Zwei Enden einer Theorie

Wenn wir die Annahme jeder Gemeinsamkeit zwischen den regulativen Ideen, dem Zukunftsideal, und dem aktuellen Aktionswillen der Reaktion und dem Ideal und Gegenwartswillen Dostojewskis ablehnen, könnte die Frage auftauchen, auf welcher Ebene des Bewusstseins und des Gefühls jene richtigere Formel anzutreffen wäre, die wir — mag sie sich nun von selbst aus dem Material herauslösen, oder mögen wir sie durch Deutung gewinnen — als den vertrauenswürdigsten Ausdruck der Persönlichkeit Dostojewskis ansprechen können. Wird ihm eine Richtlinie durch seine ethischen, religiösen, sozialen, wirtschaftspolitischen Bereitschaften diktiert, entwickelt er sein Weltbewusstsein aus einem Gefühl oder einem Gedanken, wird seine Haltung durch einen Affekt oder eine Idee legitimiert? Liegt der Hauptakzent seiner Mission auf einem sittlichen oder einem ökonomischen Motiv? Wir glauben jedoch, dass diese Frage im Verkehr mit Dostojewski die gleichgültigste Frage ist. Nicht als ob wir demnach das Recht hätten, ihn von einem einseitig ethischen oder einseitig sozialpolitischen Standpunkt aus zu beurteilen, sondern weil es nur die selbstverständlichste Verpflichtung ist, seine Persönlichkeit nur von ihrer intensivsten und wirksamsten Synthese aus zu begreifen, die allein alle inneren Spannungen seines Menschentums enthält. Dostojewski unterscheidet sich von der allgemeinen Eigenart seiner Zunftgenossen mit ihrer parteipolitischen Leidenschaftlichkeit nur dadurch, dass er als die radikalste und konsequenteste Persönlichkeit hervorsticht, welche alle gegebenen Möglichkeiten aufs äußerste auszunützen versuchte. Die weitausholende Gebärde, welche diese Renaissance politischer Instinkte auszeichnet und vor keinem Gebiet des Lebens haltmacht, keine Äußerungsform des Daseins unbenutzt lässt, bringt es mit sich, dass jede prinzipielle Verpflichtung auf eine besondere Art der geistigen Dignität das Gesamtphänomen nur verkümmert wiedergeben kann und ebenso unzulässig ist, wie etwa eine Differenzierung zwischen der regulativen Idee und dem Gegenwartswillen, die stets unlösbar miteinander verknotet sind, sich gegenseitig bedingen. Die Möglichkeiten, die in Dostojewski ruhten, seine Glaubensstärke, seine plastische Kraft, sein psychologischer Scharfsinn, seine affektive Gewalt liegen auf der Hand und teilen sich jedem unmittelbar mit. Was jedoch unsere Gewissenhaftigkeit herausfordert, ist die Frage: was er aus diesen Möglichkeiten machte?

Wenn wir früher die russischen Dichter erwähnten, welche genauer über die ökonomischen und sozialen Vorbedingungen des Lebens Informiert waren, als ihre Parteigenossen aus dem politischen Lager, so müssen wir jetzt hinzufügen: Dostojewski war der Weisesten einer. Gerade bei ihm tritt es zutage, dass die größere Empfänglichkeit für die konkrete Form sozialer Faktoren, die der Dichter zeigt, viele Zweideutigkeiten seines politischen Systems aufhellt und die menschliche Attitüde viel schärfer herausarbeitet, als die agitatorische Geste, die nicht unbeeinflusst bleibt von den falschen Obertönen der angewandten Begriffe. Es gibt keine Gestalt in den Romanen Dostojewskis, deren Herkunft wir nicht auf Herz und Nieren prüfen könnten, er schildert keinen Menschen, dem nicht das Stigma seiner sozialen Bedingtheit unlöschbar aufgedrückt wäre. Seine Helden tragen die Erinnerung an ihre Heredität, ihre Erziehung, an Vaterhaus und Heimat im Herzen, in Fleisch und Knochen und in der Haut, werden von ihr bis in die abstraktesten Sphären verfolgt, sei es indem sie Ihr erliegen, sei es dass sie sich ihr widersetzen und zu Rebellen werden. Die Art ihrer Rebellion, ihrer Kritik hängt auch von der Art der abgelehnten Verpflichtung ab. Die soziale Schichtenbildung der russischen Welt spiegelt sich In den Romanen Dostojewskis unverfälscht und unbemäntelt wieder, so deutlich, dass uns dies allein schon zeigt, wie wichtig Ihm die Kenntnis dieser Strömungen sein musste. Wir sehen den Aristokraten, den Beamten, den Kleinbürger, den Bauer, die Variationsmöglichkeiten sind sehr gering. Die Menschen treten mit den Hauptcharakteren Ihrer Kaste behaftet auf und der typische Konflikt entbrennt Im kritischen Augenblick, da sie sich der bestehenden Ordnung fügen sollen oder zu rebellieren anfangen. Es kann nicht anders sein, als dass sie den sozialen Zwang, den sie annehmen oder bekämpfen sollen, in einer für Ihre Stellung charakteristischen Form erleben. Ihre Persönlichkeit bildet und erschöpft sich in diesem Kampf. Und wir können kaum sagen, dass Im entscheidenden Antrieb zu ihrer Einstellung oder In der Lösung des Konflikts, mehr enthalten sei als der Ausdruck eines sozialen Geschehens, das wir für den Verlauf der Entwicklung ein von allen Nebenbestimmungen ziemlich unabhängiges Schema aufstellen können, das nur ein soziales Erleben voraussetzt und doch Anspruch auf typische Gültigkeit erheben kann: jene Rebellen, die aus einem sozial saturierten Milieu stammen, die alle Vorteile und Nachtelle Ihrer gesellschaftlichen Abkunft in einer dringenden, geschlossenen Form erlebt haben, gehen am Protest zugrunde; jene Menschen hingegen, die ein unsicheres Klassenbewusstsein, eine Erziehung ohne präzises gesellschaftliches Vorzeichen mitnehmen, scheinen eben in diesem Streben aus der Formlosigkeit zur Form eine relative Existenzberechtigung zu finden. Jene liefern den „orthodoxen“ Typus, dem der Dichter eine so schlechte Prognose stellt, diese den nihilistischen, den er zwar nicht empfiehlt, aber auch nicht aus der Welt schaffen kann. Die Outsider aller Klassen sieht er einer neuen Form des bürgerlichen Daseins zustreben, für die der Nihilismus nur ein Übergangsstadium ist. Die Tragödie des russischen Menschen umschreibt er mit den Worten: ,,Wenn wir Russen einmal die Bahn verlassen, so finden wir nie mehr zurück.“ Aber wenn wir dieses Nichtzurückfinden als Untergang verstehen, so trifft die Formel nur für diejenigen zu, welche irgend einmal eine Bahn hatten, die sie verlieren konnten, keineswegs auf alle Rebellen. Sie ist nur insofern allgemein gültig, als jene Rebellen, die nicht untergehen, in der Regel Menschen sind, denen nie das Gefühl der gesicherten und vorgezeichneten Bahn eingeimpft wurde. Es sind Zwittergeschöpfe der sozialen Hierarchie, der gesellschaftlichen Organisation. Pjotr Stepanowitsch Werchowenski ist der Sohn eines Schmarotzers der Aristokratie, Stawrogin kommt aus einem vollen Klassenbewusstsein heraus; ersterer ist diesem überlegen schon durch den Mangel jedes Verpflichtungsgefühls. Man könnte einen übersichtlichen Querschnitt des Gesamtwerkes Dostojewskis geben, ohne je einen individualisierenden psychologischen oder ethischen Differenzierungsmodus in den Vordergrund schieben zu müssen, einzig und allein durch eine Untersuchung der Varianten dieses sozialen Fallgesetzes, das er aufstellt. Nicht weil die Differenzierung fehlt, aber weil es uns wichtiger ist zu erfahren, was aus einer Persönlichkeit wird, als dass diese Persönlichkeit existiert. Für jede Kräftekombination findet Dostojewski bestimmte Formen des Denkens, des Fühlens, des Glaubens, ebenso wie er für jedes Glauben, Fühlen und Denken den Anschluss zum sozialen Bilde sucht. Der Teufel, welcher den reinen Glauben einer „dicken, sieben Pud schweren Kaufmannsfrau“, welche den Heiligen „ein Licht stellt“, haben möchte, sieht selbst aus wie ,,irgendein Herr, oder richtiger, ein russischer Gentleman von der bekannten Sorte, jedenfalls kein sehr junger Mann mehr, einer qui frisait la cinquantaine.“ Und die abstrakte Mission der russischen Seele wird jenen „tausend russischen Edelleuten“ anvertraut, von denen Werssiloff schwärmt.


Wenn wir uns jedoch durch diese Symptome verleiten lassen, in den politischen Schriften Dostojewskis nach einer Fortsetzung der geistigen Attitüde zu suchen, so geraten wir auch hier in einen Kreis von einheitlich zusammenhängenden, scharf formulierten Gedanken, welche keine geringere Gewissenhaftigkeit verraten. Man kann es nicht genug betonen, dass Dostojewski auch als Politiker über alle sozialen und wirtschaftlichen Strömungen der Gegenwart mit Argusaugen wachte, dass er in ihrem Umkreis ebensoviel Motive der Erregung fand, als auf irgendeinem anderen Anschauungsniveau, dass er einer der bewusstesten Wirtschaftspolitiker war, die je gewirkt haben. Denn oft genug wurde er uns, durch seltsame Missdeutungen seiner eigenen Worte, als ein Phantast vorgestellt, der den wirtschaftlichen Charakter der Welträtsel nicht anerkennt, während die unerbittliche Klarheit seiner ökonomischen Auffassung die rechte Lunge seines kosmischen Atemzuges ausmacht. Der russische Skitaletz ist für ihn nicht ein Mensch, der „seinen Gott verloren hat“, und auch nicht einer, der die ,,Beziehung zum Volk“ nicht finden kann; der Skitaletz ist in erster Linie ein Mensch, der es nicht über sich bringt — seine Leibeigenen zu befreien. ,,Wer verbot ihnen denn, wenn sie schon so sehr unter dieser Beleidigung ihres staatsbürgerlichen Gefühls gelitten, dass sie zu den Zigeunern liefen oder auf die Barrikaden nach Paris — wer hinderte sie denn, ganz einfach wenigstens ihre eigenen Bauern zu befreien und einen Teil ihres eigenen Landes unter ihnen zu verteilen, um damit wenigstens das eigene Gewissen von diesem Unrecht und sich selbst von der persönlichen Verantwortung frei zu machen? Aber von solchen Befreiungen hat man seltsamerweise nicht viel gehört, staatsbürgerliches Wehgeschrei dagegen ertönte doch genug und allerorten. „Das Milieu“, heißt es ja wohl, ,,das Milieu war die Fessel, und wie hätte er sich selbst seines Vermögens berauben sollen?“ Aber weshalb denn nicht, wenn die Bauern ihm schon so leid taten, dass er auf die Barrikaden lief? Ja, sehen Sie, das war es nun wieder, dass man in diesem „Städtchen Paris“ nicht ohne Geld auskam, selbst wenn man an den Barrikadenkämpfen teilnahm, die Leibeigenen aber — schickten den Zins.“

Wenn wir andererseits die Politiker erwähnten, die sich ihre ethische bona fides nicht verderben ließen, so fügen wir jetzt hinzu: Dostojewski war der Glühendsten einer. ,,Von welcher Art der Charakter der Religion eines Volkes ist, von dem Charakter sind auch die sozialen Formen dieses Volkes. Folglich sind die sozialen Ideale mit den sittlichen Idealen stets unmittelbar und organisch verbunden, doch die Hauptsache ist, dass sie einzig und allein aus diesen hervorgehen. Ganz für sich allein aber entstehen sie nie, denn indem sie entstehen, ist ihr Zweck nur die Befriedigung des sittlichen Strebens der betreffenden Nation, je nachdem wie und inwieweit dieses sittliche Streben in ihr entstanden und vorhanden sein mag. Folglich aber ist die persönliche Vervollkommnung im religiösen Geiste', wie wir sehen, im Leben des Volkes die Grundlage alles Weiteren, „denn persönliche Vervollkommnung ist nichts anderes als die Ausübung der empfangenen Religion.“ Eine soziale Formel ist undenkbar ohne eine sittliche Idee und eine sittliche Idee ohne soziale Wirkungskraft ist eine contradictio in adjecto, weil sie nur zwei Äußerungsformen desselben lebendigen Willens sind. Die Gründe, die Dostojewski anführt, sind alle nur Umschreibungen dieser Tatsache, aus der wir beim besten Willen nur eines heraushören können, dass er nur dann Vertrauen hat zu einem sittlichen Ideal, wenn er dessen ökonomische Verwirklichung überprüft hat, und nur dann eine ökonomische Methode für lebensfähig hält, wenn sie mit ihrer sittlichen Projektion übereinstimmt und ihn dieselbe überzeugen kann.

Diese Bemerkungen dürften nicht überflüssig sein, um unser kritisches Bewusstsein auf die richtige Perspektive einzustellen, wenn wir daran gehen, nach einem Ersatz für jene Ideologie zu suchen, der wir nicht das Recht einräumen können, Dostojewskis Persönlichkeit zu vertreten. Wir glauben nämlich, dass das plausibelste Resultat windschief zu gewissen Modeströmungen steht, welche die Deutung des kulturhistorischen Ereignisses, das der Dichter ohne Zweifel darstellt, versuchten und mehrere landläufige Gedankenkreise durchkreuzt. Sei es, dass dieselben an dem Umstand haften bleiben, dass die Motive, welche Dostojewski aus der Wirklichkeit holt, das Kolorit dieser Umgebung nicht verleugnen können, dass sein Aristokrat und Kleinbürger immer ein russischer Aristokrat und Kleinbürger bleibt und dass sein Mönch naturgemäß immer mehr von einem russischen Mönch als von einem romanischen Mönch an sich haben wird und diese Merkmale zum durchgehenden Maß erheben, sei es, dass sie seine metaphysische und religiöse Gebärde mit Vernachlässigung ihrer historischen Bedingtheit in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen oder beide Möglichkeiten in den seltsamsten Mischungen durcheinanderwerfen. Jede Übertreibung seiner nationalen Besonderheit oder seiner ethischen Ergriffenheit scheint uns jedoch weniger bestimmt als Dostojewski selbst und schon deswegen unvollkommen und zu allerhand Missverständnissen geneigt. Es ist schließlich nur eine Frage der persönlichen Vorliebe, ob wir seinen Christus betrachten oder das, was sein Christus wollte, ob wir das Weltgeschehen lieber als ein sittliches oder als ein ökonomisches verstehen. Mit einer kleinen Einschränkung: dass zu einer Zeit, da Kain den Bruder Abel erschlägt, nicht aus Neid darüber, dass sein Opferrauch mehr Wohlgefallen vor dem Herren findet, sondern um — Absatzgebiete zu bekommen oder zu behaupten, das Verschweigen oder Unterschätzen wirtschaftlicher Probleme nicht nur die Gefahr der Unvollständigkeit in sich schließt, sondern auch die Gefahr, eine Denk- und Gefühlsweise großzuzüchten, die einem Charakterfehler, einem sittlichen Krebs verteufelt ähnlich ist, also gerade die Zersetzung jener Werte nach sich zieht, die man zu verteidigen vorgibt. Und das ist der erste Vorwurf, von dem wir Dostojewskis sittliche Persönlichkeit freisprechen müssen: dass ihm der Wille zum Verwischen oder Verkennen realer Faktoren je eigen gewesen sei. Es ist vielleicht die wichtigste Veranlassung dafür, dass er zu überflüssigen Hilfshypothesen griff, dass er den Zwang und die unermessliche Tragweite von jenen Elementen, die eine falsche Empfindsamkeit als zu materialistisch aus dem Einflusskreis dieses Gottsuchers wegeskamotieren möchte, um ihn als seinen eigenen Gegenpart darzustellen, viel zu intensiv fühlte, um stets das angemessene Äquivalent in seinem Bewusstsein und ohne Hast und Übereilung die Aktionsmethode finden zu können, die ihm sein Instinkt als Antwort empfiehlt.

Was die Nur-Metaphysiker höchstens anführen könnten, wäre jene Attitüde des Dichters, die mit einer gewissermaßen lockeren Bereitwilligkeit in ethische und religiöse Disputationen einlenkt. Auch dort, wo er von der unlösbaren Einheit des sittlichen und sozialen Werdens spricht, schwingt ein Ton mit, als wäre das sittliche Problem seine Hauptsorge. Wir wollen dem Dichter nicht entgegenhalten, dass er hier mit einer Frage spielt, die kein Engel und kein Teufel bisher zu lösen vermochte, ob die soziale Krisis der sittlichen Ideenbildung vorangeht oder die Idee der sozialen Not — gerade in diesem Punkte möchten wir mit dem Dichter nicht polemisieren. Denn sobald wir uns mit ihm in jene Situation versetzt halten, welche die Vorbedingungen dessen, was er die „Selbstvervollkommnung des Menschen“ nennt, enthält, sind wir schon über den Kreis seiner historischen Bedingtheit hinausgelangt und stehen nicht mehr vor der Welt, mit der er ringen musste, sondern vor der Welt, die er träumte. Alle ethischen Skizzen, die Dostojewski entwirft, haben zur Voraussetzung einen schon erfüllten Menschheitstraum, nicht eine gegenwärtige Menschheit. Und wenn wir uns vor diesem unverrückbar emporragenden Gigantenbau seiner Dichtung fragen, was — nicht nur für uns, sondern auch für ihn — die brennende Qual und Sorge sein musste: was in einem sp?ten Nachher geschehen würde oder was in einem gärenden Heute geschieht, vergeht uns jede Lust zum Müßiggang. Wenn wir uns um die Knotenpunkte der Beziehungen zwischen ihm und seiner Gegenwart bemühen, muss uns die Erwägung leiten, dass ihm gerade aus seinem scheinbaren Antimaterialismus ein ungeheures Pondus sehr materiell bedingter Sorgen erwuchs; denn er fordert eine historische Situation, die — einige seltene Augenblicke ausgenommen, die er auch selbst zusammenstellt — niemals verwirklicht wurde und der Welt, der er gegenüberstand, diametral entgegengesetzt ist. Der größte Teil der metaphysischen und ethischen Phantasmagorien Dostojewskis dient nur dazu, um das regulative Ziel in seiner Seele festzunageln, nicht weil er von der Kontemplation nicht loskommen kann, sondern weil die aktuelle Verpflichtung eine Anspannung erforderte, die ohne innere Verschiebungen kaum zu erreichen war; und der andere Teil ist nicht einmal innerlich zweckmäßig, sondern nur aus der praktischen Not des Kampfes zu erklären, sodass wir den guten Glauben verlieren, sie als autonome Abstraktionen behandeln zu dürfen, wenn wir die blutige Wirklichkeit erst nachgefühlt haben, der sie dienten.

Die regulative Idee in der Weltanschauung Dostojewskis können wir, wenn wir seiner Notwendigkeit und nicht seinem Zufall folgen, nicht anders und nicht besser nennen als: Kommunismus. Und den aktuellen Kampf nicht anders verstehen als ein verzweifeltes Ringen gegen die emporkommende Bourgeoisie. Halten wir gegen einen kommunistischen Willen das Bild dieses Russland, in dem die größte Volksmasse, die je in einer staatlichen Organisation untergebracht war, wehrlos, wie kaum ein anderes Volk, den brutalsten, plumpsten und zugleich den listigsten und modernsten Methoden der Ausbeutung ausgesetzt ist, versuchen wir es nachzufühlen, welche wahnwitzige Tollkühnheit in dem Gedanken steckt, der Dostojewski leitet: es werde ihm gelingen, die kapitalistische Bourgeoisie in einem Lande im Keime zu ersticken, das kaum der Leibeigenschaft entwachsen ist — mit anderen Worten: denken wir uns einen Menschen im gleichzeitigen Kampfe mit der russischen Reaktion und dem russischen Großkapital — und wir übersehen den ungeheuren Umfang der Aufgabe, die, selbst wenn wir mit einem Dostojewski rechnen, groß genug sein dürfte, um jede Spannung, jede Dimension, jede Tiefe zu erklären.

Alle Gedanken- und Gefühlsreihen, welche in uns durch diese zwei Begriffe — Kommunismus und kapitalistische Bourgeoisie — ausgelöst werden, bringen uns der Persönlichkeit Dostojewskis viel näher als die scharfsinnigste rassentheoretische oder religionsphilosophische Erörterung der kulturhistorischen Bedeutung seiner Mission. Dem Wesen nach geben beide den Kern von Dostojewskis politischem Streben wieder, der zweite — die Negation der kapitalistischen Bourgeoisie — auch dem Worte nach. Wir drücken damit keineswegs einen Zweifel gegen die Berechtigung aus, mit dem Begriffe des Kommunismus Dostojewski gegenüber zu operieren, da wir viel eher auf dem Standpunkt stehen, dass wir die innere Logik des Begriffes nicht radikal und bestimmt genug erfassen können, wenn wir nach einer zweckmäßigen Definition für die Gesinnung des Russen suchen, dass dies der Begriff ist, welcher am besten unser Verständnis fördern, das Missverständnis vermeiden kann, der wenigstens ebensoviel Anregung zur Erkenntnis bietet, als eine rassentheoretische oder religionsphilosophische Problemstellung Ablenkungsmöglichkeiten. Wir drücken nur aus, es sei uns gegenwärtig, dass Dostojewski selbst das Wort nicht gelten lassen wollte. Es enthält für ihn eine Eventualität des Verkanntwerdens, die für uns nicht mehr besteht. Für ihn war die Vorsicht geboten, für uns ist sie überflüssig. Es hieße schlecht die um einen entscheidenden Grad günstigere und freiere Situation ausnutzen, wenn wir dieselben taktischen Wendungen und dieselben taktischen Fehler wiederholten, die dem großen Russen nicht durch die innere Logik seiner Aufgabe, sondern durch die überaus heiklen Verhältnisse aufgezwungen wurden, in welche er mit seinem Aktionsplan hineinwuchs.

Wenn in ihm eine Hemmung wirksam war, die es ihm verbot, sein Christusideal durch die Kopulation mit dem Wort ,,Kommunismus“ zu kompromittieren, obwohl die theoretische und praktische Formulierung, die er seinem Ideal mitgibt, die prinzipielle Differenzierung nicht erlaubt, so ist das nicht viel mehr als eine philologische Empfindlichkeit. Allerdings — eine Empfindlichkeit, welche sich aus einem für die Entwicklung seines theoretischen Programms wichtigen Knoten herleitet. Nur gehört dieser Knoten schon zu den sekundären Produkten seines Willens, und es ist Voraussetzung unserer ganzen Darstellung, dass wir zwischen dem primären Antrieb und den sekundären Erscheinungen unterscheiden. Mit Berufung darauf (und in der Voraussicht, dass uns die nähere Untersuchung darin rechtfertigen wird, dass wir diesen Komplex zu den sekundären Erscheinungen rechnen), lehnen wir von vornherein jede Verpflichtung ab, die man aus diesem subjektiven Vorurteil Dostojewskis ableiten mag; seine Idee dürfe mit keinen westeuropäischen Ideen verwechselt werden, sein Konflikt, der russische Konflikt, sei von allen westeuropäischen Konflikten schon im Wesen verschieden. In dieser Detailfrage spiegeln sich alle Verlegenheiten wieder, die uns überhaupt den Verkehr mit Dostojewski erschweren und von hier aus, warum in Dostojewski der seltsame Horror gegen jeden Verdacht und Schein, er könne mit westeuropäischen Politikern etwas gemeinsam haben, emportauchen konnte und warum uns jede Ursache fehlt, ihm darin zu folgen, ließe sich das ganze Problem aufrollen.

Aus unserer Annahme, Dostojewskis politisches Ziel sei mit dem Kommunismus, im weiteren Sinne mit den westeuropäischen Bestrebungen um die endgültige Emanzipation der Menschheit von jeder wirtschaftlichen Hierarchie, mit den sozialen Idealen des vierten Standes, identisch, ergeben sich unmittelbar zwei Hauptbedingungen, die bei Dostojewski erfüllt sein müssen: erstens die Universalität der Idee, die Abwesenheit jeder Möglichkeit einer Einschränkung der Idee auf eine nationale Resultante, ihre übernationale Kapazität, zweitens die reale Wirksamkeit einer bestimmt determinierten sozial- und wirtschaftspolitischen Lage. Wir verschweigen es nicht, dass wir die Absicht und den möglichen Wert unserer Darstellung in der Betonung dieser zwei Faktoren gipfeln lassen möchten. Wir befürworten eine Auffassung Dostojewskis, welche sich nicht mit jenem sentimentalen Trost begnügt, dadurch, dass er sich um sein Russland sorgte, habe er für die Menschheit gesorgt, sondern prinzipiell von ihm aussagt: er habe nur deshalb für seine Heimat schaffen können, weil er vor allem für die Menschheit schuf, weil die Rätsel, die ihm seine Heimat stellte, dieselben Rätsel waren, welche die gesamteuropäische Seele seit der französischen Revolution quälten, nur um einige Nebenkomplikationen bereichert, die auf den Schwerpunkt der Frage keinen Einfluss haben. Wir befürworten eine Entlastung des kulturhistorischen Problems Dostojewskis von allen religiösen, metaphysischen, mystischen Entwicklungen — das heißt: wir leugnen, dass sich aus seiner Existenz die historische Notwendigkeit oder Fruchtbarkeit irgendeines autonomen nationalen, religiösen, metaphysischen, mystischen Systems ableiten lässt, dass sein Werk und seine Tat mehr vom religiösen oder nationalen Charakter Russlands weiß, als von den ökonomischen Kämpfen der modernen Menschheit. Dostojewski ist uns kein „christliches Genie“, kein ,,nationaler Dichter“ — Dostojewski ist uns in letzter Instanz ein Heros der sozialen Kämpfe des neunzehnten Jahrhunderts. Soweit das Experiment gestattet ist, können wir sagen: wir könnten uns einen Dostojewski denken, der nichts von Russland, nichts von einer ,,Kirche“, nichts von einer Rechtgläubigkeit wei?, aber wir können uns nicht einen Dostojewski denken, der nicht Kommunist ist und nicht der kapitalistischen Bourgeoisie den Fehdehandschuh hinwirft. Es ist nicht das Objekt unserer Untersuchung, welche seelischen und geistigen Möglichkeiten sich um diese ideelle Leitlinie gruppieren können; jede Aussage darüber betrachten wir als Privatsache des Vortragenden, mit Bezug auf Dostojewski als eine Nebenfrage, die wir am besten durch seine eigenen Worte erledigen — ,,denn persönliche Vervollkommnung ist nichts anderes als Ausübung der empfangenen Religion“. Jede Diskussion darüber ist ein Streit um Gespenster. Es kümmert uns wenig, wie viel und welche Strömungen er in seine Haupttendenz münden ließ, denn das kritische Moment liegt nur darin, ob er ihre Konsequenz auf sich nahm. Es ist nur eine natürliche Folge ihrer inneren Folgerichtigkeit, wenn er vor keiner Schranke und keiner Dimension haltzumachen braucht, sobald er sich ihrem Dämon ergibt.

Unsere bisherigen Ausführungen waren Beiträge zu einem indirekten Beweis für diese spezifische sozialpolitische Bedeutung Dostojewskis. Seine politischen Schriften bieten uns jedoch Anhaltspunkte genug, um einen direkten Beweis zu versuchen.

Im Anhang zur ,,Puschkinrede“ gibt er eine Ableitung seines Christusideals, welche beide Forderungen erfüllt; sie zeigt, dass er es in einer universalen Perspektive fand, und dort, wo sie das Ideal zur sozialen Formel konkretisiert, entwirft sie das Bild einer Gesellschaft, für die wir in unserem volkswirtschaftlichen Sprachschatz keinen anderen Ausdruck finden als: Kommunismus. ,,Ja, soziale Ideale — bessere als Ihre europäischen, stärkere als Ihre europäischen, stärkere und sogar — o Entsetzen ! — freisinnigere als es die Ihrigen sind! erinnern Sie sich: was war und was wollte die älteste christliche Kirche sein? Sie bildete sich sogleich nach Christus, damals nur aus einigen wenigen Menschen, war sie bestrebt, ihre „bürgerliche Formel“ zu finden, die restlos auf der sittlichen Hoffnung und der Idee der Wiedergeburt und Erneuerung des Geistes auf Grund der persönlichen Vervollkommnung beruht. Es entstanden christliche Gemeinden, Kirchen, und dann begann schnell eine neue, bis dahin noch nie gesehene Nationalität zu entstehen — eine allbrüderliche, allmenschliche in der Form der allgemeinen ökumenischen Kirche. Aber sie wurde verfolgt, ihr Ideal entwickelte sich gleichsam unterirdisch — Zwei Enden einer Theorie über ihr aber, auf der Erde, entstand gleichfalls etwas Großes, ein riesenhaftes Gebäude, ein ungeheurer Ameisenbau: das römische Imperium . . . Ein kleiner Teil der Kirche ging in die Einsamkeit und setzte in der Einsiedelei die frühere Arbeit fort: Es entstanden wieder christliche Gemeinden, dann Klöster — alles freilich nur Versuche, sogar bis zum heutigen Tage. — In der westlichen Hälfte ging die Kirche zu guter Letzt vollständig in den Staat auf . . . In der östlichen Hälfte dagegen ward der Staat vom Schwerte Mohammeds zerstört und so blieb ihr nur Christus, ein Christus, der vom Staat ganz gesondert war. Das Land aber, das dann von Byzanz aus diesen Christus annahm und von neuem erhob, hat so grauenvoll unter Feinden, unter dem Tatarenjoch, unter Unordnung im Reich, unter der Leibeigenschaft, unter Europa und dem imitierten Europäertum zu leiden gehabt . . . , dass seine soziale Formel — im Sinne des Geistes der Liebe und der christlichen Selbstvervollkommnung — sich in ihm allerdings noch nicht hat ausarbeiten können.“ Vor dem Geiste, der sich hier ausspricht, schmilzt jeder nationalistische Ballast wie Wachs an der Sonne. Dostojewskis Vertrauen zu diesem Urbild seines Christus stammt weder daher, dass seine Geburt mit russischen oder slawischen Attributen behaftet war, noch dass er in seiner Wanderung durch die Welt auch nach dem Osten kam, sondern einzig und allein daher, dass er in ihm gewisse ethische und soziale Möglichkeiten verkörpert sieht. Infolgedessen gehen wir überall dort irre, wo wir seinen Christus aus dem Wesen der orthodoxen Kirche, irgendeines russischen Mystizismus, einer russischen Metaphysik, heraus erklären, denn wir müßten erst untersuchen, inwieweit dieselbe tatsächlich die ethischen und sozialen Ideen repräsentiert, die Dostojewski befürwortet. Das ist ein abseits liegendes Problem: warum sich Dostojewski um den Nachweis bemüht, dass im Westen die reine Bedeutung der Christusidee getrübt wurde, warum ihm der Westen weniger berufen scheint, diese Forderungen zu erfüllen, als der Osten. Seine Beweisführung bewegt sich immer nur auf der Linie von übernationalen, allgemein-sittlichen, allgemein-sozialen Kriterien, er definiert nicht Christus nach dem Urbild der Russen, sondern er definiert den Russen nach dem Urbild Christi. Wir können höchstens notieren, dass die Gründe, die er gegen die Lauterkeit des westlichen Christentums anführt, tendenziös sind oder falsch — insofern falsch, als sie noch lange kein Beweis sind, dass die reinere Idee trotz der historischen Entwicklung der Kirche nicht auch im Westen irgendeinen Schlupfwinkel fand und wir uns ebenso gut auf den Standpunkt stellen können, dass sie auch im Osten schon ausgespielt habe, da die offizielle orthodoxe Kirche um kein Haar weniger imperialistisch angepasst ist als der Katholizismus oder Protestantismus — aber wir haben kein Recht, an dem guten Glauben des Dichters zu zweifeln. Wir müßten erst sehen, ob die fälschende Tendenz durch den Willen bestimmt wird, die spezifische Bedeutung der Christusidee zu negieren, oder durch Umstände verursacht wird, welche dieselbe in keiner Beziehung durchkreuzen. Wir glauben, dass sie die Folge der Ungeduld war, das Ideal verwirklicht zu sehen, dass sie aus keinem Negativismus, sondern einer überdeterminierten Liebe entsprang.

Der Dichter erläutert die soziale Formel, die ihm als unmittelbare Folge seines lebendigen Christusideals gilt, an einigen Beispielen, deren gemeinsamer Grundzug so deutlich hervortritt, dass er keine Deutung erfordert. Er fragt sich: wie würde es in einer wahrhaft christlichen Gesellschaft aussehen? was würde die Gutsbesitzerin Korobotschka tun? könnte Shakespeare einen Diener haben? — Paulus und Timotheus, die ökumenischen Gemeinden, die russischen Bauern, die vor den Tataren in die Wälder fliehen, — eine lange Reihe von konkreten Bildern, die nichts anderes sind als Skizzen einer auf wirtschaftlicher Gleichheit beruhenden menschlichen Gesellschaft. Dostojewski exemplifiziert an den Beispielen der ,,Sklaverei“ und der „Leibeigenschaft“, die von selbst aufhören, dort wo Christus ins Leben tritt (z. B. auch in der Umgebung jenes Fürsten Myschkin aufhören müßten, der sein Geld mit vollen Händen ausstreut, gleichgültig wohin, weil er dieses Machtmittel nicht braucht; hier ist wohl die naivste Frage, die wichtigste, sie ist vor allem die Dostojewskische Frage: was wird aus der Welt, wenn alle Menschen auf dieses Machtmittel verzichten?) Er tut das zu einer Zeit, da weder Sklaverei noch Leibeigenschaft mehr in der Welt bestanden, für die er schrieb. Und doch erscheint ihm sein „viertes Rom“ ferner denn je! Der Hintergedanke kann nur sein: dass ihm jede wirtschaftliche Abhängigkeit als Sklaverei und Leibeigenschaft gilt, mag sie welche Formen immer annehmen.

Zuletzt bleibt er an dem Bilde des russischen Bauern, des „Krestjanin“ haften. Die Frage ist natürlich noch immer wichtiger: warum er an diesem Bilde haften bleibt? — als die Feststellung, dass es ein russischer Bauer ist, aber jedenfalls beginnt, indem er für ein Ideal, das er aus dem Universum holt, einen individualisierten Träger verantwortlich macht, die taktische Wendung zu wirken, welche zur Ausbildung von jenen Nebenhypothesen führte, die uns die ursprüngliche Gestalt seiner Idee verschleiern. Es mag jedoch schon hier zur „Entschuldigung“ Dostojewskis erwähnt sein, dass die Beweggründe der Einschränkung noch viel schärfer determiniert sind als durch die bloße Erkenntnis, dass das westliche Christentum ins Imperium übergegangen sei. Denn schon in dieser Zweiteilung, nicht erst in den Motiven, die er vorschiebt, steckt der Selbstbetrug — die Annahne, der Wunsch, mit dem östlichen Christentum möge nicht dasselbe der Fall gewesen sein, oder wenigstens die halbe Bereitwilligkeit dort, wo die Annahme den Tatsachen widerspricht, die präjudizierende Bedeutung der Tatsachen abzuschwächen. Denn was gibt Dostojewski das Recht, die Widerstände, die sein Ideal in Russland findet, mit der legeren Gebärde auszuschalten: ,,das Land aber, das dann von Byzanz aus diesen Christus annahm und von neuem erhob, hat so grauenvoll unter Feinden, unter dem Tatarenjoch, unter Europa . . . zu leiden gehabt und erträgt auch jetzt noch so viel Schweres, dass seine soziale Formel sich in ihm allerdings noch nicht . . , den europäischen Ameisenbau jedoch als etwas Nichtwiedergutzumachendes hinzustellen? oder das Recht zu glauben, dass diese Herren ,,vom Schlage des Herrn Gradowskij, die sogenannten russischen Europäer“, in Russland weniger vermögen als in Europa? Zwischen den ökumenischen Gemeinden und dem Krestjanin steht nicht die Erkenntnis vom Imperialistischen Drang des Papsttums — dazwischen stehen auch diese Gradowskijs, der Kampf mit dem Liberalismus und Nihilismus und nicht der besondere Charakter seines Christusideals, nicht seine persönliche Veranlagung, und noch viel weniger die Distanz zwischen dem russischen und dem westeuropäischen Problem habe die Verklausulierungen zur Folge, sondern bloß die durch den Kampf mit dem Herrn Gradowskij geschaffenen Nebenumstände.

Sein Christus trägt nur das Vorzeichen des Antiegoismus; wenn man hinzufügt: Antimaterialismus, Antiindividualismus, so sagt man schon zuviel. Wenige haben es wie Dostojewski erkannt, dass die Ablenkung der Diskussion vom Egoismus auf einen Materialismus und Individualismus eine Flucht vor dem lebendigen Sinn des Problems, vor dem springenden Punkt der Frage bedeutet, schon einen Ausdruck der unlauteren ethischen Absicht enthält. Materialismus und Individualismus sind ebenso eine fälschende Bezeichnung für seine Feinde, wie der „russische Christus“ schon einen unreinen Unterton enthält. Dostojewski ist nicht einmal antimaterialistisch und antiindividualistisch — er anerkennt das Problem nicht an, ungefähr in derselben Weise, wie ihm der Feminismus eine leere Frage ist: „der ganze Fehler der „Frauenfrage“ besteht darin, dass man Unteilbares teilt, Mann und Weib einzeln betrachtet, während sie doch ein einziger geschlossener Organismus sind . . . Ja sogar mit den Kindern, mit den Nachfahren und Vorfahren und mit der ganzen Menschheit ist der Mensch ein einziger unteilbarer Organismus.“ Er selbst ist unter Umständen sehr materialistisch und sehr individualistisch gesinnt (siehe: das Shakespeare-Beispiel). Dieser Dualismus besteht nicht für seine Ethik, ebensowenig als die Untersuchung über die Verteilung von Subjektivität und Objektivität in seiner Kunst irgend etwas über sein Werk aussagt.

Seine Ethik ist antiegoistisch und in jeder anderen Beziehung vollkommen frei. Sie ist nichts anderes als die primitivste und darum lebensfähigste ethische Formel, der ethische Urinstinkt, der nichts anderes fühlt als die einfachste Situation: dass die Menschen zusammenleben müssen. Vor dieser Situation fehlt der Sittlichkeit jeder zureichende Grund, und wenn sie sich nach diesem kritischen Moment komplizierter gibt, so kann sie es nur deshalb tun, weil die Menschen der Aufgabe des Zusammenlebens eine zweite Aufgabe superponierten, die, sich gegenseitig zu beherrschen. Dostojewski anerkennt alle menschlichen Äußerungen — daher auch den Materialismus, denn er weiß: nicht die Empfänglichkeit für positive Werte ist gefährlich, sondern der Wille, dieselben egoistisch auszunutzen; nicht das ,,Ich“ ist gefährlich, sondern dessen Überhebung — nur die zweite Mission, von der sich die Menschheit hypnotisieren ließ, kann er nicht anerkennen. Ist dieser Antiegoismus westliches oder östliches Christentum? ist es byzantinisch, katholisch oder protestantisch? gehört nur der russische Bauer in seinen Interessekreis, oder auch der englische Grubenarbeiter, der chinesische Kuli? ist irgendwo eine Einschnürung, die seine Kapazität vermindert? Wir wissen nur eines: trotz der Verringerung des Interessekreises, die Dostojewski vorübergehend durchführt, schnellt er dann wieder so hoch empor, dass nicht nur der englische Grubenarbeiter und der chinesische Kuli aufgesogen werden, sondern sogar — der russische Liberale und Nihilist. Vor diesen zwei Extremen — die ökumenische Gemeinde und die Versöhnung aller Widersprüche der historischen Menschheit — verschwindet der Traum von Konstantinopel in einer Versenkung, dass nicht viel mehr übrigbleibt an seiner Stelle, als die bange, luftig-leichte, kaum noch wahrnehmbare und doch zentnerschwere Frage: hat Dostojewski recht, wenn er dem russischen Volke vor allen anderen die Fähigkeit zutraut, sein Ideal in Wirklichkeit umzusetzen? der Menschheit den ersten Antrieb zur „endgültigen Lösung der verhängnisvollen Frage des vierten Standes“ zu geben? Wenn wir die Ausführungen Dostojewskis um ein Geringes ergänzen und uns z. B. sagen, dass wirklich ein Volk vor allen anderen in Europa auserlesen wurde, das Problem des dritten Standes aufzurollen, das französische Volk, so fühlen wir vielleicht die tatsächliche Schranke, die jede Entscheidung verhindert. Denn die würde eine historische Intuition und eine Sachkenntnis erfordern, die wir uns nicht zusprechen, aber noch weniger denjenigen, die Dostojewskis Panslawismus in alle vier Windrichtungen hinausposaunen, als hätten sie ihn nun gepackt — jedenfalls Dostojewski noch eher als ihnen. Eine Sachkenntnis und Gewissenhaftigkeit, für die letzten Endes die praktische Voraussetzung fehlt: dass man erst abwarten müsste, bis sich die Gradowskijs ausgetobt haben und wieweit sie es in Russland bringen. Die gute Frau Chochlakoff in den „Brüdern Karamasoff“ erzählt uns ja, dass es in Sibirien noch viele Minenlager gibt . . . Dostojewski selbst wird manchmal daran irre: ,,Die sorglose Zeit der Trunkenheit nach der Bauernbefreiung geht vorüber. Noch nie ist das Volk für gewisse Einflüsse so empfänglich gewesen (und schutzlos ihnen preisgegeben) . . . Sogar die nihilistische Propaganda wird ihren Weg finden. Hat es bisher nur wegen der Dummheit, Unerfahrenheit und Naivität der Propaganda noch nicht getan . . . Unsere Kirche verharrt aber seit Peter dem Großen in einem Zustande der Lähmung . . . Währenddessen ist unser Volk fast ganz sich selbst überlassen, nur auf die eigenen Kräfte angewiesen. Unsere Intelligenz — alles geht vorüber.“ Es ist unmöglich, Dostojewski in diesem Punkte zu billigen oder zu widerlegen, wenn sogar er uns im Stiche lässt. Seine Hoffnung beruht darauf, dass jene Rechtgläubigkeit, die er im russischen Volke findet, seinem Glauben entspreche und sein Glaube bleibe. Und unsere Zweifel beginnen damit, ob diese Rechtgläubigkeit wirklich nichts anderes sei, als die ins Triebhafte verwandelte Gebärde jener einfachsten ethischen Formel, oder ob sie schon ein Produkt der „staatsbürgerlichen“ Dressur jener Kirche ist, für deren Bedingtheiten Dostojewski in beneidenswertem Selbstbetrug nur Peters Reformen verantwortlich macht.

Aber durch diesen Zweifel wird die Einheitlichkeit der Anschauungen Dostojewskis keinesfalls gespalten. Denn es ist ein Anderes, wenn er von seinem Christus, wenn er von der Rechtgläubigkeit des russischen Volkes spricht und wenn er außerdem noch die russische Kirche hinzunimmt. Im ersten Fall ist er dem ureigenen Quell seiner Mission am nächsten, im zweiten träumt er schon von der endlichen Verwirklichung, im dritten sucht er schon Bundesgenossen für seinen Plan, der einen rein hypothetischen Wert hat. Nicht nur, weil das Ziel so weit in der Zukunft liegt, sondern weil die einzige Möglichkeit der Vorarbeit, die ihm seine Gegenwart bot, abseits von der naturalistischen Bedeutung dieser Begriffe lag und weil auch nur in der Ausnutzung dieser Möglichkeit seine Synthese die äußerste Potenz empirischer Wirksamkeit erreichte. Wir wollten nur den theoretischen Ausblick eröffnen auf die Möglichkeit einer realistischeren Interpretation des ersehnten ,,neuen Wortes , sei es auch nur, um aus dem Kreise jener vorschnellen Urteile des großen Russen, die unser Grenzgefühl verletzen, eines hervorzuheben, das uns zeigt, dass selbst dort, wo er sich selbst und uns entfremdet scheint, ein dickes Faserbündel sachlicher Erregung aufzuckt, das wir nicht unterschätzen dürfen; denn in ihm pulst die gesunde Kraft, die es dem Dichter ermöglichte, immer wieder auf sich selbst zurückzukehren. Dostojewski möchte zum Schluss seine universale Synthese von allen Fesseln emanzipieren, die er ihr selbst anlegte, und nachdem er ausgerufen: ,,Russland liegt zwar in Europa, aber in der Hauptsache doch in Asien. Nach Asien! nach Asien!“ schmiedet er seinen Prometheusgedanken, dessen Blick vom Osten hypnotisiert schien, vom Kaukasus los und lässt ihn wieder über Europa schweben. Sollte ihn die Geschichte wieder zurückholen? Vorausgesetzt, dass sein „drittes Rom“ — das nicht Konstantinopel ist und nicht der Zar und nicht einmal Russland — überhaupt zu den Möglichkeiten der geschichtlichen Entwicklung gehört, könnte dessen Verwirklichung nicht die Mission der ,, russischen Revolution“ sein, jener wirklichen russischen Revolution, die mit der von 1905 nichts gemeinsam haben wird? In diesem Sinne, aber nicht in dem der Vitalisten, könnte Dostojewski recht behalten. Dostojewskis soziale Formel mag einfach und naiv erscheinen. Wir glauben jedoch, dass darin die Probe aufs Exempel erblickt werden kann, in der unendlichen Einfachheit, in der radikalen, grenzenlosen Exklusivität der Idee. Sie ist ein Zeichen von der ungeheuren Gewaltsamkeit beim Zusammenstoß dieses Titanengeistes mit der Welt, dessen Wucht alle halben Entschlüsse und Kompromisse zerreißt, um nur letzte Konsequenzen bestehen zu lassen. Jede kompliziertere Deutung artet notgedrungen in ein pretiöses Verschachern des Details aus, sie kann uns um so weniger gut bekommen, als sie dem Dichter selbst schadete. In diesem Kreuzungspunkt laufen alle Kraftlinien zusammen, die durch die Gewaltsamkeit des Angriffs ausgelöst werden, von ihm gehen sie aus. Jede einzelne läßt s;ch einzeln untersuchen, in irgendeiner Phase ihres Verlaufs abfangen; aber 98 w ei Enden einer Theorie was sie uns mitteilt, ist nur in dem Maße richtig, als ihr lebendiger Trieb von der Kraft des ersten Anstoßes weiß.

Wenn wir seinen Christus als das Symbol des Antiegoismus erkannt haben, haben wir zugleich die erste Weisheit und letzte Spitzfindigkeit erschöpft, deren Dostojewski als Ethiker fähig ist. Jede andere Deutung könnte nur dort Anregung finden, wo Dostojewski selbst nicht mehr mit der Wirklichkeit rechnet, sondern mit einer problematischen Zukunft. Wenn er sich manchmal in einem anspruchsvolleren Pathos auszuleben scheint und diesem einfachsten Gesetze handgreiflichere Formeln anzuhängen versucht (z. B. dort, wo er das Verhältnis von Staat und Kirche bespricht), steht er nicht mehr unter der Suggestion der in ihm wirksamen Wirklichkeit, sondern unter der Suggestion jener naiven Halluzinationsgabe — ,, jener lebhaften Zuversicht, mit der er auf die Schnelligkeit und Möglichkeit der Verwirklichung jener Aufgaben vertraute“, weil er ,,fest überzeugt war, dass das, was sein geistiger Blick schon so klar sah, unfehlbar und bald sich auch verwirklichen werde“. Er versetzt sich in einen Menschheitstraum, in dem wirtschaftliche Probleme nicht mehr bestehen, nicht etwa, weil die Menschen keine anderen Sorgen haben, als an ihrer Selbstvervollkommnung zu arbeiten, sondern weil die Selbstvervollkommnung der Menschen so weit gediehen ist, dass sie es nicht mehr nötig haben, Herr und Diener zu spielen, und von diesem durchaus fiktiven Standpunkt aus beginnt er zu spekulieren. Was seine Seele in dieser Situation produziert, hat für uns nur den Wert der psychologischen Bestätigung, wie sehr er an dieser Idee hing, aber seine Aussagen können den Inhalt dieser Idee weder modifizieren noch erklären. Die Vereinigung von Staat und Kirche, von der er schwärmt, ist eine Umschreibung des Wunsches, seine christliche Idee möge schon zur staatlichen Organisation erwachsen sein; der Mensch, den er im Menschen findet, ergibt sich immer als Antwort auf die Frage: inwiefern könnte ich dich in meinem Zukunftsstaat brauchen?

Diese halluzinatorische Hast hätte vielleicht nie zu Missverständnissen geführt, wenn sie nicht die Anregung zu mannigfaltigen dialektischen Folgerungen und Ausflüchten gegeben hätte, mit denen Dostojewskis Bewusstsein reichlich ausgestattet ist. Das einzige sittliche Problem, das für ihn fruchtbaren Wert haben kann, ist im Gedanken enthalten, dass der Mensch durch Macht, Besitz, durch jede Methode der Absonderung und Überhebung der Aufgabe der Menschheit entfremdet wird, ,,Reichtum ist eine Stärkung des Einzelnen, eine mechanische und geistige Befriedigung, folglich eine Loslösung des Einzelnen vom Ganzen“. Vom Standpunkt Dostojewskis aus könnte man die Erbsünde nur als den symbolischen Ausdruck jenes Missgriffs erklären, der irgend einmal im Verlauf der Menschheitsentwicklung in Erscheinung getreten sein muss: dass die Menschen den Begriff des Eigentums an Stelle des Daseins, des Geborenseins, des Menschseins zum Grundprinzip ihrer praktischen Ethik, ihrer Gesetzgebung setzten. Daraus ließe sich kein anderes Aktionsprinzip ableiten als der Wille, den dunklen Punkt wieder aufzuhellen, dahin zu arbeiten, dass der Fehler wieder gut gemacht werde. Und aus den Romanen Dostojewskis lässt sich auch keine andere Idee entnehmen, als die Überzeugung, dass alle Herrschaftssysteme, die über dem „Ganzen“, über dem ,,Volke“ lasten, für diejenigen, die sie ausüben, nicht weniger als für diejenigen, die unter ihnen leiden, die Loslösung von der natürlichen Bestimmung des Menschengeschlechtes zur Folge haben — kein anderer Wille als der, ihre Knoten aufzulösen, ihre Pilaster zu pulverisieren. Stawrogins sittliches Streben muss unfruchtbar bleiben und zur Selbstvernichtung führen, weil diesem Menschen jede Möglichkeit fehlt, seine sittliche Forderung in die Tat umzusetzen. Was nützt ihm der gute Wille, wenn der kleine Ausschnitt der Menschheit, mit dem er zusammenlebt, ihn nicht braucht und seine Stellung im Gesamtbild der Gesellschaft sich schließlich darauf reduziert, dass er besitzt und andere nicht besitzen? Aber Dostojewski möchte ein Phänomen, das er nur als eine Bewegung, als eine unruhige Verwandlung erleben konnte, in ein immanentes Prinzip der Ruhe und Trägheit verwandeln, auf vorgezeichnete Bahnen festlegen. Sein Bedürfnis, absolute Formen der Ethik zu sehen, ist eine Reaktion auf seine Unzufriedenheit, dass die gültigen Daseinsformen seinem Weitempfinden nicht entsprechen. Indem er die Antwort wieder zur Frage macht, stellt er das Problem auf den Kopf und verschiebt es ins Unkontrollierbare. Er nimmt Möglichkeiten vorweg, die für ihn selbst nur unter gewissen Bedingungen zu bestehen anfangen, und projiziert sie in eine Wirklichkeit, die von ihm schon als Gegensatz zu jenen Möglichkeiten gefühlt und erkannt wurde. Dadurch entsteht in seiner Seele und in seinem Geist ein dehnbarer Raum, der angefüllt ist mit Widersprüchen und kleineren und größeren Formlosigkeiten, in dem schwankende Nebelbilder des Gedankens und des Gefühls die Grenzen seines Erlebens verschleiern. Er muss die Bedingungen des Experiments forcieren, um überhaupt ein Spiel von Frage und Antwort inszenieren zu können. Nicht mehr das Machtbedürfnis des Menschen ist die Sünde, sondern z. B. seine Fähigkeit zu töten, zu stehlen, sich gegen irgendwelche Gebote der Allgemeinheit zu vergehen. „Ich frage: weshalb ist es unsittlich, Blut zu vergießen? Wenn ich das Gegenteil behaupte, werden Sie meine Behauptung natürlich auf keine Weise widerlegen können. Wenn wir nicht im Glauben und in Christus eine Autorität hätten, würden wir uns in allem verwirren.“ Und gerade hier, wo er eine freie, von allen irdischen Banden losgelöste Sittlichkeit sucht, wird die Beweisführung materialistisch und schablonenhaft. „Für mich ist das Beispiel und Ideal der Sittlichkeit Christus. Ich frage: hätte er Ketzer verbrannt? — Nein! Also ist es eine unsittliche Handlung.“ Er gibt sich an unfruchtbare Antithesen ab, die sehr wenig von den Sorgen verraten, die ihn wirklich erfüllen. ,,Als Staat konnte der Staat M. und N. nicht begnadigen (der Wille des Monarchen ausgenommen). Denn was ist eine Hinrichtung? — Im Staat: ein Opfer für eine Idee. Stünde aber an Stelle des Staates die Kirche — dann gäbe es keine Hinrichtungen.“ Wenn man sagt, Dostojewski hätte sich um das Verhältnis von Kirche und Staat gesorgt, um die Todesstrafe, um das Begnadigungsrecht, so sagt man nicht nur etwas Abstraktes, sondern etwas Unzutreffendes.

Und in diesem unkontrollierbaren Räume kommt jenes Scheinbündnis zustande, welches Dostojewski vorübergehend mit den Trägern von Interessen und Ideen verkuppelte, die seinen Interessen und Ideen entgegengesetzt waren.

Zwei Ursachen förderten die falsche Mischung: die theoretische Unsicherheit der Parteien, sowohl der Reaktionäre als auch Dostojewskis, und der Umstand, dass beide in derselben dritten Partei den gemeinsamen Feind sahen. Die russische Aristokratie einerseits und Dostojewskis Traum von einer Volksherrschaft andererseits fühlten sich durch die Bestrebungen des emporkommenden dritten Standes in gleichem Maße geschädigt. Für die verschiedenen Pole waren natürlich die Beweggründe der Feindschaft wesentlich verschieden, aber weil sie gegen dieselben Theorien und dieselben Menschen ankämpfen mussten, fanden sie ähnlich klingende Argumente. Die Autokratie und Aristokratie fühlten sich durch die Forderung der Liberalen nach einer freieren Verfassung in ihrer Macht bedroht, die Menschen von den Anlagen und der Gesinnung Dostojewskis fühlten nur, dass die alte herrschende und besitzende Klasse um eine neue Schar von Herrschenden und Besitzenden und ein neues System der Macht bereichert werden sollte. Ihre Aufgabe, die sie durch eine Auseinandersetzung mit der ersten Schichte lösen zu können glaubten, wird ihnen unsäglich erschwert, indem sich eine zweite Schichte dazwischen schiebt, deren Macht und Einfluss noch unberechenbar ist.

Dostojewskis Hass gegen den Nihilismus ist ein Kampf gegen die kapitalistische Bourgeoisie, die sich vorbereitet, dem Absolutismus den Rang abzulaufen. Alle Verwicklungen, die uns die Bedeutung seiner Aufgabe verhüllen, werden nur dadurch verursacht, dass er mit einem Programm des vierten Standes auftritt, während noch der dritte Stand um seine Existenzberechtigung und Bewegungsfreiheit kämpfen muss; auch jene seltsame Hemmung, die es ihm verwehrte, irgendeine Interessengemeinschaft mit westeuropäischen Konflikten anzuerkennen und an der nur Eines wahr ist: dass in Westeuropa dieser spezifische Charakter des sozialen Kampfes schon viel deutlicher erkennbar war als in Russland. Wollte man ihr nachgehen und Dostojewskis Persönlichkeit aus der Annahme dieses prinzipiellen Gegensatzes erklären, so würde man die wichtigsten Komplexe seiner historischen Gewissenhaftigkeit auflösen und in jenes Gestrüpp von Vorurteilen hineingeraten, an denen uns die Fiktion des Panslawismus fast noch weniger gefährlich erscheint, als jene kurzsichtige Voraussetzung, die Dostojewskis politische Haltung durchzieht — dass der Kapitalismus, der bis in die dichtesten Urwälder Afrikas vorgestoßen ist, gerade Russland erspart bleiben sollte. Denn nur um diese Hypothese zu stützen, übertreibt er alle jene Nebenmotive, die ihre Fühler bis zum engherzigen Nationalismus hinübersenden. ,,Da vereinigt sich gerade jetzt die französische Bourgeoisie, und vereinigt sich nur zu diesem Zweck: um die eigenen Bäuchlein vor dem vierten Stand, der schon die Tür, die zu ihr führt, zu zertrümmern droht, sicherzustellen ... Es kann nicht ein kleiner Teil der Menschheit die ganze übrige Menschheit wie einen Sklaven beherrschen, einzig zu diesem Zwecke aber sind bisher alle bürgerlichen (schon lange nicht mehr christlichen) Einrichtungen im jetzt vollkommen heidnischen Europa errichtet. Diese Unnatürlichkeit und diese „unlösbaren“ politischen Probleme (die übrigens allen bekannt sind), müssen unfehlbar zum großen, endgültigen, abrechnenden, politischen Kriege führen, in den alle hineingezogen werden und der noch in diesem Jahrhundert, vielleicht schon in diesem Jahrzehnt ausbrechen wird. Der Fabrikant ist ängstlich und leicht zu erschrecken, der Jude gleichfalls, sie würden, sobald der Krieg sich etwas in die Länge zieht oder nur droht, sich in die Länge zu ziehen, sogleich alle ihre Fabriken und Banken schließen, und die Millionen hungriger, entlassener Proletarier werden auf die Straße gesetzt sein . . . Und so setzt der Krieg den Proletarier auf die Straße. Was meinen Sie, wird er auch jetzt wieder nach alter Art geduldig warten und hungern ? — jetzt, nach den Siegen des politischen Sozialismus, nach der „Internationale“, den Kongressen der Sozialisten und der Pariser Kommune? Nein, jetzt wird es anders sein: die Proletarier werden sich auf Europa stürzen und alles Alte auf ewig zerstören. Erst an unseren Ufern werden die Wogen zerschellen . . . und dabei, meine Herren, weisen Sie jetzt, gerade jetzt auf dieses Europa hin und empfehlen es uns als Vorbild und fordern uns auf, bei uns jene selben „Einrichtungen“ einzuführen, die doch morgen schon stürzen werden . . .?“ Mit diesen Worten ist der Grundgedanke ausgesprochen, der dem Dichter für alle seine Urteile über Europa maßgebend ist und zugleich für seine Stellungnahme zur russischen Entwicklung. Wir sehen, was er am meisten fürchtete und hasste, den Mittelpunkt seiner Anschauungen. Wir sehen auch seinen Fehler: der Glaube, dass die ,,Komödie der bourgeoisen Vereinigung“ in Russland keinen Eingang finden werde und aus diesem resultieren alle anderen — dass Russland andere Lösungen für das Problem des vierten Standes finden werde, als der westeuropäische Sozialismus (den er demgemäß auch mit der Anarchie, sogar mit der Bourgeoisie, mit dem , »Judentum“ zusammenwirft), dass die westeuropäische Bourgeoisie zusammenstürzen wird, noch bevor der Westen ihre Organisationsmethoden und Herrschaftssysteme übernommen haben wird, weshalb er ihr auch eine kürzere Lebensdauer prophezeit, als es der kühnste Sozialist je gewagt hätte. Aber Inzwischen wurde unsere Kritik auf eine ganz andere Perspektive abgelenkt, als es diejenige ist, die uns der Panslawismus vortäuschte. Wir können uns höchstens fragen, inwiefern wir den Hass gegen die Bourgeoisie verstehen oder billigen, aber die Frage nach der Nationalität des neuen Erlösers verschwindet im Hintergrunde.

Dostojewski errichtet eine chinesische Mauer zwischen Russland und Europa, nicht weil er die Absonderung liebt, sondern weil ihm die Absonderung seine Aufgabe erleichtert. Auf dem Umweg, den er deshalb suchen muss, trennt sich unser historisches Gewissen und auch unser historisches Wissen von ihm, das um ein halbes Jahrhundert der Erfahrungswelt des Russen voraus ist. Die Trennung geht sehr weit; so weit, dass uns jenes Russland, welches nach seiner Annahme der Revolution des vierten Standes widerstehen wird, beinahe als jenes Land erscheint, in welchem diese Revolution am ehesten zu erwarten ist. Schon deshalb, weil dort das Missverhältnis zwischen der großen Masse und dem „kleinen Teil der Menschheit, welcher die ganze übrige Menschheit wie Sklaven beherrscht“, in Russland immer viel größer sein wird als in irgendeinem westeuropäischen Staat. Es ist das merkwürdigste Moment in unseren Beziehungen zu Dostojewski: dass wir hier, wo unsere Erwartungen seinen Anschauungen am meisten zu widersprechen scheinen, wieder mit ihm zusammentreffen und gespannt nach der Stimme des Menschheitsblutes horchen, die durch seinen Mund spricht und das „neue Wort“ ankündigt. Die Übereinstimmung gibt uns zu denken, dass Alexander Herzen auf dem entgegengesetzten Wege zu denselben Schlüssen gelangt, über die Idee der Revolution zur Überzeugung von der Befreiermission des russischen Volkes, wobei er sogar dieselben Posten in die Rechnung aufnimmt: den Gegensatz von Petersburg und Moskau und die Fähigkeit Russlands, die Bourgeoisie zu überspringen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Dostojewski – Zur Kritik der Persönlichkeit