In Lemberg

Die Stadt selbst hat unter den Kämpfen nur stellenweise gelitten. Zwar findet man an den Häusern allenthalben Kugelspuren, die von erbitterten Straßenkämpfen zeugen, aber unbewohnbare Gebäude sind mit Ausnahme eines Viertels in der Außenstadt relativ sehr selten. Durch städtische und auch stark ausgeprägte private Initiative, die von den Besatzungsbehörden jede mögliche Unterstützung erfährt, beginnt das Leben wieder zu pulsieren, obwohl es weit davon entfernt ist, normale Formen anzunehmen.

Lemberg ist im Übrigen eine typisch europäische Stadt. Nach ihrer Bauart ausgesprochen französisch und deutsch, haftet ihr auch anderweitig nicht viel Russisches an. Es war den Bolschewisten in der relativ kurzen, ihnen zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich, ihr das bekannte Gepräge zu nehmen. Dafür haben sie sich um so mehr geleistet, was die Bolschewisierung der Bevölkerung anging.


Ein Fabrikarbeiter erzählt mir, die Herrschaft sei ursprünglich nur von Russen ausgeübt worden, die aber schon nach etwa einem Jahr ihre Ämter an Einheimische abgaben. Diesen fehlte zum größten Teil die Erfahrung in der Bolschewisierung, und was sie durch Organisation nicht erreichen konnten, versuchten sie durch willkürliche Zwangsmaßnahmen zu erzwingen. Vor allem hatte unter diesem Zustand natürlich die Arbeiterbevölkerung zu leiden. Um in Moskau von vorneherein gut Kind zu sein und um dort mit möglichst hohen Steuern und andern Abgaben imponieren zu können, wurden die Lohne für die Arbeiter wesentlich niedriger als im eigentlichen Russland angesetzt.

Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass diese Löhne und Gehälter in keiner Weise eine Anpassung an das herrschende Preisniveau fanden. Die Folge davon war ein ausgesprochenes Elend unter der arbeitenden Bevölkerung. Der Mann, mit dem ich spreche, verdiente monatlich 180 Rubel. Heute bezahlen ihm die Deutschen für dieselbe Arbeit 600 Rubel. Ein ähnliches Lohn- oder Gehaltsverhältnis stelle ich bei allen andern Leuten fest, die ich daraufhin ausfrage. Es ist verständlich, wenn sich unter solchen Bedingungen bei der Bevölkerung ein starker Oppositionsdrang geltend machte. Eine Folge davon war die rücksichtslose Ergreifung von Terrormaßnahmen durch die Machthaber der Stadt. Inwieweit die einzelnen Angaben der dadurch Betroffenen der Wahrheit entsprechen, lässt sich natürlich nicht ohne weiteres feststellen. Immerhin ist es auffallend, dass der von verschiedenen Leuten unabhängig von einander angegebene Maßstab für Strafen in den meisten Fallen übereinstimmte.

Die Behandlung der Kirche in Lemberg ist die gleiche gewesen wie in den Grenzgebieten. Verwaltungstechnisch und propagandistisch war ja die Stadt die Metropole der für den Bolschewismus zu gewinnenden Bevölkerungsschicht. Das heißt, der Kirchenbesuch war nicht verboten. Ihm entgegen stand lediglich ein starkes Aufgebot von Gottlosenpropaganda, die aber nicht ohne Erfolg durchgeführt wurde. Im allgemeinen lässt sich feststellen, dass die Bewohner von Lemberg den heutigen Zustand dem vorangegangenen entschieden vorziehen. Eine alte Frau meinte zu mir: „Die Deutschen sind zwar hart, aber sie sind gerecht; die Russen aber sind nur hart gewesen."

Ich weiß nicht, was die Deutschen mit Lemberg vorhaben, ich weiß nur, dass sie sich alle Mühe geben, aus der Stadt eine Metropole zu machen. Einen Mittelpunkt, vielleicht im Sinne einer Grenzstadt als letztes abschließendes Bollwerk gegen den Osten.

Wie in Berlin sieht man in den Straßen grüngekleidete Schutzleute und wie in der Nähe eines deutschen Bahnhofes laufen die mit der Uniform der Reichsbahn bekleideten Beamten herum.

Die Zahl der Juden hat wie überall in dieser Gegend abgenommen. Trotzdem gibt es ihrer noch sehr viele, so dass man ihnen eigene Straßenbahnwagen zur Verfügung stellt. „Nur für Arier" steht auf den Motorwagen geschrieben und „Nur für Juden" auf den Anhängern.

Wie zu hören ist, soll das Problem auch in Lemberg nach dem Muster von Warschau und Krakau eine Losung finden. Vorläufig bewegen sich die Juden alle frei und ungehindert in der Stadt, und nur die an das Reich erinnernden Plakate „Arisches Geschäft" oder „Hier werden Juden nicht bedient" zeichnen schon jetzt deutlich den zukünftigen Weg ihres kommenden Schicksals ab.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Schweizer Journalist sieht Russland