Schilderung einer Beinamputation im Jahre 1859

Ich fand in diesen Sälen mehrere von unseren Vermundeten von Castiglione, die mich ebenfalls erkannten; sie wurden hier besser gepflegt, allein ihre Leiden waren noch nicht vorüber. So befand sich hier auch einer jener Jäger der Garde, welcher durch einen Schuß am Beine verwundet worden war, und dem ich in Castiglione den ersten Verband angelegt hatte; er war ausgestreckt auf seinem elenden Lager und der Ausdruck seines Gesichtes ließ auf schwere Leiden schließen. Seine Augen waren eingefallen und erhitzt, die Gesichtsfarbe gelblichbleich, ein Zeichen, daß das Wundfieber seinen Zustand bedeutend verschlimmert hatte. Seine Lippen waren trocken, seine Stimme bebte; an die Stelle der kühnen Verwegenheit dieses Wackern war ein gewisses Gefühl beunruhigender Vorahnung getreten, selbst die Pflege schien einen entnervenden Eindruck auf ihn hervorzubringen; er fürchtete sich, wenn man in die Nähe seines verletzten Beines kam, das bereits vom Brande ergriffen war. Der französische Chirurg, welcher die Amputationen vorzunehmen hatte, trat nun an sein Bett, der Verwundete faßte dessen Hand, die seinen brannten wie glühendes Eisen, als er sie presste. „Tut mir nicht wehe, es ist fürchterlich, was ich leide!“ rief er. Allein es mußte gehandelt werden und sogar also gleich, zwanzig andere Verwundete sollten noch an demselben Morgen operiert werden und 150 warteten, daß man sie verbinde; man hatte nicht Zeit, sich bei einem Einzigen aufzuhalten, und auf seinen Entschluß zu warten. Der Chirurg, sonst ein gutmütiger Mann, aber in seiner Praxis kalt und entschlossen, erwiderte nur ganz kurz: „Lassen Sie mich machen, lassen Sie mich nur machen,“ und zog rasch die Bettdecke in die Höhe; das verwundete Bein war mindestens doppelt so dick geworden; an drei Stellen drang stinkender Eiter in Menge hervor, die bläulichen Flecken zeigten, daß eine Schlagader verletzt war; das Glied konnte nicht mehr gespeist werden, es gab darum kein Mittel, es zu erhalten, und man hatte nur den einen Ausweg, es am Hüftgelenke abzunehmen. Amputation! welches schreckliche Wort für diesen unglücklichen jungen Mann, der jetzt keine andere Aussicht vor sich sah, als entweder plötzlichen Tod oder die elende Existenz eines Verstümmelten. Er hatte aber nicht einmal Zeit, sich auf sein Schicksal vorzubereiten: „Mein Gott, mein Gott! was wollen Sie tun?“ sagte er bebend. Der Chirurg antwortete ihm nicht. „Krankenwärter tragen Sie ihn weg, beeilen Sie sich!“ wandte er sich nur kurz an diesen. Ein durchdringender Schrei entfuhr jedoch der keuchenden Brust des Unglücklichen, als der ungeschickte Krankenwärter das verwundete steife Bein ganz nahe an der Wunde gefaßt hatte; die einzelnen Knochenstücke waren in das Fleisch eingedrungen und hatten dem Soldaten neue furchtbare Schmerzen verursacht, welche noch zunahmen, als sein herabhängendes Bein von der Bewegung des Tragens auf dem Wege bis zum Sektionssaale fortwährend hin und her geschaukelt wurde. Welch‘ schrecklicher Aufzug! Es war, als ob man ein Schlachtopfer zum Tode führte. Endlich lag er auf dem Operationstische, auf einer dünnen Matratze; neben ihm auf einem andern Tische bedeckte ein Handtuch die Instrumente. Der Chirurg, nur mit den Vorbereitungen zu seiner Operation beschäftigt, hörte und sah nichts außer ihr: ein junger Gehilfe mußte den Arm des Verwundeten halten; während der Krankenwärter ihn an dem gesunden Beine fassend mit aller Kraft gegen den Rand des Tisches zog, rief der Unglückliche erschreckt: „Lassen Sie mich nicht fallen!“ und drückte krampfhaft seine Arme gegen den jungen Gehilfen, der ihn unterstützen wollte, selbst aber vor Aufregung bleich und verwirrt war. Der Chirurg hatte nun seinen Rock abgelegt, die Ärmel seines Hemdes bis zur Schulter zurückgeschlagen und einen breiten bis zum Halse reichenden Schurz angezogen; ein Knie auf die Steinplatten des Saales gestützt und in der Hand das furchtbare Messer haltend, umschlang er mit seinem Arme den Schenkel des Soldaten, und durchschnitt alsdann mit einem Zuge die Haut rings um den ganzen Schenkel. Ein durchdringender Schrei hallte im Spital wieder; der junge Gehilfe schien auf den Zügen des armen duldenden jedes Zucken des furchtbarsten Schmerzes zu beobachten und mitzufühlen. „Mut,“ sagte er mit leiser Stimme zum Soldaten, dessen Hände er auf seinem Glücken sich zusammenkrallen fühlte, „noch 2 Minuten und alles ist vorüber!“ Der Chirurg erhob sich hierauf, und begann die Haut von den nun nackt gelegten Muskeln zu trennen, er durchschnitt zu diesem Zwecke die Fleischteile und zog sie dann gleichsam mit dem Zurückschieben der Haut wie eine zollhohe Handkrause herauf, alsdann durchschnitt er auch mit einem kräftigen Rundkreisschnitte alle Muskeln bis zum Knochen; das Blut quoll in Strömen aus den geöffneten Pulsadern, indem es den Chirurgen bespritzte und auf den Boden floß. Sonst kalt und unempfindlich hatte der gewandte Arzt bis dahin nicht ein Wort gesprochen, allein jetzt wendete er sich, die Grabesstille im Saale unterbrechend, voll Wut an den ungeschickten Krankenwärter: „Einfaltspinsel,“ rief er ihm zu, „wissen Sie nicht die Pulsadern zu unterhalten?“ Dieser letztere, der noch wenig Erfahrung hatte, hatte den Blutverlust dadurch verhindern sollen, daß er auf die Blutgefäße den Daumen aufdrückte. Der Verwundete, der sich vor Schmerzen kaum zu fassen wußte, stammelte mit schwacher Stimme nur die Worte hervor: „O! es ist genug, laßt mich sterben!“ und ein kalter Schweiß rann von seinem Antlitze; allein er hatte noch eine Minute zu überstehen, eine Minute, die ihm zur Ewigkeit werden konnte. Der ihn so sehr bemitleidende Gehilfe zählte die Sekunden, und den Blick bald auf den Chirurgen, bald auf den Leidenden gerichtet, dessen Mut er aufzurichten suchte, sagte er zu diesem: „Nur noch eine Minute!“ In der Tat, jetzt war der Moment der Säge gekommen, und bald vernahm man die kreischenden Töne des Stahles, der in den lebendigen Knochen dringend endlich das halbverfaulte Glied von dem Körper trennte. Allein der Schmerz war zu groß für diesen abgeschwächten und erschöpften Körper, die Klagen waren verstummt, der Vermundete war ohnmächtig geworden. Der Chirurg, der nicht mehr das Geschrei und die Klagen vernahm und fürchtete, daß diese Stille die Stille des Todes sei, sah den Operierten voll Ungeduld an, um sich zu vergewissern, daß er nicht ausgeatmet habe. Die bereitgehaltenen Stärkungsmittel vermochten nur mit Mühe die matten Augen, welche wie bei einem Toten regungslos geschlossen waren, wieder zu beleben; der fast Sterbende atmete wieder auf, zwar zerschlagen und kraftlos, aber doch waren nun die furchtbarsten Leiden vorüber.

In dem benachbarten Spital wendete man Chloroform an. Hier hatte der Patient, und besonders derjenige französischen Ursprungs, zwei wohl zu unterscheidende Perioden durchzumachen; von einer oft bis zum wütendsten Delirium sich steigernden Aufregung verfiel er gewöhnlich in eine vollständige Lethargie, welche zur wahren Unempfindlichkeit wurde. Manche Leute, welche an den Gebrauch starker gebrannter Getränke gewöhnt waren, konnten nur mit großer Mühe in Schlaf gebracht werden und sträubten sich lange gegen dieses mächtige Betäubungsmittel.


Beim Gebrauche des Chloroform sind übrigens die Un- und Todesfälle lange nicht so selten, als man glaubt, und sehr oft bemühte man sich vergebens, diejenigen wieder ins Leben zurückzurufen, welche man noch einen Augenblick vorher gesprochen hatte.

Man stelle sich aber nun eine Operation dieser Art, wie an einem Österreicher, vor, der weder italienisch noch französisch konnte und sich fast wie ein Schaf zur Schlachtbank führen lassen mußte, ohne nur ein einziges Wort mit seinen mildtätigen Henkern sprechen zu können! Die Franzosen fanden überall Sympathie, man schmeichelte ihnen, man pflegte und ermutigte sie, und wenn man ihnen von der Schlacht bei Solferino sprach, da lebten sie auf und wurden mitteilsam; diese für sie so glorreichen Erinnerungen, welche ihre Gedanken von ihrer traurigen Lage ablenkten, trugen viel dazu bei, ihnen ihr Los zu erleichtern. Die Österreicher hatten nicht die gleichen Privilegien. In den verschiedenen Spitälern, woselbst man sie massenweise zusammengepfercht hatte, war es mir kaum möglich, Eingang zu finden, als ich sie besuchen wollte; ich mußte mir fast mit Gewalt Bahn zu ihnen brechen. Mit welcher Dankbarkeit nahmen diese wackeren Leute meine freundlichen Worte und den ihnen gereichten Tabak an! In diesen resignierten, ruhigen und sanften Zügen las man die Gefühle, welche sie nicht auszudrücken vermochten, und ihre Blicke sagten mehr, als alle Dankesworte hätten sagen können; besonders aber zeigten sich die Offiziere sehr gerührt über die ihnen gewidmete Pflege. Sie wurden zwar ebenso wie ihre Soldaten mit Menschlichkeit behandelt, allein die Brescianer vermochten es nicht über sich zu gewinnen, ihnen auch etwas Wohlwollen zu bezeigen. In dem Spital, in welchem der Fürst von Isenburg untergebracht war, bewohnte derselbe mit einem andern deutschen Fürsten ein kleines, aber ziemlich gut eingerichtetes Zimmer.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Erinnerung an Solferino (1859)