Der Osten

Die Erde, über die wir fahren, wird immer schwärzer und die Felder werden immer weiter, aber irgendwo in der Ferne sind verschwommen und dunstig stets die stahlblauen Silhouetten von Wäldern zu erkennen. Mit jedem Kilometer kommen wir dem wahren Osten naher. Es ist eigentümlich, dass der Begriff des Ostens auch zugleich denjenigen der Armut verkörpert. Aber es ist noch viel auffallender, dass es gerade dort sein muss, wo die Erde so reich und fruchtbar ist.

Was ich sehe, ist eine einzige aneinandergereihte Kette von Not und unsagbarem Elend. Es ist eine Schande für die ganze Zivilisation, wenn Menschen aus Fleisch und Blut in Hütten hausen müssen, in denen ein Bauer unserer Länder nicht einmal seine Pferde unterbringen würde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es im eigentlichen Russland noch schlechter ist. Die Kleidungsstücke, die diese Menschen tragen, sind manchmal kaum mehr als solche zu erkennen. Ein Bauer in der Nähe von Brody sagte zu mir: „Ich trage den Mantel, den mein Vater von seinem Vater erhalten hat." Das einzige, was diese Leute haben, sind halbhohe Stiefel, und darauf sind sie sehr stolz. Seit zwei Jahren aber, seit die Russen hier eingezogen sind, gibt es auch die nicht mehr zu kaufen.


Heute erhält dieses Bild noch eine besonders tragische Note durch die Zeichen des Krieges, die direkt und indirekt überall ihren Stempel zurückgelassen haben. Man muss in die Hütten hineingehen und mit den Leuten sprechen, um das tragische Elend zu erkennen, dem sie ausgesetzt sind. Nach außen hin sieht man nicht immer viel, denn wo nichts ist, da hat auch der Krieg sein Recht verloren, und nur an den Straßenseiten erblicken wir stets die Spuren der Kampfe und erkennen das Zerstörungswerk eines zurückflutenden Heeres.

Eine moderne Armee braucht Benzin und wieder Benzin. Aber weil Landstriche von solch unerhörtem Ausmaß nicht wie in Mitteleuropa mit modernen Benzinstationen versorgt werden können, hat die russische Armee alle 50 oder 100 Kilometer riesige Benzintanks neben der Straße in die Erde vergraben oder sie einfach daneben hingelegt. Diese Benzintanks sind heute alle restlos ausgebrannt und verkohlt. Und so ist es mit allem, was einmal in irgendeiner Form für den Kriegsdienst Verwendung fand. Wir besuchen auch einen Flugplatz, einen russischen Schulflugplatz, der genau so wie die Bunker in den ersten Verteidigungslinien noch nicht fertig war. Die Zementmaschinen zur Betonierung des Anlaufes stehen noch — allerdings zerstört — herum. In der Nähe einige Schulmaschinen, von denen auch nicht viel übrig geblieben ist. Und was noch da liegt, ein paar Stücke der Motoren, ein paar Fetzen der Tragflächen, das haben meine Kollegen und auch ich zum Teil als Andenken mitgenommen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Schweizer Journalist sieht Russland