zu bewegen, das sich in vergeblichen Bestrebungen hin und her warf. Man hörte ein leises Knacken und der Postillon erklärte fluchend dem indeß erwachten und abgestiegenen Diener, daß die Deichsel zerbrochen sei.

Da fielen zu beiden Seiten des Wagens die Fenster nieder und aus jedem sah ein Frauenkopf hervor. Während aber die eine Dame verwirrte Fragen an den Postillon richtete, befahl die andere, ihr den Wagenschlag zu öffnen, und stieg aus. Sie überzeugte sich bald von der Unmöglichkeit, den Wagen zur Weiterreise herzustellen, erfuhr, daß man etwa in der Mitte der Station, also eine Meile von den beiden nächsten Posthäusern entfernt sei, und faßte den Entschluß, in Begleitung des Dieners bis in das nächste Dorf zu gehen und nachzufragen, wie man sich dort helfen könne.

Während dessen hatte sich die andere Dame ganz ruhig in die Wagenecke zurückgelehnt und schien wirklich noch zu schlummern, als die Ausgestiegene sie freundlich zu ermuntern strebte. Komm Eva, komm! sagte sie, wir wollen uns auf den Weg machen! Wir müssen vorwärts! Es hilft uns Nichts.

Auf den Weg machen? – Gehen? – fragte Eva, wir Beide allein, hier in der fremden Gegend, das ist ja unmöglich!

Der Wille ihrer Freundin mußte aber wohl bestimmenden Einfluß auf sie üben, denn trotz ihrer Einwendungen schickte sie sich an, den Wagen zu verlassen, nachdem sie sich fest in den rothen Plaidmantel gehüllt, die seidene Capotte aufgesetzt und sich überzeugt hatte, daß das Spitzenhäubchen nicht vom Schlafe gelitten hätte. Die ältere der Beiden ließ darauf den Wagen schließen, befahl dem Postillon zur Bewachung desselben zurückzubleiben und schritt dann ruhig, Eva’s Arm in den ihren legend, von dem Diener begleitet, die Poststraße hinan.

Sie schien mit rechter Wonne des schönen Morgens zu genießen, während Eva über den Thau, über Ermüdung und über tausend andere Unbequemlichkeiten klagte, und endlich ganz vergnügt ausrief: Ach Gott sei Dank! da höre ich ein Posthorn, da kommt gewiß die Schnellpost, da können wir mitfahren, hoffe ich!

Es fragt sich, ob Plätze für uns frei sein werden, wendete die Freundin ein.

Nun, wenn die Post voll ist, so sind doch gewiß auch Herren darin, die uns ihre Plätze abtreten. So ungalant wird doch kein Mann sein, daß er in dem großen Wagen vorüberfährt und uns auf der staubigen Chaussee zurückläßt.

Schnellpostreisende pflegen Eile zu haben, entgegnete Therese, und kein Gewerbe von ritterlicher Galanterie zu machen. Zudem scheint mir das nicht das Signal der Schnellpost, sondern das einer Extrapost zu sein, und damit werden Deine Hoffnungen noch ungewisser.

Das wäre aber schrecklich! Ich bin so müde von dem Fahren in der Nacht. Ich kann so weit nicht gehen, klagte Eva, von der plötzlichen Heiterkeit wieder in ihre frühere Verstimmung zurücksinkend.

Therese sprach ihr Muth ein, Eva hörte es schweigend mit an, und sie gingen auf’s Neue vorwärts, als das Posthorn abermals und ganz in ihrer Nähe ertönte. Alfred’s Wagen hielt vor ihnen, er stieg aus und begrüßte sie.

Ich habe Ihren Wagen auf dem Wege liegen gefunden, sagte er, und von dem Postillon gehört, daß Sie, meine Damen, mit mir dasselbe Ziel verfolgen. Wollen Sie mir die Ehre erzeigen, meinen Wagen zu benutzen?

Sie sind sehr liebenswürdig, sagte Eva.

Sie haben aber in Ihrer Kalesche nur für zwei Personen Platz, was wird aus Ihnen? fragte Therese.

Ich werde mich neben den Postillon setzen, mein Diener mag mit dem Ihrigen uns bis in das nächste Dorf zu Fuß nachkommen. Es würde mir eine Freude sein, Ihnen zu dienen. Mein Name ist von Reichenbach.

Der Name schien Therese sehr angenehm zu überraschen. Sie sah Alfred mit sichtlichem Vergnügen an und sagte dann: Wie wäre es, wenn wir Alle bis in das nächste Dorf gingen, dessen Thurm wir schon deutlich sehen? In der großen Stadt wird uns nicht leicht ein so frischer Morgen zu Theil werden. Finden wir im Dorfe nicht die Möglichkeit, weiter zu kommen, ohne Herrn von Reichenbach zur Last zu fallen, so wollen wir dankbar seinen Wagen bis zur nächsten Station benutzen. Plötzlich, sich an Eva’s Klagen erinnernd, fragte sie diese: Aber Du möchtest wohl lieber gleich einsteigen, Eva? Du warst ermüdet.

Ich? Nicht im geringsten! antwortete diese ganz fröhlich und munter, und in Reichenbach’s Begleitung machte man sich auf den Weg.

Neben den Damen einhergehend, hatte er die Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Die ältere von Beiden war groß und schlank, aber nichts weniger als schön. Weiches blondes Haar umgab in breiten Flechten eine edle Stirn, die mit großen, dunkeln Augen dem Gesicht einen anziehenden Charakter gab. Ihr Teint war zart doch farblos. Sie mochte fast dreißig Jahre alt sein und sah ruhig und verständig aus. Ihre sehr einfache Kleidung paßte ganz zu ihrer Erscheinung und fiel deshalb nicht als etwas Besonderes an ihr auf. Alfred war gewiß, eine Frau aus den höhern Ständen in ihr zu sehen, denn in ihrem Betragen gegen ihre jüngere Freundin lag das sichere Bewußtsein einer Selbstständigkeit, die dieser zum Schutze diente.

Eva war sehr klein und das rosigste Bild der Jugend. Noch heller blond als Therese, hatte sie schöne blaue Augen, die übermüthig froh in die Welt blickten. Ihre kleine Stumpfnase, die üppigen Lippen waren nicht gerade regelmäßig schön, aber das ganze Gesicht so voll blühenden Lebens, daß man es, mit den tiefen Grübchen in Wange und Kinn, höchst reizend finden mußte.

Auch war die muntere Eva es, die zuerst eine Unterhaltung begann. Es bleibt immer ein mislich Ding, sagte sie, wenn Frauen allein reisen. Wie leicht entsteht ein Unfall und dann steht man hilflos da.

Und doch warst Du es gerade, die sich sehr darauf freute, ohne männliche Begleitung zu sein, die sogar mit der Schnellpost und ohne Diener reisen wollte, entgegnete Therese.

O! das war nur ein Einfall, eine Laune, weil mein Mann immer behauptete, Frauen könnten und dürften sich nicht allein auf Reisen begeben.

Ihr Mann? fragte Alfred verwundert, der sie für ein Mädchen gehalten hatte.

Mein verstorbener Mann, ich bin Witwe! erklärte Eva mit so viel Wehmuth und Würde, als sie in sich erzwingen konnte. Sie sah dabei aber so schalkhaft aus, daß Alfred und ihre Freundin wider ihren Willen lächelten.

Sie haben, nahm die Letztere das Wort, uns Ihren Beistand angeboten, Herr von Reichenbach, dessen wir, wie ich besorge, nöthig haben werden; Sie müssen also doch erfahren, wer wir sind. Meine Freundin ist Frau von Barnfeld, die Wittwe des Majors von Barnfeld, und ich – sie hielt inne, sah Alfred freundlich an und fragte: Erinnern Sie sich meiner nicht, habe ich mich denn so sehr verändert?

Therese, Fräulein von Brand! rief Alfred lebhaft. Es ist mir unerklärlich, daß ich Sie nicht gleich erkannte; mir war der Ausdruck Ihrer Augen doch so deutlich in der Seele geblieben, und ich hatte Ihrer erst neuerdings sehr oft gedacht.

Ich erkannte Sie gleich, sagte Therese, indem sie dem alten Freunde die Hand bot, obgleich wir uns mehr als zehn Jahre nicht gesehen haben; denn so lange ist es sicher her, seit wir uns in Berlin einst trennten.

Gewiß, antwortete er. Als ich drei Jahre später dorthin zurückkehrte, war Ihre verehrte Mutter schon gestorben, Julian an den Rhein versetzt und Sie ihm dorthin gefolgt. Nun hoffe ich ihn in Berlin zu finden.

Er ist augenblicklich nicht dort. Er hat diesen Sommer eine große Reise gemacht, von der er erst in diesen Tagen wiederkehren soll. Deshalb habe ich Frau von Barnfeld überredet, mit mir aus dem Seebade auch etwas früher nach Berlin zu gehen, damit Julian mich, wenn er kommt, schon wieder häuslich eingerichtet und in Ordnung findet.

Von beiden Seiten freute man sich des unerwarteten Begegnens. Fragen und Antworten folgten einander schnell. Sie waren so lange getrennt gewesen, daß sie viel nachzuholen hatten. Therese fragte, was Alfred nach Berlin führe, ob er lange dort verweilen werde? Er antwortete, daß sein Sohn in dem Alter sei, in welchem Schulbesuch für ihn zum Bedürfniß werde, und daß die Erziehung seines Knaben es ihm wünschenswerth mache, künftig in Berlin zu leben.

Das ist schön, Herr von Reichenbach, das wird Julian sehr glücklich machen, sagte Therese. Hoffentlich kehren uns dadurch die guten Stunden wieder, in denen wir uns zuerst Ihrer Arbeiten erfreuen durften. Ich war freilich damals kein zuverlässiger Richter, bin es wohl auch jetzt noch nicht, doch machte es mir große Freude, wenn Sie mich fragten: Ist es so gut? habe ich’s so recht gemacht?

Und Sie haben mir immer den rechten Weg gewiesen, weil Ihr angeborner Schönheitssinn immer das Wahre und Schöne herausfand! Es war mit die glücklichste Zeit meines Lebens, und ich habe nie mit größerer Lust neue Arbeiten gelesen, als vor Ihrer Mutter, vor Ihnen und vor Julian. Wir haben recht frohe Stunden miteinander verlebt, sagte Alfred freundlich.

Bis dahin hörte Eva ruhig zu, dann aber ertrug sie es nicht länger, untheilnehmend bei einer Unterhaltung sein zu müssen, und rief: O, bitte! kommen Sie ein wenig aus der alten Vergangenheit in die Gegenwart zurück, zu der ich auch gehöre. Ich möchte Ihnen danken, Herr von Reichenbach, für den Genuß, den mir Ihre Werke gewährt haben. Mir ist, obgleich ich Sie nie vorher sah, als ob ich in Ihnen auch einen alten Bekannten wiederfände.

Das ist das Schöne in dem Leben eines Dichters, daß er sich Freunde erwirbt in weitester Ferne, wenn es ihm gelingt, jene Saiten zu berühren, die in jeder Brust wiederklingen. Wir senden die Empfindungen unseres tiefsten Innern als Gruß der Menschheit zu, und sie beantwortet ihn mit offnem Herzen, mit freundlichem Willkommen, wie Sie, meine gnädigste Frau! Das ist eine große Freude, haben Sie Dank dafür, sagte Alfred.

Bald darauf erreichte man das Dorf, fand, wie man es erwartet hatte, kein genügendes Fuhrwerk und fügte sich mit guter Art in Alfred’s Anerbieten. Die Diener beider Herrschaften blieben zurück; man legte ein drittes Pferd vor die Kalesche, das der Postillon bestieg, die Damen nahmen die Plätze in der Kalesche, Alfred den Kutschersitz ein. Das Ungewohnte der Lage stimmte die drei Reisenden sehr heiter. Unter Scherzen mancher Art erreichte man die Station und ließ sich von Alfred überreden, in derselben Weise seine Begleitung nach Berlin anzunehmen, das nur noch ein paar Stationen entfernt war.

Als die Damen einige Stunden mit Alfred zusammengewesen waren und abwechselnd mit ihm und untereinander geplaudert hatten, sagte Eva zu ihrer Freundin: Mir ist selten ein liebenswürdigerer Mann vorgekommen, als es Reichenbach zu sein scheint; selbst Dein Bruder ist nicht so angenehm.

Bist Du schon wieder wankelmüthig? fragte Therese neckend. Gestern erklärtest du mir, Julian sei, obschon er nichts weniger als hübsch, ja eigentlich sogar häßlich sei, der liebenswürdigste Mann, den Du noch je gekannt hättest.

Das ist auch wahr! denn daß Dein Bruder häßlich ist, das schadet nichts, sagte Eva lebhaft, ich liebe ihn dennoch. Er ist so geistreich, so liebenswürdig, so herablassend – – Siehst Du, das ist es, das ist das Schlimme! rief sie, sich plötzlich unterbrechend. Julian ist oft so gut, daß man sich ganz sorglos ihm gegenüber gehen läßt. Er gibt sich jedem Scherz, jeder Persönlichkeit freundlich hin, aber er thut es, wie Jemand, der sich aus Gnade dazu herabläßt. Während er ganz freundlich ist, zucken plötzlich seine Lippen, er kann den innern Spott nicht mehr verbergen, er lacht über die Andern und über seine Herablassung, und dann ist er mir unerträglich.

Du solltest ihm das einmal sagen, liebe Eva!

Ich habe ihm das oft gesagt, als ich ihn kennen lernte und er sein Vetterrecht, ich weiß nicht im wievielten Grade, dazu benutzte, mich häufig zu besuchen. Ich mußte mir Muth gegen Euch schaffen, ich hatte kindische Furcht vor Julian’s Spott und vor Deiner Ruhe. Ich konnte nicht begreifen, warum meine selige Mutter, als auch sie mir starb, durchaus verlangte, daß ich in Deiner Nähe leben und Julian der Verwalter meines Vermögens werden sollte. Jetzt freilich weiß ich, daß du mein guter Engel bist! – schloß sie, der Freundin die Hand bietend, die sie herzlich drückte.

In dem Augenblick wendete Alfred sich um und machte seine Schützlinge darauf aufmerksam, daß man die Stadt schon sehen könne. Therese, die wie ihr Reisegefährte ein sehr scharfes Auge hatte, entdeckte gleich ihm die Thürme am Horizonte. Die kurzsichtige Eva nahm ihr Glas zu Hilfe und klagte dann: Es ist ein Unglück, daß ich so klein bin, der große Kutschersitz raubt mir die Aussicht. Ich bin der ländlichen Freuden längst satt gewesen, ich denke mit Wonne an Berlin und nun kann ich es nicht einmal sehen.

Alfred, um sie zufrieden zu stellen, bot ihr seine Hände, sich daran zu erheben und festzuhalten, falls sie aufstehen wollte. Das nahm sie an und wußte sich vor Freude nicht zu lassen, als auch sie die Stadt erblickte.

Ach, rief sie der Freundin zu, mir ist unglaublich froh zu Sinne! Als ob uns jetzt lauter Liebes und Gutes in Berlin begegnen müßte und ganz Unerhörtes obenein. Ich habe noch nie einen Winter in Berlin verlebt, ich denke mir diese Bälle, Feste und Concerte gar zu prächtig! Ich wollte nur, die Bäume wären nicht mehr so sommerlich grün und der Winter wäre schon da!

Sie Glückliche! sagte Alfred, und es war Eva, als ob er ihre Hände leise in den seinen drückte. Wer so wie Sie nur Freude erwartet und Feste träumt, dem muß das Leben seine rosigste Seite gezeigt haben. Möge es immer so bleiben!

Und Sie erwarten nichts? fragte sie ihn.

Ich erwarte das Leben zu finden, wie es ist. Ernst mit gebieterischen Anforderungen, mit viel Leid und Elend, viel Jammer und Schlechtheit, und doch voll Freude und voll Großem und Erhabenem.

Eva sah ihn befremdet an. Dann setzte sie sich nieder und versank schweigend in Nachdenken, bis man die Stadtmauer erreichte. Alfred fuhr Therese erst nach ihrer Behausung in der Wilhelmsstraße, dann ging es nach Eva’s Wohnung unter den Linden. Mit Freude hörte sie, daß ihr Begleiter ganz in ihrer Nähe wohnen werde. Er mußte versprechen, sie gleich am nächsten Morgen zu besuchen, und man trennte sich herzlich, wie alte Bekannte, weil die gemeinsame Reise die Fremden einander näher gebracht und über manche Förmlichkeiten fortgeholfen hatte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Lebensfrage. Erster Teil.