Die Bolschewisten im Grenzgebiet

Die Festung Przemysl ist der erste Ort, in welchem Gelegenheit gegeben ist, die sowjetrussischen Methoden zu studieren. Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass erstens innerhalb von zwei Jahren nicht alles geschafft werden konnte und dass zweitens taktische, politisch propagandistische Erwägungen die Russen in den Grenzgebieten andere, viel weniger straffe Methoden einführen ließen. Moskau hatte ja bis zum Ausbruch des Krieges immer noch die Hoffnung, auch den restlichen Teil von Polen auf die eine oder andere Art in seinen Besitz zu bringen. So war dies der eigentliche Grund, weshalb die Bolschewisten in den Grenzgebieten wesentlich weniger radikal durchgriffen.

Ein Beispiel ist die Kirchenfrage, über die ich im weiteren Verlauf dieses Buches noch mehr zu sagen haben werde. Die Gotteshäuser sind von den Russen in den Grenzgebieten nicht geschlossen worden und man hat niemanden gezwungen, aus der Kirche auszutreten. Die einzige Einschränkung bestand, von offensichtlichen Drohungen von Subalternbeamten abgesehen, im Verbot an die Priester, sich in ihrer Amtskleidung auf der Straße sehen zu lassen. Es ist interessant, dass diese Vorschrift nicht nur für die christlichen Glaubenslehrer galt, sondern auch für die jüdischen. In dieser Hinsicht ging das Verbot so weit, dass sogar die sogenannten Kaftan-Juden, die im deutschen Generalgouvernement noch sehr häufig anzutreffen sind, und die auch nach außen hin ihre Religionszugehörigkeit erkennen lassen, in den von den Russen kontrollierten Grenzgebieten ebenfalls nicht geduldet wurden. Auch in diesem Falle hat der Bolschewismus aus propagandistischen Gründen konsequent jegliches nach außen hin dokumentierte Glaubensbekenntnis unterbunden.


Abgesehen von der offiziellen Erlaubnis zum Abhalten der Gottesdienste, war der Druck der kommunistischen Parteigenossen, in Verbindung mit dem, was die Leute durch Flüchtlinge über die Zustände im authentischen Russland erfuhren, immerhin schon groß genug, um unter den Gläubigen eine Panikstimmung zu schaffen. Bald nach der Besetzung der polnischen Gebiete durch die Sowjets gingen bei den Kirchgemeinden die amtlichen Ziffern über neugeborene und getaufte Kinder zurück. Die Angst von Frauen und Männern, durch eine solche Handlung die Gunst der Kommunisten zu verlieren, war so stark ausgeprägt, dass sie ihre Neugeborenen nachts zum Pfarrer brachten und sie heimlich taufen ließen.

Manchmal führten derartige Bedenken zu Extremen. Die Frau verheimlichte die Taufe des Kindes ihrem eigenen Gatten oder umgekehrt. So rannten sie beide voller Angst und Sorge und voll von Misstrauen gegen den eigenen Ehegatten, in stillen Nachten mit dem Kind im Arm in das Haus ihres Pfarrers, und erst der Priester konnte über die Namensfestlegung eine Doppeltaufe verhindern. Ein Zeichen, wie groß die Angst dieser Grenzbevölkerung gewesen ist.

Einer Bevölkerung, die, wie bereits betont, immerhin noch unter Berücksichtigung bestimmter politischer Erwägungen, vorsichtig behandelt wurde.

Diese erste Nacht im ehemaligen bolschewistischen Interessengebiet verbringe ich im einzigen Hotel auf der russischen Seite der Stadt, das noch annähernd bewohnbar ist. Zwar fehlen die Fenster, und auf der rostigen Drahtmatratze eines schmalen, eisernen Bettgestelles gibt es keine Wäsche, kein Bettzeug und keine Kissen. Aber auch ein zusammengerollter Mantel und eine warme Decke helfen der Müdigkeit in den Schlaf .

Zweimal in dieser Nacht wache ich auf, denn zweimal wird kurz, kalt und scharf geschossen. Dann ist es wieder ruhig.

Am nächsten Morgen gehe ich frühzeitig eine Stunde spazieren, und erst jetzt erkenne ich die mir im Dämmerlicht des Vorabends entgangene, umfangreiche Zerstörung. Kaum ein Haus steht unversehrt zwischen diesen Trümmern, fast überall fehlen zumindest die oberen Stockwerke.

Und trotzdem: Auch hier fordert das Leben schon wieder sein Recht, und der Mensch — wie konnte es auch anders sein — sein Vergnügen. Ich entdecke ein Kino. Es heißt Viktoria. Hilde Krahl und Otto Gebühr spielen den Film „Die barmherzige Lüge". — Das passt so recht hinein in die Reste dieser Stadt.

Wie ich mich umdrehe, gehen etwa zwei Dutzend jüngere und ältere Männer an mir vorbei. Über der Schulter tragen sie Pickel und Schaufel und am Arm die weiße Binde mit dem blauen Davidstern. Einen Augenblick halten sie an, und der Führer von ihnen verschwindet hinter der Tür eines halbzerfallenen Hauses. An seiner Wand steht geschrieben: „Sonderdienststelle für den jüdischen Arbeitseinsatz."

Es ist das erste Mai, dass ich von einer solchen Organisation etwas erfahren habe.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Schweizer Journalist sieht Russland