Eine Lebensfrage. Erster Teil.

Von der Verfasserin der Clementine und Jenny.
Autor: Lewald, Fanny (1811-1889), Erscheinungsjahr: 1872
Themenbereiche
Inhaltsverzeichnis
  1. I. Alfred von Reichenbach, ein Mann in der Mitte der dreißiger Jahre, saß eifrig arbeitend vor dem Schreibtische in seinem Studirzimmer, ...
  2. II. Alfred war der Sohn adliger und edler Eltern. Den Vater hatte er wenig gekannt, die Mutter, welche ihn mit vollster Hingebung erzogen, war gestorben, ...
  3. III. Noch klang die Erinnerung an die letzten Streitigkeiten in Alfred’s mißmuthiger Stimmung fort, als schon ein neues Unwetter an seinem Ehehimmel heraufzog...
  4. IV. Alfred fuhr die ganze Nacht hindurch. Er konnte nicht schlafen, denn sein Gemüth war zu aufgeregt durch das Scheiden von seiner Frau; all seine Gedanken wendeten sich der Heimat zu...
  5. V. Am nächsten Morgen ließ sich Alfred bei Frau von Barnfeld melden. Er fand sie in einem Zimmer, das nach den Forderungen der Mode auf das glänzendste eingerichtet, ...
  6. VI. Abends um die neunte Stunde ging der Präsident in ein stattliches Haus der .... Straße, stieg zwei Treppen hinauf, öffnete mit einem Schlüssel, ...
  7. VII. Während der Präsident bei Sophien war, saß Alfred einsam in seinem großen Hause. So allein hatte er auch darin gelebt, bald nachdem es ihm mit der Erbschaft zugefallen war...
  8. VIII. Als Alfred an einem der folgenden Abende in das Zimmer des Freundes trat, fand er ihn in Aktenstößen vergraben, mit einem seiner Beamten über eine Rechtsfrage verhandelnd...
  9. IX. Am folgenden Tage langte, wie man es erwartet hatte, Teophil an und fand sich bald heimisch in dem Hause und der Gesellschaft seiner Gastfreunde. Er war ein hübscher, ...
  10. X. Ich komme, Dich zu fragen, sagte an einem der nächsten Tage Herr von Reichenbach zu dem Präsidenten, ob Du das Testament geprüft hast und was Du davon hältst?...
  11. XI. Alfred konnte nicht aufhören, an Sophie zu denken, er hatte Mitleid mit ihr, er wünschte zu wissen, wie sie die Trennung von dem Präsidenten ertrage; er wollte dessen Aufträge ausrichten...
  12. XII. In beglückter Erregung legte Alfred den Weg nach seiner Wohnung zurück. Er hatte endlich sich selbst und sein Herz erkannt, er liebte Therese...
  13. XIII. Die Nacht verging dem heftig Erregten ohne Schlaf. Er legte das Wohl seiner Untergebenen gegen seine eigenen Wünsche in die Wagschale; ...
  14. XIV. Sobald der Kaplan heimgekommen war, verfügte er sich zu Caroline. Er hörte ihr zu, als sie ihm klagte, und hatte, wie es seine Art war, das Gesicht in die Hand gelehnt, ...
  15. XV. Am Abend dieses Tages begab sich Caroline in das Zimmer ihres Mannes, der mit dem Domherrn über Land gefahren war. Sie hatte Alfred ihren Entschluß schriftlich mitgetheilt, ...
  16. XVI. Der Morgen war regnerisch und kalt. Alfred blieb mit Felix in seinem Zimmer, wo sie allein das Frühstück eingenommen hatten. Das Kind war schlaftrunken und fröstelte...
Auszug: Erster Abschnitt

I. Alfred von Reichenbach, ein Mann in der Mitte der dreißiger Jahre, saß eifrig arbeitend vor dem Schreibtische in seinem Studirzimmer, das, nach den aufgestellten Bücherschränken, Büsten und Bildern zu urtheilen, auf einen Besitzer schließen ließ, der Wissenschaften und Künste liebte und über die Mittel gebot, seinen Neigungen Befriedigung zu verschaffen.

Die mächtigen Bäume, welche sein Schloß umgaben, die geschlossenen Jalousien, verbreiteten eine milde Dämmerung in dem Zimmer und trotz der drückenden Wärme eines Sommerabends war es hier frisch und luftig. Eine tiefe Stille herrschte in dem Gemach, nur unterbrochen von dem leisen Geräusch, welches Alfred’s Feder auf dem Papier verursachte. Er schrieb mit wachsender Schnelle und sein Gesicht zeigte den Ausdruck jener freudigen Begeisterung, den das Gelingen einer Arbeit hervorruft.

Da öffnete eine stattliche blonde Frau die Thüre und sagte: es ist drüben so warm in den Stuben, daß man es nicht ertragen kann, ich werde mich mit meiner Arbeit zu Dir setzen.

Es war die Frau des Schloßherrn. Er schreckte aus seinen Gedanken empor, sah sie zerstreut einen Augenblick an, nickte mit dem Kopfe und arbeitete emsig weiter.

Frau von Reichenbach beachtete das nicht. Sie schob mit Geräusch einen Tisch an das Fenster, rückte einen Stuhl zurecht und zog eine Tapisserie-Arbeit aus ihrem Nähkorbe, wobei Scheere und andere Geräthschaften klappernd zur Erde fielen. Alfred fuhr beunruhigt mehrmals mit der Hand über die Stirn, hielt im Schreiben an, überlas das Fertige, wollte weiter arbeiten, aber er war zerstreut worden, konnte dieselbe Gedankenreihe nicht finden und das Schaffen schritt langsamer vorwärts.

Nimm’s nicht übel, Alfred! rief die Nähende nach einer kurzen Pause, es ist aber förmlich Nacht in Deiner Stube, ich muß die Jalousien öffnen, ich kann das Muster hier nicht zählen.

Die Jalousien, von ihr losgehakt, flogen zurück, das blendende Licht der untergehenden Sonne fiel plötzlich strahlend in das Zimmer, und mißmuthig sagte Alfred: Du weißt, Caroline, wie peinlich und störend mir solch grelles Licht ist, wenn ich arbeite.

Was soll ich aber thun, wenn ich die Stiche nicht zählen kann? wiederholte sie, und fragte bald darauf: Hast Du davon gehört, daß des Inspectors Tochter eine Liebschaft mit einem Studenten hat, seit sie den Winter in der Stadt war?

Laß mich arbeiten, meine Liebe! bat Alfred, ich möchte das Kapitel gern beendigen.

Caroline schwieg einige Zeit, Alfred’s Feder bewegte sich wieder schneller, da bog seine Frau sich weit aus dem geöffneten Fenster hinaus, und rief einem im Hofe beschäftigten Mädchen in scheltendem Tone die Worte zu: Die Röcke sollen ein für allemal nicht mit Nadeln an den Trockenschnüren befestigt werden; wie oft soll ich das sagen? ...