Längs der Straße nach Lemberg

Die Straße, die von den Russen während ihrer fast zweijährigen Herrschaft aus strategischen Gründen mit allen Schikanen ausgebaut wurde, läuft über rund 100 Kilometer Länge von Przemysl nach Lemberg. Von dort aus ist sie bis nach Kiew weitergeführt worden, wo sie einen direkten Anschluss nach Moskau hat. Soweit ich sie beobachten kann, geht sie, wo es immer möglich ist, der Bahn entlang, und sehr viele Rangierbahnhöfe ermöglichen praktisch ein Anhalten und Verladen des Materials an jeder beliebigen Stelle.

Schon wenige Minuten hinter der Festungsstadt Przemysl lässt sich eine auffallende Änderung im Gesamtbild festhalten. Ich meine nicht die Menschen, unter denen sich der auf der westlichen Seite des San fast völlig fehlende Typ des Ukrainers stark betont in den Vordergrund schiebt. Ich meine den Unterschied in den primitiven Bauernhäusern, den Unterschied in der Feldbestellung und allen andern sichtbaren Vergleichsmöglichkeiten, die gegeben sind; Wohlgemerkt, dieser Unterschied lässt sich hier nicht zwischen nur ostdeutschen und russischen Verhältnissen beobachten, sondern sogar noch zwischen polnischen und russischen. Die Häuser sind zwar nicht gerade verwahrlost, aber schlecht gepflegt, und in den Garten schießt das Unkraut in die Stauden. Ein gleiches Bild ergibt ein Blick auf die unbestellten Felder. Während auf der andern Seite des San die Bauern mit Frauen und Kindern über ihre Äcker gebeugt harte Arbeit verrichteten, sehe ich diesseits des historischen Flusses nur vereinzelte Menschen das gleiche tun.


Man wird mir einwenden, die Gegend, von der ich spreche, liege knapp hinter der Front und alle die angeführten Mangel seien Folgeerscheinungen dieses Zustandes. Diesem Einwand aber kann mit Berechtigung entgegengehalten werden, dass auch auf der andern Seite des San die Front bestanden hat. Außerdem liegen die Konsequenzen dieser sichtbaren Gleichgültigkeit weiter zurück als vier Monate, das ist die Zeit des Beginnes des deutsch-russischen Krieges.

Bald stoßen wir auf die ersten bolschewistischen Abwehrstellungen. Im Rahmen eines technisch und militärisch einwandfrei ausgedachten Schemas, stehen da ein Dutzend sehr starke und nach den modernsten Gesichtspunkten ausgebaute Bunker. Abgesehen davon, dass das Feuer der einen Anlage die andere deckt, waren bei der Konstruktion nach Ansicht eines deutschen Offiziers sogar schon die Erfahrungen berücksichtigt, welche die Franzosen mit ihren Panzerwerken in der Maginotlinie machten. Der für jeden Bunker unumgängliche, aber sehr gefährliche Luftschacht liegt genau unter den Läufen der Maschinengewehre. Durch das Abwerfen von Sprengladungen in diese Luftschächte wird bekanntlich die Besatzung getötet oder wenigstens zur Übergabe gezwungen. Soweit ist also alles in Ordnung, aber die Bunker haben einen Fehler: sie sind nicht fertig. Überall ragen aus dem Beton hervor noch die den Zement bindenden Eisenstäbe, und überall um sie herum sehe ich Bretter, Messinstrumente und Handwerksmaterial.

In einem einzigen von ihnen, der praktisch gebrauchsfertig war und der wohl auch von den deutschen Truppen als bereits besetzt angenommen wurde, entdecke ich ein großes, rundes Loch. Hier war eine Granate eingedrungen und hatte innerhalb des Geschützraumes sogar noch die zweite, rückwärtige Wand angeschlagen. Die Ursache für diesen glatten Durchschlag lag in dem Umstand begründet, dass der Bunker, wie so viele andere, die ich gesehen habe, noch nicht trocken war. Unter anderen Bedingungen wäre das nicht möglich gewesen, denn gerade die russischen Bunker sind nach dem Urteil deutscher Fachleute besonders widerstandsfähig. Es ist ein Geheimnis der russischen Architekten gewesen, der Zementmischung der Bunker eine besondere Legierung von Granitstaub beizumischen und dadurch eine bisher unerreichte Widerstandsfähigkeit zu erzielen.

Wir fahren weiter und finden bald die ersten deutschen Soldatengräber. Vier junge Kameraden liegen nebeneinander und unter den Stahlhelmen, die über den sorgfältig geschnitzten Kreuzen hängen, ist die Erkennungsmarke der Toten angenagelt. Etwa 1.000 Meter weiter durchfahren wir in einem Wald die zweite und dritte Verteidigungslinie der Russen. Auch hier ist keiner der Bunker fertig. Die Schützengraben sind gut angelegt und die einzelnen Stellungen sorgfältig ausgebaut. Aber eines fällt mir auf und irgendwie ist es typisch: Um ein freies Schussfeld und einen guten Ausblick zu erhalten, haben die Russen das getan, was andere auch nicht unterlassen hatten — sie haben den Wald, wo es nötig schien, umgelegt. Aber wie haben sie ihn umgelegt! Alle Bäume einen halben oder einen Meter über der Erde. Ohne Rücksicht auf die Möglichkeit einer späteren Aufforstung. Um Irrtümer auszuscheiden mochte ich betonen, dass es sich fast durchwegs um Jungwald mit schmalen und schwachen Bäumen handelte. Das heißt, die Bäume waren nicht deshalb auf diese Art gefällt worden, damit die langen Baumstümpfe gleichzeitig als Tanksperren dienen konnten. Eine Methode, die von den Russen im allgemeinen sehr häufig angewendet wird.

Auf fallend ist im Übrigen ganz allgemein dieses Fehlen jeglicher Tanksperren. Weder spanische Reiter, noch Tankfallen, noch Tankgräben sind zu sehen. Und das auf dem ganzen Wege bis nach Lemberg. Dasselbe trifft zu für Drahtverhaue. Man erhält den festen Eindruck, die Russen fühlten sich einem Angriff derartig überlegen, dass sie es für unnötig erachteten, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.

Aus diesem Grunde haben, meiner Ansicht nach, zwischen dem San und Lemberg keine wesentlichen Kämpfe stattgefunden. Die Bolschewisten mussten sich vom fünften Tage an, nach dem Fall von Przemysl, auf der ganzen Linie zurückziehen. Die Dörfer sind deswegen unbeschädigt, und nennenswerte Verteidigungsstellen sind bis kurz vor Lemberg nicht mehr anzutreffen. Nur hin und wieder zeugt ein am Straßenrande liegender, ausgebrannter russischer Tank von der Überrumpelung der Roten Armee.

Nachher fahren wir über eine Hügelkette und sehen weit hinein in die Unendlichkeit des Landes. Nebeldunst liegt grau und unsympathisch über den Wäldern, und tief steht das Regenwasser in den großen Pfützen. Wo Dörfer sind oder einzelne Hauser stehen, kräuselt sich vereinzelt blauer Rauch aus dünnen Kaminen in die Lüfte. Aber auf den Feldern ist nach wie vor kein Mensch zu sehen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Schweizer Journalist sieht Russland