Der Kampf

Es sind zwei wesentlich verschiedene Dinge: ob wir einen Dostojewski in die Welt hineinstellen, den die nebelhaften Ideen der Panslawisten erfüllen, oder einen Dostojewski mit dieser eindeutigen sozialen Zielsetzung. Denn wenigstens das größte Hindernis, das uns den Zugang zu seinen Symbolen zu versperren schien, das Fehlen jeder Vergleichsmöglichkeit für ein äquivalentes Weltbild, ist kaum mehr vorhanden. Nur wäre uns damit nur halb gedient, wenn wir zur Annahme berechtigt wären, dass Dostojewski als Dichter jene Phase übernimmt, welche im Irrtum der Unantastbarkeit der russischen Entwicklung, ihrer Immunität gegen bourgeoise Einflüsse gipfelt, anstatt nur der für uns verständlicheren Empfindung der prinzipiellen Ablehnung einer durch die Bourgeoisie infizierten Welt zu folgen. Die Wirklichkeit, die er schildert, wäre darum nicht lebensfähiger, weil er sie auf einen interessanten Irrtum abstimmt.

Die Frage ist jedoch schon durch den indirekten Beweis entschieden. Wenn wir Dostojewskis Panslawismus nur als Hilfshypothese seines aktuellen Strebens erkannt haben, als die Folge einer anderen Fiktion und andererseits in seinem Werke die Spuren seines Panslawismus nicht wiederfinden können, so können wir nur folgern, dass er als Dichter den Irrtum und alles, was damit zusammenhängt, nicht brauchte. Sein kosmisches Erleben dreht sich um den Empfindungskern: wird Russland die kapitalistische Bourgeoisie übernehmen oder nicht? Und das ist der größte Kontrast zwischen dem Dichter und dem Politiker, dass dieser verneinen möchte, was jener bejahen muss. Die Lösung ist letzten Endes in der wechselnden psychologischen Einstellung zu suchen, welche die beiden Äußerungsformen bedingt. Wenn sich Dostojewski fragt: wie wirke ich auf diese Welt? — wie bekämpfe ich die Bourgeoisie? — wird ihm die Annahme, dass die Bourgeoisie nie zur Herrschaft gelangen kann, zum willkommenen Bundesgenossen. Wenn es ihm jedoch darum zu tun ist: wie stelle ich mich zu dieser Welt ? — wenn seine kämpfende Persönlichkeit die Verpflichtung des Schauenden, des Ahnenden übernimmt, können ihm nicht jene Symptome entgehen, welche ihre tatsächliche Wirksamkeit bekunden. Nur deshalb, weil ihm für seine Wirklichkeitsbilder, zur Darstellung der unerwünschten Erkenntnis seine Welt Formen nahelegte, die im Vergleich zu den Formen eines ausgebildeten Kapitalismus skizzenhaft und unbestimmt sind, schien uns der indirekte Beweis die bessere Basis für den Aufbau seiner inneren Ökonomie zu bieten.


Wenn es ihm nicht möglich ist, eine sittliche Überzeugung anders zu beurteilen, als nach der Form der Ausübung, die sie eingibt, so ist sein Kampf nicht ein Ringen um ein nichtverpflichtendes Verstehen, sondern vor allem ein Kampf um diese Form, um die Möglichkeit der Ausübung. Es ist eine besondere Schwierigkeit, dass er gegen einen Feind kämpfte, der noch in einer gewissen Formlosigkeit befangen war, so dass auch seine Abwehr ins Unbestimmte ausholt. Um die Verkettung dieser Motive, die in einer theoretischen Darstellung vielleicht zu kantig erscheinen, nachzufühlen, müssen wir es versuchen, sie in ihrer lebendigen Kontinuität zu belauschen, in jener Aufeinanderfolge, in der sie Dostojewski erlebte. Nur empfiehlt es sich, um den Gefahren auszuweichen, die infolge jener Unbestimmtheit jeden Schritt begleiten, über den Kreis seines eigenen Daseins, über den Kreis der Dostojewskischen Erfahrungswelt hinauszugreifen und den Ausgangspunkt seiner Anschauungen mit jenem Endpunkt zu vergleichen, zu dem der Panslawismus jetzt gelangt ist, die realen Gewalten, die Dostojewski beeinflussen, mit jenen Kräften, mit denen der Traum vom goldenen Hörn jetzt in Wechselbeziehung steht. Durch den Widerspruch zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart wird die Situation so krass beleuchtet, dass wir der Aufgabe enthoben werden, die Vergangenheit zu verteidigen, ebenso wie seine inneren Widersprüche uns früher der Aufgabe enthoben, den Panslawismus zu widerlegen.

Und wir müssen immer mit der Voraussetzung rechnen, dass im Dichter die Möglichkeit, die Fähigkeit zu diesen spezifischen Umwegen vorgebildet war, dass zwischen den Extremen seiner Weltanschauung genügend Raum für den Irrtum war. Es ist schwer, beinahe unmöglich, Entwicklungen anders darzustellen, als sie tatsächlich aus gegebenen Verhältnissen erwuchsen. Man kann sie höchstens umschreiben. Jede Umbiegung, Übersetzung wirkt unnatürlich, weil man durch keinen Vergleich die zwingende Macht der Wirklichkeit ersetzen kann. So ist es auch hier, wenn wir sagen, der Traum, der dem Panslawismus des Dichters vorschwebte, sei nicht eine Weltherrschaft der Slaven, sondern eine Volksherrschaft — und zwar eines Volkes, das den Akzent des ,,vierten Standes“ trägt; oder wenn wir den Zaren, die Orthodoxie aus seinem Weltbild ausschalten wollen. Er hat es gesagt: ,,Ich bin wie Puschkin ein Diener des Zaren.“ Er hat es ausgerufen: ,,Nach Asien! nach Asien!“ und wir können keine Äußerungen dafür einsetzen, die seinem Gefühl in diesen Augenblicken besser entsprochen hätten. Und in anderen Augenblicken hat er sich wieder danach gesehnt, das griechische Kreuz auf die Kuppeln der Hagia Sophia zu setzen. Diese Ideen sind Bestandteile jener Ökonomie, die ihm den Weg zum Traume der Wirklichkeit und zur Wirklichkeit des Traumes eröffneten, sie entfalteten sich in ihm mit einem bestimmten Eigenwert, mit einem bestimmten Affekt, in dem mancher Niederschlag von Kräften ruht, welche die Einfachheit des Planes trüben. Nur ist es nicht dasselbe, ob er von ihnen ausgeht, oder ob er sie erst findet, nachdem er schon eine andere Idee und Realität postuliert hat. Es ist nicht gleichgültig, wenn er seine Zarentreue folgendermaßen begründet: „Ich werde noch mehr sein Diener sein, wenn er wirklich glauben lernt, dass das Volk sich als seine Kinder fühlt. Ich weiß nicht, weshalb er es noch immer nicht glauben zu wollen scheint“. Denn der Nachsatz sagt soviel als: ich bin nicht ein Diener des Zaren! Und hier erst ist Dostojewski seinem Ausgangspunkt nahe: wenn er uns auseinandersetzt, was er als Forderung des Volkes versteht. Die ist nun derart beschaffen, dass wir es uns an den zehn Fingern abzählen können, wann er aus einem Zarendiener ein Zarenfeind werden würde. Es ist nicht gleichgültig, dass er seinem Ruf: ,,Nach Asien!“ die Begründung vorausschickt: ,,Die Behörden und alle diese Beamten, die sind doch in ihrem Verhalten zum Volk ungefähr: „A quelle sauce voulez-vous qu'on vous mange! — Mais nous ne voulons pas“! Dumpfe Verzweiflung.“ Denn nur in diesen Motiven steckt die wirksame Komponente, nicht in der Farbe des Fähnleins. Die Frage kann höchstens sein: warum ist er noch nicht ein Zarenfeind? warum dient ihm gerade Asien als Zufluchtsort? Wir können seinen Irrtum nicht korrigieren — denn es ist kein Irrtum, was ein notwendiges Mittel zum Zweck war. Den vollen Sinn und die ganze Kraft der Erleuchtung, die seine Seele schwellte, lässt sich schon deshalb nur vergleichsweise definieren, mit Hilfe von Begriffen, die selbst nur Fiktionen sein mögen, weil er die „Armen Leute“, den „Doppelgänger“, ,,Netotschka Neswanowa“ schrieb, sich von Familie und Beruf trennte, sich zum Tode verurteilen ließ, um sie vorzubereiten — den ,,Raskolnikoff“, den „Idioten“, die ,,Dämonen“, die ,,Karamasoff“ ersann, um sie zu erschöpfen, und sich zwischendurch mit den mächtigsten Geistern seiner Zeit in einem Zweikampfe maß, der mit scharfen Waffen geführt wurde und in dem es keinen Pardon gab. Wir müssen sie als eine empirische Größe hinnehmen, deren Dasein keine weitere Begründung und Auflösung gestattet. Aber es ist uns immerhin Anfang und Ende gegeben und wir können den Weg verfolgen, den er gehen musste, um sie zu finden, und wir sehen, wie er es anstellte, um den Herd seines Feuers gegen die Außenwelt zu schützen. Wenn wir diesen Weg schrittweise untersuchen, erkennen wir, dass nicht alle seine Mühen der Flamme galten, sondern dass ein nicht geringer Teil seiner Kraft dafür geopfert werden musste, um eine Schutzwand gegen gefährliche Winde zu errichten. Wir sehen die Flamme, die falsche Wand und auch den Ruß, aber das Wichtigste ist uns die Wärme und die Glut.

Wenn wir seinen Weg nachzeichnen wollen und auf seinen Ausgangspunkt zurückgehen, müssen wir Vieles abstreifen, was wir von seiner Entwicklung wissen — nicht nur die Hagia Sophia und den Zaren, sondern sogar ,,Russland“ und beinahe auch seinen Christus. Denn sein kritisches Erlebnis ist ganz ohne ,,Idee“, kann fast nur naturalistisch nachempfunden werden. Man könnte höchstens den Begriffskreis ,,Volk“ heranziehen. Volk ist für Dostojewski nicht eine dialektische Floskel, sondern eine blutige Wahrheit. Die Menschheit, die er retten und befreien will, ist nicht ein hypothetisches Russland — sie ist jener tatarische Knabe, den er lesen und schreiben lehrt, der Vatermörder, der im Traume bereut, der brave Diener, der ihm die Bibel stiehlt, alle diese Sträflinge, die heute Spießruten laufen und sich morgen wie Schulbuben beim improvisierten Theater unterhalten — diese „Unglücklichen“, die er an seinen Busen drücken möchte wie Brüder, und die sich gegen seine Liebe wehren, trotz des gemeinsamen Schicksals, das sie verbindet, denn — „ihr Adeligen habt uns das Blut ausgesogen“; und die ihm beim Bad helfen und ihm zeigen, wie man die Hosen durch den Kettenring durchzieht. Und auch jene Frau, die ihr Töchterchen zu ihm schickt, um ihm zwei Kopeken in die Hand zu drücken. Die Formulierung der verworrenen Gefühle, die ihm der Anblick des großen Jammers und der großen Demut aufdrängt, beginnt damit, dass er sich sagt: „Ja, wir haben euch ausgesogen, wir sind schuld an diesem ungeheuren Druck, der über euch lastet, dass ihr nur eine Verzweiflung fasst, wenn ihr in die Freiheit zu greifen versucht, — aber wir haben uns selbst ausgesogen, um mit unserem Blut den Moloch zu stillen, den wir über euch wälzten. Seht, ich bin bei euch!“ Dostojewskis Menschheitsliebe ist emporgeblüht aus einem Humus von Verbrechen und Mord und die ersten Frühlingswinde, die sie umkosten, trugen den Fluch des großen Elends, das Gejohle betrunkener Sträflinge, das Geheul der Gefolterten, das Klirren der Ketten, den Gestank einer sibirischen Deportiertenbaracke. Die Qual des Ungeziefers, die Marter des Nichtalleinseinkönnens, die Zuckungen der Epilepsie, das Schleppen von Ziegelsteinen über die endlose Steppe — waren ihre ersten Prüfungen.

Die Liebe hält. Sie ist vorbereitet durch seine ganze persönliche Entwicklung, aber dieses unmittelbare, animalische Erlebnis läuft jeder Formulierung voraus. Ist sein Mitleid bis zum großen Elend vorgedrungen oder hat der Jammer die Riegel seines Herzens gesprengt? Wem eine solche Liebe wird, kennt keine andere. ,,Nur das ist stark, wofür Blut vergossen wird — bloß vergessen die Nichtswürdigen, dass es sich nicht bei denen als stark erweist, die das Blut vergießen, sondern bei denen, deren Blut vergossen wird. Und das, gerade das ist das Gesetz des Blutes auf Erden.“ Dostojewskis Liebe war stark, weil sie das Gesetz erfüllt hatte. Schon die ungeheuerlichen Verhältnisse, unter denen sie geboren wurde, sollten uns eine Bürgschaft sein, dass er nichts tat, nichts tun konnte, was ihr widersprochen hätte. Ob der Leidensweg Jesu Christi, wie ihn die Evangelien überliefern, größere Qualen forderte, als das Golgatha Dostojewskis?

Wir müssen unser Herz bis zur äußersten Spannkraft ausdehnen, um die Liebe und Erkenntnis, die der Dichter aus der Katorga mitnahm, in ihrer ganzen Potenz zu erfassen. Die Entwicklung, die sie nachher nahm, ist eine natürliche Folge der Verhältnisse, die er in der Welt antrifft, und ein unmittelbarer Ausfluss der zwingenden Gewalt, die sein Erlebnis für ihn hatte, bis zu jener Form, die uns als Panslawismus entgegentritt. Sie ergibt sich aus einem relativ einfachen Spiel von Wirkung und Gegenwirkung, trotz der großen Widersprüche, die sie bei der Betrachtung enthüllt. Die Tragödie des Volkes, zugleich die Erkenntnis seiner zähen Widerstandskraft war die erste sichere Erfahrung, die Dostojewski in seinem Leben gemacht hatte, nachdem er alle geistigen Perspektiven durchkostet hatte, in denen sich die russische Intelligenz erging, ohne zur Ruhe gelangen zu können. Er kannte die Hast und die Zerfahrenheit der Intellektuellen, er kannte vor allem die Triebe, die ihn erfüllt hatten, als er zu ihnen hielt, die keine Faser nach dieser Saftader entsendeten, die sich ihm erschlossen hatte, die ganz andere Namen verdienten, als sie durch den rationalistischen Überbau erhielten; er kannte die Versuchungen, welche diese Ideale nicht entlasten konnten — denen diese Ideale Vorschub leisteten. Er hatte Vertrauen zu seinem Glauben, weil er früher genug gezweifelt hatte, — weil er früher so stark gezweifelt hatte, bis er schon den Strick des Henkers um den Hals fühlte. Und er begann die Welt mit der unerbittlichen Konsequenz eines Menschen zu beurteilen, der zuviel für seine Weisheit gezahlt hat, um Kompromisse zu machen. Er hatte, das Volk kennen gelernt, in seiner ungünstigsten Gestalt, in Sträflingskleidern. Wenn es selbst da eine Fülle von rein animalischen, instinktiven Tugenden beibehielt, die auch das erbärmlichste Leben reich und lebenswert gestalteten, das größte Elend verklärten und milderten — wie groß musste seine Macht sein, wenn man es von allen Banden befreite, durch die es gefesselt wurde, von allen Ungerechtigkeiten, die es verdarben. Ein Funke von dieser Liebe, die keine Nächstenliebe, keine Gottesliebe war, nicht einmal Selbsterhaltungstrieb und doch alle diese Kräfte zugleich, ein Funke von dieser angeborenen Weisheit des Blutes war mehr wert, als alle Systeme und Utopien der Weltbeglückung, welche die unruhige Sehnsucht der Intellektuellen ersann, von Menschen, welche keinen Schritt vor die Tür zu setzen vermochten, ohne sich in tausend Fußangeln zu fangen. Die Kraft des Volkes vor jeder Ablenkung und Ausbeutung zu schützen — das war seine Mission!

Das ist der erste und wichtigste Satz von Dostojewskis Weltanschauung, das erste Gebot seiner Gesetzestafel. Und was fand er vor, als er sich anschickte, seinen Traum zu realisieren? Eine Kaste, welche die Adeligen darum beneidete, dass sie das Volk aussaugen konnten, und ihren Anteil verlangte. Dostojewski verstand, was er selbst gewesen war: ein Vorreiter des empordringenden dritten Standes, — was alle diese Intellektuellen waren: Bannerträger des Bürgertums, — was der nächste Erfolg der Revolution sein würde: die Herrschaft der Bourgeoisie. Was er an allen diesen Volksbeglückern entdeckte, die er gut genug kannte, da er selbst zu ihnen gehört hatte, war, dass sie keine Beziehung zu jenem Menschentum hatten, das er da draußen, in der Katorga, erlebt hatte. Sie fingen alle an einem Punkte an, an dem die Verbindung schon unterbrochen war, und entwickelten sich spiralenförmig nach oben. Alle Drähte, die sie um die Welt legten, würden nie eine Schwingung von jener Kraft leiten, der er allein die Verjüngung der Welt zutraute. Er wusste vor allem, dass sie wehrlos jedem Egoismus, jeder Eitelkeit, jeder Begierde und Lüsternheit gegenüberstanden und dass ihnen kein guter Wille half: sie mussten Blutigel werden, wie es die Adeligen gewesen waren, weil sie keinen zureichenden Grund hatten, um es nicht zu werden. Sein Hellsehertum schöpfte aus dem wortreichen Getriebe, an dem ihm der Tonfall wichtiger war, als die Worte, Bilder von großer Klarheit und Konsistenz. Er überschlug Generationen und setzte im voraus den Schlusspunkt. Er wusste, dass der Nihilist von heute der Industrieritter von morgen sein wird, der Aufklärungsapostel zum Bankdirektor avancieren werde, der Propagandist zum Agenten. Wenn sie erst einmal sich die notwendige Bewegungsfreiheit verschafft hätten, würden sie ein Lebenssystem einführen, das auf dem Volk noch ärger lasten würde, als die Leibeigenschaft, würden sie das Volk Zwecken dienstbar machen, die ihm noch fremder sein mussten, als der Wille von Väterchen Zar, der ihm wenigstens einen in Jahrhunderten erprobten Glauben dafür gab. Der Drache, dem er den Weg nach Russland versperren will, gegen dessen Vordringen er sich mit allen seinen Kräften stemmt, ist jene gesellschaftliche Ordnung und Moral, welche der Begabung der Bourgeoisie entspricht: die Ordnung und Moral des Kapitalismus, die Organisation des Geldes, mit ihren wichtigsten Formen: die Großindustrie, der Großhandel, die Bank — der Sieg der Zahl. Und für diesen Kampf erfand er seinen Panslawismus.

Dostojewskis Hellsehertum und Dostojewskis Irrtum werden am besten beleuchtet, wenn wir gleich nachschauen, wie es jetzt mit dem Panslawismus bestellt ist, wer der Panslawist von heute ist. Der Panslawist von heute ist — der Nihilist von gestern; ist der russische Großbourgeois, der Vertreter des industriellen Großkapitals, des Großhandels, der Bank. Panslawisten sind heute diese Reformisten, Liberalen, Kadetten, Oktobristen, alle diese Parteien, welche sich durch die Revolution von 1905 ihren Anteil an der Regierung sicherten, die Herren des zentralrussischen Industriegebietes, welche die Außenpolitik der früheren Slawophilen fix und fertig übernahmen, nachdem sie dem Zarismus so viel Konzessionen entrissen hatten, als sie für ihre freie Geschäftsgebarung benötigten, und jenen Weg beschreiten konnten, in den jede durch die Produktionsweise des Kapitalismus beherrschte Gesellschaft gedrängt wird: den Imperialismus. Bis 1905 war noch die gute Zeit der russischen Revolution, da die Fabrikherren den Arbeitern die Löhne auszahlten, wenn sie streikten, denn es ging gegen den Zaren. Man wunderte sich in Europa, dass sich alle die angesammelten Gärungsstoffe nach einem halben Erfolg verflüchtigten, dass sich das russische Volk mit einer halben Duma begnügte und die geheimnisvolle russische Apathie musste wieder einmal herhalten. Es sieht so aus, als hätten die Revolutionäre die Flinte ins Korn geworfen. Während sich das Versagen der russischen Revolution ganz natürlich aus dem Umstand erklärt, dass jene Malkontenten, welche die stärksten Mittel in der Hand hatten, nicht mehr mittun wollten. Sie wurden konservativ, unter der Flagge des Slawophilismus. Das ,,Volk“ kam noch nicht an die Reihe — es war die Revolution des dritten Standes, nicht des vierten Standes. Dass es den neuen Menschen gelang, den Zarismus in ihre Ziele einzuspannen, braucht uns nicht zu wundern, da sie schon lange wirksam waren, bevor sie das Wort erhielten, und der Zarismus, der in seiner Ratlosigkeit mit allen Prinzipien kokettierte, die ihm irgendwelche feste Richtlinien boten, am liebsten noch auf einen Plan einging, der sich auf Ideale stützte, welche der Glanzzeit der Autokratie entnommen waren.

Ist es ein Teufelsspuk? Was hat der russische Christus mit dem Moskauer Fabrikanten zu tun, der die Millionenheere der Muschiks auf den verschneiten Hängen der Karpathen hinschlachten lässt? Wenn wir uns daran erinnern, dass Dostojewski tatsächlich dem Panslawismus seinen Menschheitstraum anvertrauen wollte, so können wir sagen, es sei die größte Tragödie des Gedankens, die wir aus der Kulturgeschichte kennen.

Ähnliche Enttäuschungen begleiten auch die Geschichte der französischen Revolution, Aber der französische Bourgeois, der sich anschickte, die Früchte zu ernten, die so viel Blut gedüngt, so viel heroische Gedanken und Hoffnungen, der berüchtigte Held der Balzacschen Romane, bediente sich doch nur mit einiger Scheu des Wahlspruchs der Revolution — ,,Enrichissez-vous“ war die Parole. Und er hätte einiges Recht gehabt, sich auf die Revolution zu berufen; denn ihre Ideologie stammte zum guten Teil von ihm. Der russische Bourgeois hat jedoch die Parole, die gestern noch Dostojewski und viele Tapfere, die mit ihm stritten, verwendeten, um sein Emporkommen womöglich zu verhindern, übernommen, nachdem er sie erst verhöhnt und verspottet hatte, um nun jetzt seine kleine Habgier auf Kosten ihrer großen Liebe durchzusetzen. An diesem interessanten Beispiel lässt sich nachweisen, dass ein Schlagwort, eine Idee, ein ganzes Ideensystem im Laufe von wenigen Jahrzehnten einen ganz anderen Inhalt annehmen kann, ohne dass sich seine Ausdrucksweise um ein Haar veränderte — dass einfach dadurch, dass es sich von einem Gesellschaftskreis zu einem anderen weiterschiebt, seine Spitze in die entgegengesetzte Richtung umgebogen wird, ohne dass seine Außenseite, die dialektische Fassade, das Geringste verriete. Eine Änderung ist nur darin zu verzeichnen, dass der moderne Panslawist naturgemäß dem Parlamentarismus huldigt, der ihm zur Herrschaft verhalf, während Dostojewski das Parlament fürchtete, weil es der Bourgeoisie dienen sollte. Das ist eine selbstverständliche Voraussetzung, die der russische Imperialist stillschweigend übergeht, wenn er sich auf Dostojewski beruft, als änderte sie nichts an der Tatsache ihrer ideellen Gemeinschaft. Und doch ist dieser kleine Unterschied der Ausdruck der unüberwindlichen Schranke; er verändert die Situation so gründlich, dass aus dem „Ja“ ein „Nein“ wird und aus dem „Nein“ ein „Ja“.

Auch der russische Bankier liebt den Muschik; nur denkt er sich: das gibt einen guten Soldaten — während Dostojewski dachte: das gibt einen guten Menschen. Wer vorbeigeht und sich nicht die Mühe nimmt, in die Fenster des Hauses hineinzuschauen und zu beobachten, was in den Zimmern vorgeht, oder nicht indiskret genug ist, um nachzufragen, woher der Hausherr sein Einkommen bezieht und welches Gewerbe er treibt, könnte glauben, dass noch immer dieselbe Partei das Haus bewohnt. Im Falle des Panslawismus hat das Phänomen die saubere Evidenz eines Experimentes aus dem physikalischen Kabinett. Oder sollte man annehmen, dass Dostojewskis Ideen einen so großen Erfolg hatten, dass er sogar seine Feinde bekehrte? Sollte Dostojewski wirklich die furchtbare Wirklichkeit, welche ihm die Katorga ins Herz legte, zum Singen gebracht haben, um sich zu einem Kampf mit Windmühlen anzufeuern? Glücklicherweise hat er mehr als einmal das Gespenst, das er über die Steppen Sibiriens aufsteigen sah, ganz anders reden lassen, als es den Herren lieb sein dürfte, die sich jetzt auf ihn berufen.

Es ist so, wie wenn man eine Kanone um hundertachtzig Grade wendet; die Granaten bleiben dieselben, aber es ist nicht gleichgültig, wo sie hinfallen. Eine ähnliche Entwicklung könnte man im Schicksal der Anschauungen Friedrich Nietzsches aufzeigen, welche heute schon die moralische Struktur von Kreisen wiedergeben, vor denen dem Philosophen grauen würde. Ein anderes Beispiel wäre: der Traum des geeinigten Italien bei Dante Alighieri, als äußerster Exponent des Feudalismus, und in der Bewegung des Risorgimento, wo derselbe Gedanke von demokratischen, bürgerlichen Elementen gezüchtet wird, gegen eine Aristokratie, die mit dem fremden Monarchen paktiert. Für eine Entwicklung, die sich hier über ein halbes Jahrtausend spannt, genügte beim Panslawismus ein halbes Jahrhundert, mit dem Unterschied, dass sein Gedanke nicht von oben nach unten sank, wie es der Schwerkraft des historischen Geschehens entspricht, sondern von unten nach oben — ein Umstand, der uns schon anzeigt, dass er unter ungesunden, forcierten Verhältnissen geboren wurde. Sie war dafür nicht weniger gründlich; denn sie wurde durch jene beneidenswerte Widerstandslosigkeit und Vertrauensseligkeit unterstützt, die der Russe trotz aller Grübelsucht seinen unbewussten, ,,instinktiven“ Regungen entgegenbringt — eine Eigenschaft, die jedoch Eigentum aller Nationen werden kann, wo sie einen greifbaren Vorteil bringt.

Man kann nicht scharf genug das nackte Skelett der treibenden Kräfte herausarbeiten, es nicht gründlich genug von allen Muskelfetzen reinigen, die daran hängen mögen, wenn man Dostojewskis Hauptleistung gerecht werden will, die gerade darin besteht, dass er hinter allen Vermummungen, die damals noch viel bunter waren als jetzt, die lebendige Wahrheit durchschimmern sah. War es ein kolossaler Missgriff, dass er eine Ideologie aufstellte, welche seinen Erbfeinden zugute kommen sollte? Er wurde zwangsmäßig in den Bann seiner Schlagworte getrieben, schrittweise in das Gestrüpp der Widersprüche gedrängt. Sein Weltbild ist in der ersten Periode nach dem entscheidenden Erlebnis relativ einfach: er hat die „Erniedrigten und Beleidigten“ gesehen und fragt sich, welchen hohen Werten zuliebe erniedrigt und beleidigt wurden? ob das Leben, das ihre Herren auf Kosten ihrer Arbeit führen, gar so lebenswert sei ? Die Antwort ist deutlich genug: es ist ein erbärmliches, ein lächerliches Leben. Die ,,Adeligen“ marschieren auf: ,,Onkelchens Traum“, das „Gut Stepantschikowo“, der schlaue Fürst in den ,,Erniedrigten und Beleidigten“. Später wird er allerdings die innere Schwäche der aristokratischen Herrenmoral von dieser Hauptursache: dass der Herr den Sklaven, der Sklave den Herrn verdirbt, teilweise emanzipieren und Peters Reformen verantwortlich machen, welche den Adeligen seinem Boden entfremdeten. Später — wenn sein System sich selbst überschlägt. „Der Hauptgrund, weshalb unsere Gutsbesitzer sich mit dem Volk nicht verstehen und keine Arbeiter finden können, ist der, dass sie selber nicht Russen, sondern vom Boden losgelöste Europäer sind.“ Ob sich in jenen patriarchalischen Zeiten, auf die er anzuspielen scheint, da die Gutsbesitzer von Europa noch nichts wussten, Herr und Diener besser verstanden haben, dürfen wir bezweifeln, wenn wir nicht an die Ausländerei denken, die Peter gefördert haben mag, sondern an die durch Junkerwillkür zerrütteten Verhältnisse des russischen Staates, die er nicht anders verbessern konnte, als Indem er den Übermut der Adeligen bändigte. Übermut und Ratlosigkeit sind Synonyma und sie stellen sich überall dort ein, wo jemand Zeit findet, „seelischen Müßiggang“ zu treiben. Der Ursache der schiefen Verhältnisse dürfte Dostojewski näher kommen, wenn er sich über die ,,Lage der Bauern“ notiert: ,,Grund genug zum Verzweifeln. Wozu soll er sich ausnutzen lassen, auch er wird zum Exploiteur, höchstens ein Heiliger bleibt standhaft.“ Wobei wir uns diese seltsame Rechtfertigung des ,, Heiligen“ merken wollen, die wohl aus einer anderen Sphäre kommt, als aus jenem Wolkenheim, in dem man sie mehr als einmal suchte. Und wir wollen uns auch daran erinnern, dass er die religiösen übertöne viel später fand, als sich ihm sein Problem schon lange enthüllt hatte. Noch 1854 schreibt er an Frau Fonwisin: ,,Ich will Ihnen von mir sagen, dass ich ein Kind dieser Zeit, ein Kind des Unglaubens und der Zweifelsucht bin und es wahrscheinlich (ich weiß es bestimmt) bis an mein Lebensende bleiben werde.“

Der nächste Schritt führte ihn von den aristokratischen Nihilisten zum Nihilismus der Intellektuellen. Seine wichtigste Sorge war: das Volk zu befreien. Und jetzt schaute er sich die Leute an, welche ,,Freiheit“ schrieen.

Dostojewski war nicht Politiker, sondern vor allem: ein Mensch. Ein Mensch mit der großen Sehnsucht, sein Menschentum ins allgemeine zu transponieren. Aber er besaß die tiefste Weisheit des Politikers, die Erkenntnis, dass eine Idee nie um den kleinsten Grad mehr gültige Wirksamkeit entfalten kann, als in den menschlichen Werten steckt, die sie nähren, — in den menschlichen Gestalten, die ihren Vertretern vorschweben. Er brachte alle sittlichen und ökonomischen Probleme auf diese einfache Formel. An allen Floskeln und Umschreibungen hörte er vorbei und in seinem Geiste blieb als Niederschlag das Weben der Instinkte, das er aus den verworrensten Gedankenwindungen mit mimosenhafter Empfindlichkeit herausspürte — das Spiel von Egoismus und Liebe, von Eitelkeit und Entsagung, von Stolz und Demut; er hörte heraus, was jeder geben und nehmen wollte. So begründet er sein Christusideal: ,,Könntet ihr ihn ersetzen?“ So erklärt er seinen Mystizismus: „Vor allem möchte ich bemerken, dass dieser Jüngling durchaus kein Fanatiker war und, wenigstens meines Erachtens, auch kein Mystiker. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich in ihm einfach einen jugendlichen Menschenfreund sehe. Wenn er aber ins Kloster ging, so tat er das nur, weil das Klosterleben einen tiefen Eindruck auf ihn machte . . . Und einen so tiefen Eindruck machte dieses Leben auf ihn wohl nur, weil er dort im Kloster einen so ungewöhnlichen Menschen antraf: unseren berühmten Staretz Sossima, an den er sich sofort mit der ganzen großen ersten Liebe seines heißen, sehnsüchtigen Herzens hing.“

Er schaut sich diese Leute an, die das Lebensglück Russlands gepachtet zu haben glaubten, und zieht die Bilanz: ,,Sie werden doch nur die Interessen Ihrer Gesellschaft vertreten, nicht aber die des Volkes. Das Volk werden Sie wieder zu Leibeigenen machen wollen, Kanonen werden Sie gegen das Volk verlangen! Und die Presse — die Presse werden Sie nach Sibirien verbannen, sobald sie nur im geringsten Ihr Missfallen erregt. Nicht nur gegen Sie etwas zu sagen wird verboten sein — nicht einmal atmen wird man in Ihrer Gegenwart dürfen.“ Er wusste, dass die Freiheit, die sie suchten, für das Volk nur eine neue Bedrückung war. Verschiedene Ausläufer der Bewegung verloren sich wohl auch bis zum vierten Stand — aber erstens wurden die Bauern durch die Bauernbefreiung herausgehoben, zweitens — und dies mag der wichtigste Grund sein — waren alle Versuche, das Volk in die Bewegung einzuspannen, nicht viel mehr als ergänzende Ausfüllsel einer Dialektik, deren Brennpunkt im Herzen des städtischen Bürgertums lag, Bemühungen, eine Verallgemeinerung zu schaffen, die sich aus dem Wortlaut, aber nicht aus der virtuellen Energie der gepredigten Prinzipien ergab. Dadurch, dass sich Dostojewski sagen musste, dass die Herrschaft dieser Leute um kein Haar besser sein würde als die vierzehn Rangklassen von Peters Gnaden, dass nur „Beamte für Sold, die Affäristen, Advokaten, Banken die Aristokratie überwältigen werden“, wurde die Hauptrichtung seines Angriffes verschoben. Die Emporkömmlinge waren mehr zu fürchten als die Reaktionäre, die schon dem Untergang geweiht waren. Das komplizierte das Problem.

Und hier beginnt sich seine Ausdrucksweise zu verwirren. Die Umsturzversuche dieser turbulenten Masse, welche einen Ausweg suchte durch die harte Schale des autokratischen Zwanges, hatte einen Massenverbrauch von Idealen zur Folge, gemäß jenem Schema, das bei allen revolutionären Bewegungen zutage tritt: um eins zu erlangen, muss man zehn fordern. Von der extremen Anarchie bis zum gemäßigten Liberalismus waren alle Nuancen der Weltverbesserungsutopien vertreten, die Westeuropa im Laufe eines Jahrhunderts der Unzufriedenheit aufgestapelt hatte, und in Dostojewskis potenziertem Nihilismus musste das Verhältnis 10: 1 sich wiederholen. Jedes Mittel war ihm gut, durch welches er seinen Gegensatz zu diesen Menschen und Idealen betonen konnte und zum natürlichen Instinkt, der ihn trug, gesellte sich die Sorge, ihn zu einem Aktionsprogramm zu formulieren, das meilenweit entfernt war von dem seiner Gegner und jeden Verdacht einer Gemeinschaft aufhob, jede Anbiederung ausschloss. Die Revolutionäre von damals waren deutschfreundlich, ,,Westler“ — er musste die Deutschen hassen; sie waren Atheisten — er kroch zu Kreuz; sie hassten den Zaren — er musste ihn lieben; waren tolerant gegen Juden und Polen — er wurde intolerant; wollten den Muschik heimatlos machen — er setzte ihn über ganz Europa. Und da sie alle mit wissenschaftlichen Theoremen vollgesogen waren, wurde er misstrauisch gegen jede wissenschaftliche Ausdrucksweise und konnte nicht genug das Unverantwortliche und Unkontrollierbare betonen. Je mehr seine Feinde an Einfluss gewannen, je klarer es wurde, dass sie sich auch in Russland durchsetzen würden, wie sie sich in der übrigen Welt durchgesetzt hatten, desto mehr übertrieb er alle diese Prinzipien, erhob sie ins Absolute, Monomanische. Da wir nun die Sachlage so weit übersehen, um sagen zu können, dass es ihm nicht gelingen sollte, auch nur das kleinste Steinchen aus der Lawine zu holen, die er schon über sein Volk stürzen sah, dass alle seine ärgsten Befürchtungen übertrumpft werden sollten, können wir jede Übertreibung verstehen. Er war zwischen zwei Wände eingeklemmt, die sich unaufhaltsam einander näherten. Für das fiktive Ziel seines Kampfes war sein Programm zweckmäßig, wenn es auch erfolglos bleiben musste. Vergeblich wenigstens in bezug auf diese kühnste Hoffnung und diesen größten Irrtum, der seinen Plan durchzieht, in dem auch alle anderen Irrtümer gipfeln: dass Russland die Periode des Kapitalismus erspart bleibe.

Die Hauptursache seiner Zweideutigkeiten liegt in der paradoxen Situation, dass er nicht gegen die Herrscher von heute, sondern gegen die Herrscher von morgen kämpft. Es kam dadurch die seltsame Nebentendenz in seinen Plan, diese Herrscher von heute zu stützen, die eigentümliche Verquickung eines prinzipienstarren Konservativismus und eines aufs höchste gesteigerten Nihilismus. Die Not schafft seltsame Bettgenossen. Am liebsten waren ihm sogar die Herrscher von gestern und vorgestern, die Erinnerung an Zeiten, die sich tief genug im Dunkel der Vergangenheit verbargen, um die schönsten Deutungen zu erlauben. Seine Liebe zum Volk diktiert ihm seine Richtlinie, den Kampf gegen den Nihilismus, und um sich auf diesen Punkt zu konzentrieren, züchtet er alle Bereitschaften, die in ihm als Möglichkeiten vorgebildet waren, zum sachlichen Prinzip empor. Die Attribute werden ihm wichtiger als die Substanz, die Peripherie soll den Mittelpunkt verteidigen und alle Nebenmotive senden kreuz und quer Fäden aus, welche das Gewebe wieder verknoten. Die Reformen Peters des Großen senden einen ganzen Knäuel aus. Sie hatten den Beamtenadel geschaffen, der über das Land ein Netz von unnatürlichen Gesetzen und Verboten, willkürlichen Rechten und Vorrechten warf, welcher die Frucht der Arbeit der Bauern genoss, ohne je mit dem Bauer in Berührung zu kommen; sie hatten die Städte gefördert, Petersburg gegründet, jenes Geschlecht von Kaufleuten und Vermittlern begünstigt, aus dem später die Bourgeoisie hervorgehen sollte und durch die Nachahmung europäischer Staatsformen den Parlamentarismus vorbereitet. Nicht der Zar ist das Übel, — sondern die vierzehn Rangklassen, nicht jedes Volk ist der Träger der Zukunft, sondern nur der Bauer; der Gegensatz zwischen Volk und Bedrücker wird zu einem Gegensatz zwischen Stadt und Land, zwischen Agrarstaat und Industriestaat. Das verbindet sich wieder mit dem Hass gegen die Deutschen, die Meister des Industrialismus, von denen er, ohne genauer zu untersuchen, annimmt, dass sie nichts Ähnliches aufzuweisen hätten, was den Vergleich mit den unverbrauchten Kräften des russischen Bauern bestehen könnte. Die Liebe für „Väterchen Zar“, der einfältige Glaube, den er beim Muschik findet, bestätigt ihm seine retrospektive Romantik, ohne dass er sich Mühe gäbe nachzusehen, bis zu welcher Grenze der Instinkt spricht und wo die Dressur beginnt, das aufgedrungene Knechtungsmittel. Für den gegebenen Tatbestand war es auch relativ gleichgültig, denn es war nicht das aktuelle Problem. Um die nächste Gefahr abzuwehren, vergisst er, die anderen Hintertüren zu verschließen.

Sein System wimmelt von Missverständnissen, willkürlichen Verallgemeinerungen und Verkleinerungen. Er vereinfacht sich die Perspektive in der radikalsten Weise, indem er annimmt, der große Kampf zwischen der Seele und der empörten Materie werde draußen ausgefochten werden, in Frankreich, m Deutschland; Russland werde nur zuschauen, in irgendeiner Zwischenform befangen, und sein ,,neues Wort“ vorbereiten, das die erschütterte Welt wieder aufrichten soll. ,,Wir Gläubigen sagen z. B., dass Russland allein die Elemente in sich trage, die zu einer Lösung des verhängnisvollen europäischen Problems des vierten Standes, und zwar ohne Kampf und Blut, ohne Hass und Feindschaft, erforderlich sind, dass es aber dieses Wort erst dann sagen werde, wenn Europa bereits im eigenen Blute schwimmt, denn vorher würde ja doch niemand in Europa unser Wort vernehmen, oder wenn auch vernehmen, so würde es doch niemand verstehen.“ Es war ihm jeder Schritt unverhältnismäßig erschwert, dadurch dass Russland gleichsam um eine geologische Periode zurück war und an seiner französischen Revolution arbeitete, während Westeuropa schon auf ihrer Basis schuf und dachte. Oder besser: dadurch dass Russland nur in seiner Parteienbildung um eine Schichte zurückblieb, während der europäische Aktivitätsdrang schon tief ins Land vorgedrungen war. Dieser Entwicklungsrückstand hat es zur Folge, dass der Bourgeois Ideen übernimmt, die im Westen schon zum Kampfe gegen ihn verwendet werden, so dass Dostojewski misstrauisch wird gegen jedes westeuropäische Bekenntnis, als handelte es sich immer nur um einen Betrug des Bürgertums, als wäre ,,Volk“ im Munde eines Westeuropäers immer nur ein Übersetzungsfehler für ,,Bank“. ,,Der Jude und die Bank beherrschen jetzt alles: sowohl Europa wie die Aufklärung, die ganze Zivilisation und den Sozialismus — besonders den Sozialismus, denn durch ihn wird er das Christentum mit der Wurzel ausrotten und die christliche Kultur zerstören . . . Dann mag der Antichrist kommen und die Anarchie herrschen.“ Dostojewski als Antisemit, ja als blutrünstiger Antisemit ist einer von den kleinen Widersprüchen, die sein Weltbild trüben. ,,Der Geist des wahren Christentums ist — vollständige Glaubensfreiheit . . . Der Heiland ist vom Kreuz nicht herabgestiegen, weil er nicht gewaltsam durch ein äußeres Wunder bekehren, sondern gerade die Glaubensfreiheit wollte.“ Aber manchmal spricht Dostojewski so, dass man unwillkürlich an handgreiflichere Methoden denkt, als die Überzeugungskraft des Wunders, die für einen wahren Christen schon zu viel sein soll, und sich an jenes Paradigma erinnert, über welches Ssmerdjäkoff mit Fedor Pawlowitsch diskutiert. Die Fiktion, die ihm über den Abgrund hinweghilft, ist einfach genug: er identifiziert den Juden mit der Bank; er hat die Welt in zwei Teile geteilt: auf der einen steht das Volk, auf der anderen die Organisation des Geldes; da sich ihm das Volk zu einem christlichen Volk spezialisierte, wird ihm nur das christliche Bekenntnis zum Maßstab, ohne dass er sich der Fälschung bewusst wäre. ,,Und wenn alle Juden in corpore, wenn das ganze Kahal wie eine Verschwörung über Russland steht und den russichen Bauer aussaugt — oh, wir haben nichts dawider, wir sagen kein Wort, kein Wort!“ 128 Der Kampf Es kommt hinzu, dass ihm die Fälschung durch die Umstände teilweise erleichtert wurde. Als heimatlose Fremde von jedem Landerwerb, von allen Produktionsmitteln lange Zeit ausgeschlossen, blieb den Juden nicht viel anderes übrig, als aus den Imponderabilien, den Reibungsverlusten einer primitiven wirtschaftlichen Organisation — als Vermittler, Händler, Wucherer — ihre Existenzmittel zu holen. Und als sich die Gesellschaft anschickte, diese Imponderabilien zu gewaltigen Machtmitteln auszubauen, waren die Juden, mit ihrer langen Übung, die ersten am Platz. Es ,,entschuldigt“ ihn nicht. Er brauchte sich nur umzuschauen, um zu sehen, ob denn alle Juden Bankherren waren. Aber dass er viele unter ihnen mit Recht anklagen konnte, war eine neue Stütze für seine Einseitigkeit. Als würde die politische Trägheit Russlands auf den Geist übergreifen, sind auch alle seine Argumente über die Kulturströmungen Westeuropas um eine Periode herabgestimmt. Dostojewski begeht z. B. bei der Beurteilung des Protestantismus und des Katholizismus und ihrer wechselseitigen Beziehungen den Fehler, dass er nicht die Verhältnisse einer Gegenwart, sondern die einer Vergangenheit im Auge hat und Europa an Konflikten zehren sieht, die es schon längst überwunden und in den Hintergrund geschoben hat, um sich Problemen zuzuwenden, die sich zwar nicht als ein Kampf zwischen Rechtgläubigkeit und Atheismus manifestieren, aber große Übereinstimmungen mit jenen Prinzipien aufweisen, die dem Russen als Rechtgläubigkeit und Atheismus entgegentreten. Dostojewski erschrickt vor der ,,Verschwörung des Katholizismus“, gerade in einem Augenblick, da der Katholizismus seine Schwäche zeigen sollte.

Wenn wir nur die zwei Fassaden seiner politischen Ideologie einander gegenüberstellen, können wir noch zweifeln, welche die aufrichtigere Beziehung zu seinem Menschentum offenbart; wenn wir die lebendige Entwicklung seiner Gedanken mit ihm durchmachen, ist ein Zweifel nicht mehr möglich. Wir sehen wo und wie der Nebenstrom eingeschaltet wird und dass er sich von selbst verliert, wenn ihn der Dichter nicht mehr braucht. Die Störungen, die er verursacht, wären an sich vielleicht nicht so groß, wenn wir nicht annehmen müßten, dass Dostojewski, ebenso wie er in einer schweren Stunde seine Liebe wirklich erlebt, in einer Stunde des Irrtums sich auch auf eine Ideologie, die für ihn einen nur bedingten Wert haben konnte, viel zu stark festlegt, sodass er den Boden unter den Füßen verliert. Es ist der Augenblick seiner negativen Peripetie, zeitlich zusammenfallend etwa mit seiner Zeitschriftentätigkeit (Wremja, Epoche), wo die Notwendigkeit der häufigen Aussprache das Abkürzungsverfahren nahelegte. Meistens ist der Betrug so durchsichtig, dass ein geringer Scharfsinn genügt, um ihn aufzudecken. Dostojewski postuliert die Autokratie, — aber die Art und Weise, wie er sie postuliert — diesen seltsamen Zaren, der sich ganz ohne Beamte, ohne jede aristokratische Hierarchie behaupten soll — heißt so gut wie: verschwinde! Er rechnet mit der Einheit der Nation, aber das einzige Attribut, das er an ihr gelten lässt, hat mit keiner Rassentheorie etwas gemeinsam. Er schaut auf die Kirche, aber es ist ihm selbst so bewusst, dass sie beide etwas anderes meinen, wenn sie ,,Christus“ sagen, dass wir immer nur die Distanz sehen. Nun aber gibt es sicher einen Augenblick, da er alle diese Prinzipien mit einem anderen Affekt erlebt, da er plötzlich wirklich Vertrauen schöpft zu einer von einem Polizisten lancierten Ideologie, wo seine sittliche Einheit zur qualligen Rassenfrage wird, sein Christus zum äußerlichen Merkmal, zum Statisten einer forcierten Komödie. Er verliert jedes Gefühl dafür, dass er sich hinter einem Schutzwall verschanzt, den jene Kaste aufgerichtet hat, der er das Unglück des Volkes zum Vorwurf macht und die gerade diese Herrschaft erhalten will, die er verflucht. Es ist jene seelische Situation, in welcher sich ihm die Welt zu einer falschen, unechten, krankhaften Harmonie zusammenschichtet.

Und insofern ist die Beziehung zwischen seinem politischen Bekenntnis und seinen Visionen ein unvollkommenes, als er diese falsche Harmonie, welche sich in seinem Bewusstsein ganz nach Art der Schmarotzerorgane weiterfrisst, abschütteln muss, wenn er auf sein Menschentum zurückkehren will. Das ist sein Ameisenhaufen, sein ,,Imperium“. In seine Kunst nimmt er nur diese irrationale Richtlinie hinüber, die von dem Katorgaerlebnis bis zur bangen Frage reicht: Herr, lass’ den Kelch an mir vorbeigehen! Er nimmt die Richtung, Tiefe und Dimension des Problems mit, aber versteht es, dasselbe an allen Versuchungen zu einem gültigen Ende vorbeizulenken. Seine notwendige Bedeutung wird uns am stärksten dadurch bestätigt, dass er durch seine eigenen Bedingtheiten immer wieder den Anschluss zum lebendigen Willen der Welt fand, selbst durch diesen großartigsten Irrtum hindurch, den wir ihm am ehesten nachsehen würden: die Hoffnung, Russland werde den Sieg des Egoismus nicht erleben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Dostojewski – Zur Kritik der Persönlichkeit