Jedes Haus wird zur Herberge für die Verwundeten

Obgleich jedes Haus zu einer Herberge für Verwundete geworden war und jede Familie hinlänglich zu tun hatte, um die aufgenommenen Offiziere zu pflegen, so gelang es mir doch von Dienstag Morgen an, eine gewisse Anzahl Frauen aus dem Volke zusammenzubringen, welche ihr Möglichstes taten, um bei der Pflege der Verwundeten behilflich zu sein; es handelte sich jetzt in der Tat nicht mehr um Amputationen oder andere Operationen allein, man mußte auch den sonst an Hunger und Durst sterbenden Leuten zu essen und zu trinken geben, ihre Wunden verbinden, oder ihre blutenden, mit Kot und Ungeziefer bedeckten Körper waschen, und das Alles inmitten von giftigen stinkenden Ausdünstungen, unter dem Klagegeschrei und den Schmerzensrufen der Verwundeten und bei einer erstickenden Hitze. Bald war ein Kern von solchen Freiwilligen gebildet und die lombardischen Frauen eilten zu denen, welche am stärksten schrieen, ohne gerade immer die Unglücklichsten zu sein; ich für meinen Teil suchte soviel immer möglich die Hülfeleistung in dem Stadtviertel zu organisieren, welches derselben am nötigsten hatte, und nahm mich besonders einer der Kirchen von Castiglione an, welche auf einer Höhe liegt, links, wenn man non Brescia kommt, und die, wie ich glaube, Chiesa maggiore heißt. Mehr als 500 Soldaten waren hier untergebracht und mindestens noch gegen Hundert lagen vor der Kirche auf Stroh und unter den Tüchern, welche man gegen die Sonnenstrahlen ausgespannt hatte. Die pflegenden Frauen gingen hier mit ihren Krügen und Eimern, die mit klarem Wasser zum Löschen des Durstes und zur Befeuchtung der Wunden gefüllt waren. Von Einem zum Andern, einige dieser improvisierten Krankenwärterinnen waren schöne und niedliche junge Mädchen; ihre Sanftmut, ihre Güte, ihre schönen mitleidigen und mit Tränen gefüllten Augen, sowie ihre aufmerksame Pflege trugen viel dazu bei, um einigermaßen den moralischen Mut der Kranken zu heben. Die Knaben aus dem Orte kamen und gingen, um von den nächsten Brunnen Kübel, Krüge und Gießkannen mit Wasser nach der Kirche zu tragen. Auf die Wasserversorgung folgte dann die Austeilung der Fleischbrühen und Suppen, deren die Militärverwaltung in großer Menge zu liefern hatte, ungeheure Ballen von Charpie waren da und dort niedergelegt, damit jeder nach Bedürfnis davon nehmen könne, aber an Verbänden, Leinwand und Hemden fehlte es allenthalben; die Hilfsmittel in dieser kleinen Stadt, durch welche auch die österreichische Armee gezogen war, waren so zusammengeschmolzen, daß man sich nicht einmal die nötigsten Gegenstände verschaffen konnte und dennoch gelang es mir durch die Mithilfe dieser braven Frauen, die bereits all ihr altes Leinenzeug herbeigebracht hatten, noch einige neue Hemden zu erhalten, und am Montag Morgen sendete ich meinen Kutscher nach Brescia, um dort weitere Vorräte zu holen. Er kam schon nach etlichen Stunden zurück, den ganzen Wagen beladen mit Leinenzeug, Schwämmen, Leinwand, Bändern, Stecknadeln, Zigarren und Tabak, Kanülen, Malven, Flieder, Orangen, Zucker und Zitronen, wodurch es nun möglich wurde, eine so lange erwartete erfrischende Limonade den Kranken zu geben, die Wunden mit einem Malvenabgusse zu waschen, warme Aufschläge anzulegen, und die Verbände öfter zu wechseln. Während dessen hatte sich unser Hilfskorps durch neue Mitglieder rekrutiert: ein alter Marineoffizier und dann zwei englische Touristen kamen aus Neugierde in die Kirche und wurden von uns fast mit Gewalt zurückgehalten; zwei andere Engländer drückten gleich Anfangs den Wunsch aus, uns beistehen zu können und teilten besonders den Österreichern Zigarren aus. Außerdem leisteten uns noch ein italienischer Abbé, drei oder vier neugierige Reisende, ein Journalist von Paris, der später die Direktion der Hilfeleistung in einer benachbarten Kirche übernahm, und endlich einige Offiziere der in Castiglione überbleibenden Militär-Abteilung bei dieser Krankenpflege Beistand. Einer dieser Offiziere wurde jedoch bald nachher in Folge des ergreifenden Eindruckes krank, und unsere andern freiwilligen Krankenwärter zogen sich ebenfalls nach und nach zurück, weil auch sie den Anblick aller dieser Leiden, die sie nur so wenig zu lindern im Stande waren, nicht ertragen konnten; auch der Abbé folgte ihrem Beispiele, allein er kam dann wieder, um uns in zarter Aufmerksamkeit aromatische Kräuter und Flakons mit Salzen unter die Nase zu hatten. Ein junger französischer Tourist, dem der Anblick dieser menschlichen Überreste die Brust beengte, brach plötzlich in Tränen aus; ein Geschäftsmann aus Neuenburg verband während zwei Tagen die Verwundeten, und schrieb für die Sterbenden die letzten Briefe an ihre Familien; man war selbst aus Rücksicht für ihn gezwungen, seinem Eifer Einhalt zu tun, so wie auch die mitleidige Aufregung eines Belgiers zu mäßigen, die einen solchen Grad erreichte, daß man für ihn ein hitziges Fieber fürchtete, ähnlich wie es sich mit einem Unterlieutenant ereignete, der von Mailand kam, um sein Corps zu erreichen, und neben uns von Fieberschauern überfallen wurde. Einige Soldaten der in der Stadt gelassenen Truppenabteilung waren ebenfalls zur Hilfeleistung bei ihren Kameraden bereit, allein auch sie waren nicht im Stande, einen Anblick auszuhalten, der ihren moralischen Mut niederbeugte, und so sehr ihre Einbildungskraft erregte. Ein Geniekorporal, der, bei Magenta blessiert, kaum wieder hergestellt zu seinem Bataillone zurückkehrte, und dessen Laufpass ihm einige Tage Aufenthalt gestattete, begleitete uns zu den Verwundeten und leistete uns Hilfe, obgleich er zweimal nach einander ohnmächtig wurde. Der nun in Castiglione sich niederlassende Intendant gestattete endlich, daß die sich besser befindenden Gefangenen, sowie drei österreichische Ärzte, einem jungen korsischen ärztlichen Gehilfen, der mich zu verschiedenen Malen um einen Ausweis über seinen Eifer ersuchte, Beistand leisten durften. Ein deutscher Chirurg, welcher absichtlich auf dem Schlachtfelde geblieben war, um seine verwundeten Landsleute zu verbinden, tat dies auch für die der feindlichen Armee; die Militärverwaltung erlaubte ihm nach drei Tagen, aus Erkenntlichkeit für diese Leistungen zu seinen Landsleuten nach Mantua zurückzukehren.

,,Lassen Sie mich nicht sterben!“ riefen einige dieser Unglücklichen, indem sie noch mit letzter Kraftanstrengung meine Hand fassten, aber dann tot zusammensanken, sobald diese schwache Stütze ihnen entzogen ward. Ein junger, etwa 20Jähriger Korporal mit sanften und ausdrucksvollen Zügen, Namens Claudius Mazuet, war von einer Kugel in die linke Seite getroffen, sein Zustand war hoffnungslos, und er sah es selbst ein; nachdem ich ihm zu trinken gegeben hatte, dankte er mir und setzte dann mit Tränen in den Augen hinzu: ,,Ach! mein Herr, wenn Sie doch an meinen Vater schreiben könnten, damit er meine Mutter tröstet!“ Ich schrieb mir die Adresse seiner Eltern auf und wenige Augenblicke nachher hatte er aufgehört zu leben*). Ein alter Sergeant mit mehreren Schnüren am Arme sagte mir mit tiefer Trauer und mit kalter Bitterkeit: „Wenn man mich früher gepflegt hätte, so würde ich am Leben geblieben sein, indessen ich so schon diesen Abend tot sein werde!“ Und am Abende war er tot.


*) Die Eltern, welche rue d'Alger Nro. 3 in Lyon wohnten und deren einziger Sohn dieser als Freiwilliger in die Armee getretene junge Mann war, erhielten keine andere Nachricht von ihrem Sohne, als den Brief von mir; er würde ohne mich wahrscheinlich, wie viele Andere, als „verschwunden“ in die Listen eingetragen worden sein.

„Ich will nicht sterben, ich will nicht sterbend schrie mit wilder Entschlossenheit ein Grenadier der Garde, der noch vor drei Tagen kräftig und gesund gewesen, jetzt aber tödlich verwundet war und fühlend, daß seine letzte Stunde unwiderruflich gekommen sei, gegen diese dunkle Gewißheit sich sträubte; ich sprach mit ihm, er hörte mich an, und dieser nun besänftigte, beruhigte und getröstete Mann war endlich mit der Einfachheit und Treuherzigkeit eines Kindes zum Tode gefaßt. Da unten in der Ecke der Kirche, links in der Vertiefung des Altars lag ein afrikanischer Jäger auf Stroh; drei Kugeln hatten ihn getroffen, eine in der linken Seite, eine andere in der rechten Schulter und die dritte blieb im rechten Beine stecken; es war Sonntag Abends, und er versicherte mich, seit Freitag Morgens nichts genossen zu haben. Er war wirklich ekelerregend anzuschauen, der Kot war auf ihm getrocknet und mit Blutklümpchen untermischt, seine Kleidung zerrissen und sein Hemd zerfetzt; nachdem ich seine Wunden gewaschen, ihm ein wenig Fleischbrühe gegeben, und ihn dann in eine Decke eingewickelt hatte, führte er meine Hand mit einem Ausdrucke unaussprechlicher Dankbarkeit an die Lippen. Am Eingange der Kirche befand sich ein Ungar, der unaufhörlich schrie und auf italienisch mit durchdringender Stimme nach einem Arzte verlangte; seine Lenden waren Kartätschstücken wie mit eisernen Hacken zerrissen, das rote zuckende Fleisch sah daraus hervor, der übrige Teil des Körpers war aufgeschwollen und bleifarben, er wußte nicht, wie er sich niederlegen oder setzen sollte; ich tauchte etliche Flocken Charpie in Wasser und suchte ihm damit eine Art Lagerstätte zu machen, allein der Brand wird ihn unzweifelhaft hinweggerafft haben. Etwas davon entfernt lag ein Zuave, der heiße Tränen weinte, und den man wie ein Kind trösten mußte; die vorhergehenden Strapazen, der Mangel an Nahrung und Ruhe, die krankhafte Aufregung und die Furcht, ohne Hilfe zu sterben, verursachten selbst bei diesem wackern Soldaten eine nervöse Gefühlsaufregung, die sich durch klagen und Weinen Luft machte. Das Gefühl, welches bei diesen Verwundeten am Meisten sich geltend machte, wenn sie nicht durch Leiden zu sehr in Anspruch genommen waren, war die Erinnerung an ihre Mutter und die Vorstellung ihres Grames, wenn sie Nachricht von ihrem Schicksale erhalten würde; man fand an dem Halse eines toten jungen Mannes das Bildnis einer älteren Frau, ohne Zweifel seiner Mutter, mit seiner linken Hand schien er es an sein Herz zu drücken.

Hier an der Mauer lagen etwa hundert französische Soldaten und Unteroffiziere in ihre Decken gehüllt in zwei parallelen Reihen, zwischen denen man durchgehen konnte; sie waren Alle verbunden, die Verteilung der Suppe hatte stattgefunden, sie lagen ruhig und zufrieden da, und folgten mir mit den Augen; all' diese Köpfe wendeten sich nach rechts, wenn ich nach rechts ging, nach links, wenn ich nach links mich wendete. „Man sieht wohl, daß es ein Pariser*) ist,“ sagten die Einen. „Nein“, antworteten Andere, „er scheint mir aus dem Süden zu sein.“ „Nicht wahr, mein Herr, Sie sind von Bordeaux?“ fragte mich ein dritter, und Jeder wollte, daß ich aus seiner Provinz oder aus seiner Stadt sei. Die Resignation, welche diese einfachen Liniensoldaten an den Tag legten, verdient wirklich der Erwähnung und der Anerkennung. Was war auch jeder Einzelne von ihnen in dieser großartigen Zerrüttung? Sehr wenig. Sie litten oft, ohne sich zu beklagen, und starben in Bescheidenheit, ohne daß man weiter ihrer erwähnte.

*) Ich hatte die Genugtuung im Laufe der letzten Jahre in Paris, und namentlich in der Rivolistraße, amputierte Militärs und Invaliden zu finden, welche, als sie mich erkannten, auf mich zukamen und mir ihre Dankbarkeit zu erkennen gaben für die ihnen in Castiglione gewidmete Pflege. „Wir nannten Sie den weißen Herrn,“ sagte mir einer von ihnen, „weil Sie ganz in Weiß gekleidet waren; es machte auch nicht Übel warm da!“

Die österreichischen Verwundeten und Gefangenen trotzten nur selten den Siegern; dennoch weigerten sich einige gegen die Pflege, der sie misstrauten, rissen ihre Verbände weg und ließen ihre Wunden verbluten. Ein Kroate, dem man eine Kugel auszog, nahm diese und warf sie dem Chirurgen an den Kopf; andere blieben still, finster und gleichgültig; im Allgemeinen zeigten sie nicht die Mitteilsamkeit, den guten Willen und die ausdrucksvolle, anschmiegende Lebhaftigkeit, welche die Leute der lateinischen Rasse charakterisiert. Übrigens waren doch die Meisten nicht unempfindlich gegen die gute Pflege und in ihren verwunderten Zügen sprach sich ihre Erkenntlichkeit aus. Einer von ihnen, von neunzehn Jahren, der mit etwa 40 seiner Landsleute in dem entferntesten Winkel der Kirche lag, hatte seit drei Tagen keine Nahrung erhalten; er hatte ein Auge verloren, lag in Fieberschauern, konnte nicht mehr sprechen und hatte kaum noch die Kraft, ein wenig Fleischbrühe zu sich zu nehmen; infolge unserer Pflege wurde er wieder so weit hergestellt, daß man ihn im Laufe von 24 Stunden nach Brescia senden konnte. Er verließ uns nur ungern, fast in schmerzlicher Bewegung; sein ihm bleibendes schönes blaues Auge sprach mit lebendigem Ausdrucke seine Dankbarkeit aus, und er drückte seine Lippen auf die Hände der barmherzigen Frauen von Castiglione. Ein anderer Gefangener, der im Fieber lag, erregte ganz besonders unsere Aufmerksamkeit; er war nur zwanzig Jahre alt und schon hatte sich sein Haar gebleicht; seine Kameraden und er selbst versicherten, daß dieser Wechsel am Tage der Schlacht eintrat*).

*) Diese Tatsache, welche ich in einer Sitzung der société d'Ethnographie von Paris erzählte, wurde in der Revue orientale et américaine (Januar 1850) von Herrn R. Cortambert in seinem bemerkenswerten Artikel „De la chevelure chez les différents peuples“ erwähnt.

Wie viele junge Leute von 18 — 20 Jahren, welche aus den entlegenen Teilen Deutschlands oder den östlichen Provinzen des ausgedehnten österreichischen Kaiserreiches kamen, und viele von ihnen mit Gewalt herbeigeschleppt, mußten außer den körperlichen Leiden und dem Grame über die Gefangenschaft noch den Haß erdulden, den die Mailänder gegen ihre Rasse, ihre Führer und ihren Regenten im Herzen trugen, und fanden erst wieder auf französischem Boden eine freundlichere Behandlung! Ihr armen Mütter in Deutschland, in Österreich, in Ungarn und in Böhmen! wer sollte nicht an euer Bangen denken, sobald ihr vernahmet, daß eure verwundeten Söhne in diesem feindlichen Lande sich als Gefangene befanden! Allein da die Frauen von Castiglione sahen, daß ich keinen Unterschied zwischen den Nationalitäten machte, ahmten sie meinem Beispiele nach, indem sie alle diese Leute von so verschiedener Abkunft und ihnen ja alle gleich fremd mit demselben Wohlwollen behandelten. „Tutti fratelli,“ sagten sie oft mit bewegter Stimme. Ehre diesen mitleidigen Frauen, diesen jungen Mädchen von Castiglione! Nichts hat sie zurückgeschreckt, nichts ihren Eifer geschwächt oder sie entmutigt; und ihre bescheidene Hingebung war weder durch Beschwerden, noch durch den Widerwillen, noch endlich durch Opfer zu ermüden.

Das Gefühl, welches man über seine eigene Untüchtigkeit bei so außerordentlichen und ernsten Ereignissen fühlt, ist eine unnennbare Qual; es ist in der Tat ungemein peinlich, nicht immer die Leiden lindern zu können, welche wir vor unsern Augen haben, oder zu denen zu gelangen, welche unsere Hilfe erstehen, indem hier besonders manche Stunde verging, bis man dahin gelangte, wohin man wollte, hier ausgehalten von dem Einen, dort befragt von dem Andern, und auf jedem Schritte hingehalten von einer Menge Unglücklicher, die uns entgegenkamen und umringten; und dann, weshalb sich auch links wenden, während rechts so Viele waren, die ja sonst ohne freundliches Wort, ohne einen Trost, ohne nur ein Glas Wasser, um ihren heißen Durst zu lindern, sterben würden? Der Gedanke über die Wichtigkeit eines Menschenlebens, der Wunsch, die Martern von so vielen Unglücklichen ein wenig zu lindern, oder ihren Mut neu zu beleben, die angestrengte und unablässige Tätigkeit, welche man sich in solchen Augenblicken zur Pflicht macht, verleihen eine stets wiederkehrende höhere Energie, welche gleichsam den Drang erzeugt, so vielen Menschen als nur immer möglich Hilfe zu leisten; man wird nicht mehr berührt von diesen tausend Gebilden eines großartigen Trauerspiels, man geht mit Gleichgültigkeit an den auf das Schrecklichste verunstalteten Leichnamen vorüber, man blickt fast kalt, so sehr auch die Feder sich sträubt sie zu beschreiben, aus Szenen, welche noch schrecksicher sind als die hier geschilderten*); allein es kommt öfters vor, daß das Herz plötzlich erschüttert und von einer bitteren, unbesiegbaren Trauer befallen wird bei dem Anblicke eines einzelnen Falles, einer isolierten Handlung, einer unerwarteten Einzelheit, welche mehr auf das Gefühl wirkt, unser Mitgefühl lebendiger weckt, und die zartesten Fibern unseres Wesens ergreift.

*)Da ich erst nach mehr als 3 Jahren mich entschlossen habe, diese peinlichen Erinnerungen zusammenzustellen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, so wird man begreifen, dass sie bereits ein wenig verblasst sind und außerdem noch in Beziehung auf die Schmerzens und Verzweiflungsszenen, deren Zeuge ich war, nur in abgekürzter Form gegeben wurden. Allein wenn diese Blätter beitragen könnten zur Entwicklung und Reifung der Frage über die den verwundeten Soldaten im Kriege zu leistende Hilfe und über die gleich nach einem Gefechte ihnen zu widmende Pflege, und wenn sie die Aufmerksamkeit der Freunde der Humanität und Philanthropie auf steh ziehen sollten, oder mit einem Worte, wenn, die Beschäftigung und das Studium über einen so wichtigen Gegenstand durch Erlangung von Fortschritten einen Zustand bessern könnten, der nie genug, und selbst in den bestorganisierten Armeen, in's Auge gefaßt werden kann, so würde ich im vollsten Maße mein Ziel erreicht glauben.

Für den in das tägliche Feldleben eintretenden Soldaten erwacht die Erinnerung an die Familie und an die Heimat nie mit stärkerer Kraft, als nach großen Strapazen und den Aufregungen, welche er während und nach einer Schlacht wie die von Solferino haben mußte. Dieses Gefühl wurde auf das Lebhafteste geschildert in den rührenden Worten eines braven französischen Offiziers, der von Volta aus an seinen in Frankreich gebliebenen Bruder u. A. folgendes schrieb: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie ergriffen der Soldat ist, wenn er den Wagenmeister, der mit der Abgabe der Briefschaften an die Armee betraut ist, herankommen sieht; er bringt uns, siehst du wohl, Neuigkeiten aus Frankreich, aus der Heimat, von unseren Eltern, von unseren Freunden! Jeder horcht auf, sieht nach ihm hin, und streckt seine begierigen Hände nach ihm aus. Die glücklichen, das heißt die, welche einen Brief erhalten, öffnen ihn schnell, und scheinen ihn zu verschlingen; die anderen, die gleichsam Enterbten, entfernen sich mit gepresstem Herzen, und gehen auf die Seite, um an die zu denken, welche daheim geblieben sind. Manchmal wird ein Name gerufen, auf den keine Antwort erfolgt. Man schaut sich an, man befragt sich, man wartet. Tot! murmelt eine Stimme, und der Wagenmeister steckt wieder seinen Brief ein, der, ohne erbrochen zu werden, an die zurückgeschickt wird, welche ihn geschrieben haben. Die sind wohl recht fröhlich gewesen und haben sich gesagt: Wie zufrieden wird er sein, wenn er den Brief erhält! Und wenn der Brief nun zurückkommt, so wird der Gram ihr armes Herz brechen.“

Die Straßen von Castiglione waren nun ruhiger geworden, die Toten und die Weitertransportierten hatten Platz gemacht, und wenn auch wieder neue Wagen mit Verwundeten ankamen, so wurde doch nach und nach die Ordnung wieder hergestellt, und die Verpflegung ging ihren regelmäßigeren Gang; denn die Überfüllung war nicht die Folge einer schlechten Organisation oder der nicht hinreichenden Voraussicht der Verwaltung, sondern sie kam nur von der ungeheuren und unerwarteten Menge von Verwundeten und der verhältnismäßig zu geringen Anzahl von Ärzten, Dienern und Krankenwärtern. Die Transporte von Castiglione nach Brescia waren jetzt mehr geordnet, sie bestanden teils aus Ambulanzwagen, teils aus gewöhnlichen, von Ochsen gezogenen Karren, welche langsam, ja sehr langsam unter dieser glühenden Sonne vom Flecke kamen, auf einer so staubigen Straße, daß der Fußgänger fast bis zum Knöchel in diese bewegliche Masse eindrang. Obgleich die sehr unbequemen Fuhrwerke mit Baumzweigen bedeckt worden waren, so drang doch die Glut des Feuerhimmels fast mit ihrer ganzen Kraft bis zu den mehr oder minder übereinander aufgeschichteten Verwundeten. Man mag sich somit die Qualen dieser langen Fahrt vorstellen! Ein freundliches Kopfnicken, wenn man bei diesen Unglücklichen vorüberkam, schien ihnen wirklich wohl zu tun, und sie erwiderten alsobald und mit dem Ausdrucke der Dankbarkeit diese Begrüßung. In allen Ortschaften längs der Straße nach Brescia saßen die Dorfbewohnerinnen vor ihren Türen und rupften schweigend Charpie; sobald ein Transport Verwundeter ankam, stiegen sie auf die Wägen, wechselten die Umschläge, wuschen die Wunden aus, und legten wieder in frischem Wasser befeuchtete Charpie auf, worauf sie denen, welche weder den Kopf noch die Arme bewegen konnten, in Löffeln Fleischbrühe, Wein oder Limonade in den Mund gossen. Die Wagen, welche ohne Unterlass Lebensmittel, Fourage, Munition und jede Art von Vorräten von Frankreich oder dem Piemont nach dem französischen Lager führten, kehrten nie leer zurück, sondern nahmen kranke bis nach Brescia mit. In allen Ortschaften, welche die Transporte zu passieren hatten, ließen die Ortsbehörden Getränke, Brot und Fleisch bereit hatten. In Montechiaro wurden die drei Spitäler dieses Ortes von den Bauersfrauen bedient, welche mit ebenso viel Intelligenz, als Güte die dort untergebrachten Verwundeten pflegten. In Guidizzolo hatte man deren etwa Tausend in recht angemessener Weise, wenn auch nur vorübergehend in einem ausgedehnten Schlosse untergebracht; in Volta diente ein altes Kloster als Kaserne, in welcher Hunderte von Österreichern untergebracht waren. In Cavriana wurden in der Hauptkirche dieses elenden bestes vollständig verstümmelte Österreicher verpflegt, welche vorher während acht und vierzig Stunden unter den Galerien eines häßlichen Wachthauses ausgestreut gelegen hatten; in dem Lazarett des großen Hauptquartiers nahm man Operationen vor mit Anwendung des Chloroform, der bei den österreichischen Verwundeten fast eine augenblickliche Unempfindlichkeit bewirkte, indessen bei den Franzosen nervöse Zuckungen und eine fieberische Aufregung die Folge war.

Die Bewohner von Cavriana waren durchaus von Lebensmitteln entblößt und die Soldaten der Garde ernährten sie in der Tat vollständig, indem sie ihre Nationen und ihren Kaffee mit ihnen teilten; die Felder waren zerstört worden und fast alle Produkte derselben, welche eingebracht werden konnten, waren an die österreichischen Truppen verkauft, oder unter dem Vormunde von Requisitionen von ihnen genommen worden. Obschon die französische Armee Feldfrüchte im Überflusse besaß, Dank der Vorsorge und Pünktlichkeit ihrer Administration, so hatte sie dennoch Mühe, sich die Butter, das Fett und die Gemüse zu verschaffen, welche zur gewöhnlichen Soldatenkost nötig sind; die Österreicher hatten fast alles Vieh requiriert, und die Alliierten konnten nur Maismehl auf ihren Lagerplätzen erhalten. Übrigens wurde Alles, was die lombardischen Bauern zum Unterhalte der Truppen verkaufen konnten, zu sehr hohen Preisen bezahlt, welche man in der Weise festsetzte, daß die Verkäufer zufrieden sein konnten. Auch wurden die Requisittonen für die französische Armee, als Pferdefutter, Kartoffeln und andere Lebensmittel, den Einwohnern des Landes, die noch für den Schaden, den der Kampf verursachte, entschädigt wurden, sehr reichlich ersetzt.

Die Verwundeten der sardinischen Armee, welche nach Desenzano, Rivoltella, Lonato und Pozzolengo gebracht wurden, befanden sich in einem minder unangenehmem Zustande als jene zu Castiglione: die beiden ersten dieser Städte, welche während einiger Tage von den beiden Armeen nicht besetzt gewesen waren, boten freilich mehr Lebensmittel, die Lazarette waren besser unterhalten, und die Einwohner, minder eingeschüchtert und erschreckt, zeigten sich sehr tätig bei dem Krankenwärterdienste; die Kranken, welche man nach Brescia schaffte, lagen auf einer dichten Heustreue in guten Wagen, über welche mit Hilfe von geflochtenen Zweigen starke leinene Tücher gespannt waren.

Den 27. Nachmittags ließ ich, durch die Strapazen erschöpft und nicht mehr in Stande, einen erfrischenden Schlaf zu finden, mein Cabriolet anspannen und fuhr gegen 6 Uhr aus, um mindestens in der Frische des Abends ein wenig der Ruhe zu genießen, und während dieser Zeit den ergreifenden Auftritten, die mir überall in Castiglione begegneten, zu entgehen. Es war ein günstiger Tag und keine Truppenbewegungen (wie ich später erfuhr) waren für den Montag angeordnet worden. Ruhe folgte den schrecklichen Aufregungen der vorhergehenden Tage auf dem jetzt so düsteren Schlachtfelde, wo man keine Ausbrüche der Leidenschaft und des Enthusiasmus mehr sah noch hörte; da und dort erblickte man aber immer noch Stellen mit geronnenem Blute in ihrem dunkeln Note hervorblicken, aufgerissene Erdstrecken, weiß mit Kalk bestreut, woran man die Plätze erkannte, wo die Opfer vom 24. ruhten. Bei Solferino, dessen viereckiger finster und stolz sich erhebender Turm seit Jahrhunderten das umliegende Land beherrscht, und wo jetzt schon zum dritten Male zwei der größten Mächte der neueren Zeit sich im blutigen Kampfe maßen, wurden noch immer die zahlreichen und traurigen Menschenreste jenes Tages gesammelt, die selbst auf dem Kirchhöfe die Kreuze und Grabsteine mit Blut bedeckten. Gegen 9 Uhr kam ich nach Cavriana; es war ein in seiner Art einziges und großartiges Schauspiel, den Kriegstrain zu sehen, welcher das Hauptquartier des Kaisers der Franzosen umgab. Ich suchte den Herzog von Magenta, den ich die Ehre hatte, persönlich zu kennen. Da ich nicht genau wußte, wo in diesem Augenblicke sein Armeecorps lagerte, so ließ ich mein Cabriolet auf einem kleinen Platze halten, gegenüber dem Hause, in welchem seit Freitag Abend Kaiser Napoleon wohnte; und so befand ich mich nun plötzlich inmitten einer Gruppe von Generalen, welche auf einfachen Strohstühlen oder selbst auf hölzernen Schemeln saßen, und in der Frische des Abends, gegenüber dem improvisierten Palaste ihres Herrschers, ihre Zigarren rauchten. Während ich mich erkundigte, in welcher Richtung ich den Marschall Mac-Mahon treffen könne, befragten diese Generale ihrerseits den mich begleitenden Korporal, welchen sie neben meinem Kutscher sitzend für meine Ordonnanz hielten*): sie wollten nämlich wissen, wer ich sei und zugleich erfahren, welchen Auftrag ich wohl haben könne; denn es fiel ihnen nicht ein, daß ein gewöhnlicher Tourist sich allein in die Lager wage und, bis nach Cavriana gekommen, zu so später Stunde noch weiter wolle. Der Korporal, der selbst keinen Aufschluss geben konnte, blieb natürlich sehr schweigsam hierüber, obgleich er auf sehr ehrfurchtsvolle Weise ihre Fragen beantwortete, und die Neugierde schien noch zuzunehmen, als man mich hierauf nach Borghetto fahren sah, woselbst sich der Herzog von Magenta befinden sollte. Das zweite, von ihm befehligte Corps hatte sich den 26. von Cavriana nach Castellaro zu begeben, das 5 Kilometer davon entfernt ist, und seine Divisionen lagen rechts und links der Straße, welche von Castellaro nach Monzambano führt; der Marschall selbst befand sich mit seinem Generalstabe in Borghetto. Aber die Nacht war bereits schon vorgerückt, und da man mir nur sehr unsichere Andeutungen gegeben hatte, so lenkten wir schon nach einer Stunde eine falsche Straße ein, nämlich in diejenige nach Volta in das Lager des Armee-Corps von General Niel, der seit drei Tagen zum Marschalle ernannt worden war, und in der Umgebung dieser kleinen Stadt lagerte. Das unbestimmte Geräusch unter diesem schönen gestirnten Himmel, die Biwakfeuer, welche da und dort von ganzen Bäumen unterhalten wurden, die erleuchteten Zelte der Offiziere, mit einem Worte diese letzten Regungen eines wachenden Lagers, in welchem nach und nach die Ruhe der Nacht ihr stecht geltend macht, sie ergreifen auf recht angenehme Weise eine an und für sich schon erregte Phantasie; die Schatten des Abends und die feierliche Stille machten dem wechselnden Geräusche und den Aufregungen des Tages Platz und die reine, milde Luft des prachtvollen italienischen Himmels atmete sich mit Wollust ein.

*) Dieser Korporal war in Magenta verwundet worden, und gab sich, nachdem er wieder hergestellt zu seinem Bataillon zurückgekehrt war, viele Mühe in Castiglione, um den Krankenwärtern beizustehen; ich nahm sein Anerbieten an, mich auf diesem Ausfluge, wo seine Eigenschaft als gradierter Militär mir als Geleitschein dienen konnte, zu begleiten. An dem selben Tag, am 27. Juni wurden zwei Engländer, welche sich bis zu den französischen Vorposten vorwagen wollten, von den Soldaten als deutsche Spione arretiert und auf nicht sehr angenehme Weise nach dem Lager geschleppt, wo sie glücklicherweise den Marschall, der das Armeecorps kommandierte, trafen, welcher sie dann auch aus ihrer unangenehmen Lage befreite; nichts desto weniger waren jedoch unsere Insulaner von dem ihnen zugestoßenen Abenteuer sehr erbaut.

Mein italienischer Kutscher war inmitten dieses nächtlichen Halbdunkels bei dem Gedanken, dem Feinde so nahe zu sein, von einer solchen Furcht erfaßt, daß ich mehrere Male gezwungen war, ihm das Leitseil abzunehmen, und es dem Korporal in die Hände zu geben oder selbst zu halten. Dieser arme Mensch war 8 bis 10 Tage vorher aus Mantua entflohen, um dem österreichischen Kriegsdienste zu entgehen, kam nach Brescia, um dort einen Unterhalt zu finden, und nahm hei einem Fuhrmanne als Kutscher Dienste. Sein Schrecken mehrte sich noch durch einen Schuß, welcher von einem Österreicher abgefeuert wurde, als wir in seine Nähe kamen, und der hierauf durch die Büsche floh. Während dem Rückzüge der österreichischen Armee hatten sich nämlich einige versprengte Soldaten in die Keller der Häuser jener kleinen Ortschaften geflüchtet, welche von ihren Bewohnern verlassen und dann in Folge des Kampfes fast vollständig zerstört worden waren; allein und voll Furcht hatten sie sich anfangs so gut wie möglich in diesen Verstecken ernährt und wagten sich erst später hervor, indem sie während der Nacht irrend in den Feldern umherzogen. Der Mantuaner, der sich nicht zu beruhigen im Stande war, vermochte bald nicht mehr sein Pferd in gerader Linie zu führen; er wendete fortwährend den Kopf nach rechts und links, schaute mit stieren Blicken nach den Gebüschen am Wege, jeden Augenblick erwartend, einen dort versteckten Österreicher hervortreten und auf ihn anlegen zu sehen; kein Verhau, kein Mauerrest entging seinen ängstlichen Blicken, besonders wenn die Straße eine Wendung machte. Seine Furcht verwandelte sich in unbeschreibliches Entsetzen, als die Stille der Nacht durch den Schuß einer Vedette unterbrochen wurde, die wir wegen der Dunkelheit nicht gesehen hatten, und er wäre fast in Ohnmacht gefallen beim Anblicke eines großen geöffneten Regenschirms, welcher, von drei Kanonenkugeln und mehreren Flintenkugeln durchbohrt, am Rande eines Feldes zunächst dem Fußwege nach Volta lag; dieser Regenschirm hatte wahrscheinlich einer Marketenderin der französischen Armee angehört und war ihr vom Gewitter am 24. entrissen worden.

Wir mußten wieder zurück fahren, um in die gute Straße von Borghetto einzulenken; es war jetzt schon über 11 Uhr, und wir trieben unser Pferd so riel als möglich, so daß unser bescheidenes kleines Fuhrwerk fast geräuschlos, aber schnell wie der Gedanke auf der Strada Cavallara dahinrollte, als von Neuem eine Unterbrechung uns erwartete: „Wer da! Wer da! Wer da! oder ich gebe Feuer!“ rief ohne Unterbrechung und ganz nahe vor uns eine Wache zu Pferd. „Frankreich!“ antwortete mit starker Stimme mein Begleiter, indem er zu gleicher Zeit seinen Grad beifügte: „Korporal im ersten Genieregiment, 7. Kompagnie.“ „Passiert!“ wurde uns bedeutet. — endlich um 11 ¾ Uhr erreichten wir ohne weitere Störung die ersten Häuser von Borghetto*). Alles war hier still und finster; nur in einem Erdgeschosse der Hauptstraße brannte noch ein Licht; es waren hier in einem niederen Zimmer Rechnungsoffiziere beschäftigt, welche, obgleich durch meine Ankunft in ihrer Arbeit gestört und sehr erstaunt über einen Besuch zu so später Stunde, sich sehr höflich bezeigten, einer derselben, Herr A. Outrey, ein Zahlungsoffizier, bot mir, ehe er noch meine verschiedenen Empfehlungen von Generalen gesehen hatte, auf das freundlichste seine Gastfreundschaft an; seine Ordonnanz brachte eine Matratze, auf welche ich mich vollständig angekleidet warf, um einige Stunden auszuruhen, nachdem ich vorher eine vortreffliche Fleischbrühe genommen hatte, welche mich um so wohttuender stärkte, als ich seit einigen Tagen nichts Ordentliches gegessen hatte. Ich schlief ruhig, ohne, wie in Castiglione, fortwährend von den ungesunden Ausdünstungen und den Mücken geplagt zu sein, welche, nachdem sie sich an den Leichnamen gesättigt, auch noch die Lebenden heimzusuchen pflegten. Der Korporal und der Kutscher hatten es sich indessen ganz einfach in dem auf der Straße stehen gebliebenen Cabriolet bequem gemacht; allein der unglückliche Mantuaner konnte in seiner fortdauernden Angst die ganze Nacht kein Auge schließen, und ich fand ihn des andern Morgens mehr tot als lebendig.

*) Borghetto ist ein Dorf von etwa 2000 Seelen, auf dem rechten Ufer des Mincio und fast gegenüber von Valeggio. Im Jahre 1848 überschritten hier die sardinischen Truppen unter den Befehlen des Königs Karl Albert den Mincio, trotz des hartnäckigen Widerstandes der Österreicher, welche von Feldmarschall Radetzky befehligt wurden.

Den 28. um sechs Uhr morgens wurde ich auf die wohlwollendste und liebenswürdigste Weise von dem guten und ritterlichen Marschall Mac-Mahon empfangen, der mit Recht der Abgott der Soldaten genannt wird*); um 10 Uhr befand ich mich in jenem, seitdem geschichtlich berühmt gewordenen Hause, das in der kurzen Zeit vom Morgen bis zum Abende des 24. zwei große feindliche Monarchen in sich beherbergt hatte. Um 3 Uhr nachmittags desselben Tages war ich wieder bei den Verwundeten in Castiglione angekommen, die mir ihre Freude, mich wieder zu sehen, aufs Lebhafteste ausdrückten; und den 30. Juni kam ich nach Brescia.

*) Der Herzog von Magenta ist sehr beliebt in der französischen Armee, seine Soldaten achten und verehrten ihn; es möge davon ein Beispiel hier Platz finden: Im Jahre 1856 befanden sich in Algerien auf der Straße nach Konstantine zwei ausgediente Zuaven in dem Interieur eines Eilwagens, in dessen ich im Coupée saß; sie begaben sich als Arbeiter nach Bathna, um dort in den Wäldern Bäume zu schlagen. Sie sprachen während der Fahrt immer von dem orientalischen Kriege und dem Marschälle Mac-Mahon in ihrer pittoresken Sprache, und zwar laut genug, daß ich einige Phrasen verstehen konnte. „Gibt es,“ sagte der Eine, „einen General wie er? Er wußte uns zu kommandieren! Wir sind alte Troupiers, alte Brummbären, wir haben nie Furcht gehabt, und doch haben wir geweint; erinnerst Du Dich, als er zu uns auf dem Platze sprach, — wir wurden verabschiedet, und unsere Zeit war aus — wie er da von uns Abschied nahm und zu uns sagte: „Kinder, ihr habt tapfer unter den Fahnen gedient, ihr kehrt jetzt in das bürgerliche Leben zurück; begeht niemals eine schlechte Handlung, erinnert euch, daß ihr einen Vater habt, und dieser Vater — der bin ich!“ So hat er gesagt, indem er sich auf die Brust schlug . . . „und meine Börse ist die Eure. Gebt mir Alle die Hand . . .“ Erinnerst Du Dich, als er uns seine Börse voll Gold zuwarf und sagte: „Teilet unter einander, aber zankt euch nicht! . . .“ und wir haben Alle geweint, wie kleine Mädchen.“

Diese hübsche, so recht malerisch gelegene Stadt war nicht wie Castiglione in ein provisorisches Feldlazarett, sondern mehr in ein ungeheuer ausgedehntes Spital umgewandelt, ihre zwei Domkirchen, die übrigen Kirchen, die Paläste, die Kloster, die Schulen, die Kasernen, kurz alle Gebäudlichkeiten waren mit Schlachtopfern von Solferino angefüllt; 15.000 Betten waren so zu sagen in einem einzigen Tage aufgeschlagen worden; die großherzigen Bewohner hatten mehr getan, als noch je unter ähnlichen Umständen geschehen ist. In der Mitte der Stadt war der Dom, gewöhnlich il Duomo vecchio oder la Rotonda genannt, mit seinen zwei Kapellen von etwa tausend Verwundeten angefüllt; das Volk drängte sich in Masse herbei, und besonders die Frauen jeden Ranges, um Orangen, Gallerte, Biskuit, Zuckerwerk und sonstige Erfrischungen zu bringen; auch die niederste Witwe oder die ärmste kleine Alte glaubten sich verpflichtet, ihren Tribut des Mitgefühls und ihre bescheidene Gabe darbringen zu müssen. Dieselben Auftritte fanden in dem neuen Dome statt, einem prachtvollen Gebäude in weißem Marmor mit einer weiten Kuppel geziert; mehrere Hunderte von Verwundeten waren hier untergebracht, ebenso in den vierzig anderen Gebäuden, Kirchen oder Spitälern, welche zusammen nahe an 20.000 Vermundete und Kranke enthielten.

Der Stadtrat von Brescia hatte alsogleich die ihm obliegenden Verpflichtungen erkannt, welche er bei diesem außergewöhnlichen Ereignisse zu erfüllen hatte, und zeigte sich auch auf die Dauer seiner Aufgabe auf das Vollkommenste gewachsen; er hatte sich permanent konstituiert, ausgezeichnete Kräfte herbeigezogen, und die Ratschläge der achtungswertesten Bürger unterstützten ihn in seinen Bestrebungen. Es wurde zuvorderst eine oberste Aufsichtsbehörde für die Spitäler ernannt, und zwar auf den Vorschlag des berühmten Dr. Bartholomeo Gualla, sodann eine Zentralkommission, welcher dieser letztere präsidierte, und die aus den Doktoren Corbolani, Orefici, Ballini, Bonicelli, Cassa, C. Maggi und Abeni bestand, welche Tag und Nacht in Anspruch genommen waren. Diese Commission setzte für jedes Spital einen besondern Verwalter und einen Oberchirurgen ein, dem etliche Ärzte und eine Anzahl Krankenwärter beigegeben waren. Sobald ein Kloster, eine Schule oder eine Kirche zur Unterbringung von Verwundeten verwendet werden sollte, wußte diese Zentralkommission in wenig Stunden und wie durch Zauber Spitäler daraus zu machen, sie mit Hunderten von Betten auszurüsten und mit einer großen Küche und einem Waschlokale zu versehen; alle diese Räumlichkeiten erhielten sodann das nötigste Linnenzeug und Alles, was noch nützlich oder notwendig sein konnte. Diese Maßregeln wurden mit solcher Pünktlichkeit und so überraschend schnell ergriffen, dass man sich schon in wenig Tagen über die gute Ordnung und den regelmäßigen Gang in diesen Vielen Spitälern verwundern mußte; und diese Verwunderung ist wohl um so natürlicher, wenn man bedenkt, daß die etwa 40.000 Seelen zählende Bevölkerung von Brescia ganz plötzlich und unerwartet durch die Ankunft von 30.000 Verwundeten und Kranken fast verdoppelt wurde*). Und es muß hier noch erwähnt werden, daß die Ärzte, 140 an der Zahl, während der ganzen Zeit ihrer ebenso schwierigen als angreifenden Tätigkeit eine bewunderungswürdige Hingebung an den Tag legten, ohne dass irgend eine Empfindlichkeit oder Rivalität ihre Sorge für das allgemeine Wohl im Geringsten gestört hätte; sie wurden hiebei von den Studenten der Medizin und einer kleinen Zahl von freiwillig helfenden Personen unterstützt. Nachdem sich noch Hilfskomitees gebildet hatten, wurde eine besondere Kommission ernannt, welche die Geschenke und Gaben an Betten, Weißzeug und Vorräten aller Art in empfang zu nehmen hatte, und eine weitere Kommission übernahm die Direktion über das Zentraldepot oder Magazin**).

*) Vom 15. Juni bis zum 31. August nahmen die Spitäler von Brescia nach den offiziellen Berichten allein an Fieberkranken und andern Kranken 19.665 Soldaten auf, von welchen mehr als 19.000 der franko-sardischen Armee angehörten. Die Österreicher hatten ihrerseits in ihren Spitälern im Venetianischen mindestens 20.000 Kranke, ohne die Menge von Verwundeten zu zählen, welche noch in denselben verpflegt wurden.

**) Die erste dieser Kommissionen war zusammengesetzt aus den Herren Pallavicini, Glisenti, Averoldi, Sienna, den Advokaten Zuccoli und Conter und dem Geistlichen Rossa; die zweite aus den Herren Basiletti, Caprioli, Rovetta und Da Ponte. „Wir haben 40.000 Einwohner in unserer Stadt,“ hatte 3 Tage vor der Schlacht der Bürgermeister von Brescia gesagt, „es stehen also 40.000 Betten zur Verfügung.“


In den großen Sälen der Hospitäler wurden in der Regel die Offiziere getrennt von den Soldaten untergebracht, ebenso legte man auch die Österreicher und Alliierten nicht zusammen; die verschienenen Betten erschienen vollständig gleich, allein auf einem Gefache oberhalb jedes Mannes erkannte man an der Uniform und der Kopfbedeckung die Waffe und das Corps, zu welchem der Verwundete gehörte. Anfänglich gestattete man den Eintritt von Besuchern nicht, weil dieselben den Dienst hinderten und erschwerten. Zur Seite martialischer und in ihr Schicksal ergebener Leute sah man wieder andere, welche murrten und sich beklagten; in den ersten Tagen schienen alle Verwundungen schwer. Bei den französischen Soldaten war jedoch bald der gallische Charakter oder Geist durch die Lebhaftigkeit und die Leichtigkeit im Ertragen des Missgeschickes, sowie durch seine Ausdauer und Energie erkenntlich, allein man bemerkte bei ihnen auch eine gewisse Ungeduld und Reizbarkeit bei dem geringsten Widerspruche. Da sie sich weniger leicht beunruhigen und erschrecken ließen, so ergaben sie sich auch leichter in die notwendigen Operationen, als die Österreicher, welche, minder sorglos als sie, eine wahre Angst vor jeder Amputation hatten und weit leichter von Schwermut erfaßt wurden. Die mit langen schwarzen Röcken gekleideten italienischen Ärzte pflegten zwar die Franzosen mit aller möglichen Rücksicht, allein die Art der ärztlichen Behandlung bei einigen von ihnen setzten die Kranken wahrhaft in Verzweiflung; denn die Italiener verordnen mit Vorliebe Diät, Aderlasse und Tamarindenwasser.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Erinnerung an Solferino (1859)