Die Demarkationslinie am San

In dieser Nacht erreichen wir die alte polnische Festung Przemysl am San. Am selben San, von dem man sagen darf, dass er im Laufe seiner Geschichte mehr Blut in seinen Wassern aufgenommen hat als je ein anderer Fluss. Przemysl, das schon im vorigen Weltkrieg drei lange Monate hindurch der Schauplatz harter Kampf e war und erst von den Österreichern gehalten wurde, bis es die Russen später eroberten, hat auch in diesem Kriege wiederum eine große Rolle gespielt. Der San trennt die Stadt in zwei Hälften, und als im Laufe des deutschen Feldzuges gegen Polen auch die Russen auf polnischem Gebiet einmarschierten, stellte der San die Demarkationslinie zwischen den damaligen Vertragspartnern dar.

Im Raume dieser alten Festung, von der nicht mehr viel übrig geblieben ist, bildeten die deutschen Truppen den ersten Kessel dieses Krieges, und nur um die russischen bolschewistischen Verbände innerhalb der Einkreisungszone zu halten, haben sie mit Erfolg darauf verzichtet, die Stadt im Sturm zu nehmen.


Im Laufe eines Gespräches habe ich einem volksdeutschen Zivilisten die Frage vorgelegt, welche Haltung nach seiner Ansicht und nach seiner Erfahrung die Polen in dem deutschen Kampf gegen Sowjetrussland einnehmen. Interessanterweise erhielt ich darauf eine durchaus positive und einleuchtende Erklärung. Mein Gewährsmann meinte, die Polen hatten ihre Gründe, sich sehr loyal zu verhalten. Während der russischen Herrschaft wurden die Ukrainer von den Bolschewisten in den ehemals polnischen Gebieten aus verständlichen Überlegungen heraus protegiert und die Polen unterdrückt. Aus diesem Grunde fühlen sich heute diese Polen, so unwahrscheinlich das auch klingen mag, von den Deutschen befreit. Sie wissen dies umso mehr zu schätzen, als die Unterdrückungsmaßnahmen des Bolschewismus unter dem neuen Herrscher eine starke Lockerung erfuhren.

Die Bevölkerung auf der russischen Seite der Stadt wurde von den deutschen Behörden ohne Einschränkung vorbehaltlos übernommen und in den deutschen Teil westlich des San eingegliedert. Es sind keine Recherchen über die Vergangenheit der einzelnen Menschen angestellt worden und es haben auch keine Verhaftungen stattgefunden. Freilich unterliegt dieses großzügige Vorgehen gewissen, sehr realistischen Überlegungen und man gibt offen zu, dass nach dem Kriege in dieser Hinsicht mit einer Änderung gerechnet werden könne. Als seinerzeit über Przemysl plötzlich die deutsche Fahne wehte, sah man sich schon aus technischen Gründen gezwungen, die Leute so beisammen zu lassen, wie sie waren. Nicht nur wegen der Einbringung der Getreideernte, sondern vor allem auch bedingt durch die landwirtschaftlichen Vorarbeiten für das nächste Jahr.

Es kommt außerdem als psychologisch wichtiges Argument noch dazu, dass die russischen Polen, die bisher von ihrem Land getrennt waren, über eine Verbindung mit den Landsleuten im Generalgouvernement, wiederum den Weg in die Heimat gefunden haben. Wer den richtigen Blick für die Verbissenheit und den ausgeprägten Sinn für das Familienleben der Landbevölkerung — auch in den Ostgebieten — besitzt, kann diesen Faktor, vom propagandistischen Standpunkt aus betrachtet, nicht hoch genug einschätzen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Schweizer Journalist sieht Russland