Vom Roman zur Idee. Der innere Widerspruch

Was wir beim gefühlsmäßigen Vergleich ahnten, als wir vor den typischen Prinzipien des Panslawen halt machten, wird durch die sachliche Behandlung bestätigt, welche uns zeigt, dass gerade diese Prinzipien ohne Widerspiegelung im Werke bleiben. Führen die Romane auch nach Konstantinopel ? Gehen jene Werte als siegreich hervor, denen der Politiker die Herrschaft der Zukunft prophezeit, mit denselben Vorzeichen versehen, die er als conditio sine qua non aufstellte?

Wenn es aus der äußeren und inneren Situation seines Schaffens möglich wäre, würden wir ihm ähnliche konkrete Lösungen schon zutrauen. Denn wir sehen, dass die großen Linien seiner Visionen immer wieder auf kleine Lichter und Farben zurückgreifen, die er sehr effektvoll zu setzen versteht, obwohl sie durch ein kleinliches, beinahe kindisches Spiel mit einer schematischen Skala der Werte weiter geleitet werden. Einfache, naive Behelfe, welche die Phantasie belasten könnten, wenn sie durch die schwungvolle Geste nicht vollkommen mit Wärme durchsetzt und bis zur äußersten Dehnbarkeit ihrer substantiellen Beschaffenheit ausgenutzt würden. Große Bogen, die irgendwo zwischen Himmel und Erde zu hängen scheinen, ruhen auf niedrigen, irdischen Schemeln, wichtige Situationen und Gestalten, deren Wiege wir in möglichst immateriellen Sphären suchen möchten, bauen sich aus Elementen auf, an denen die „Tendenz“ ganz dick aufgetragen ist. Gerade der materielle Beigeschmack des Erregungsmomentes entzündet die Phantasie des Dichters, die Stoffatome der Banalität, der Widerstand des abgenutzten Begriffes reizt sie ins Ungeheure. „Ich liebe das Prosaische, das fast an das Phantastische grenzt.“ Das kann als ein wichtiges Rezept seines Gestaltungswillens betrachtet werden, auch wenn es sich nicht um die ,,Lucia von Lammermoor“ handelt, die in einer Spelunke heruntergeleiert wird, sondern um rationale Werte. Die Gestalt Stawrogins, mit allen ihren Geheimnissen, ist nichts anderes, als eine über die Begriffe „Nihilismus“ und ,,Christus“ gelagerte seelische Masse. Trotz dieses durchaus sachlichen Ausgangspunktes wächst das Werk in eine Dimension, dass jene Rembrandtszene — der schlafende Sohn, über den sich die Mutter beugt — bequem darin Platz hat. Und jenes andere Bild von unfehlbarer sinnlicher Wirkung, eine dämonische Groteske, wie sie etwa in Cezannes ,,Der Esel und die Diebe“ ihresgleichen findet, Ssmerdjäkoff, der im Garten Marja Kondratjewnas zur Gitarre singt, kommt auf die denkbar einfachste Art zustande: dem Krüppel werden Berangermotive in den Mund gelegt, die der Dichter aus der Assoziationsreihe Paris-Westeuropa-Peters Reformen herüberholt. Der Fürst in „Onkelchens Traum“ sagt den Bauern, die ihn grüßen: ,,Bon jour, mon cher“. Und dahinter rollt sich das ganze Problem auf: die Rokokoallüren der aristokratischen Gesellschaft, die das Westlertum vorbereiteten. Dostojewski sieht zuerst das Problem und dann das Bild, selbst um dieses Bon-jour hinzupinseln. Durchzieht nicht den ,,Idioten“ das durchsichtigste Schema: Ausland = Wahnsinn, Selbstvernichtung, Russland — Gesundheit und Kraft?


Hat er nun diese Kräfte, deren sachliche Bedeutung seinen gestaltenden Geist bis zu den selbständigsten Äußerungen begleitete, zu Schlussfolgerungen verknüpft, deren sachliche Obertöne panslawistisch angehaucht wären? Wir können die Frage glatt verneinen. Doppelt verneinen: es gibt keine Gestalt in seinen Werken, welche die berüchtigte Dreieinigkeit „nach Hause nimmt“; ja, keiner von jenen Menschen, denen wir es zutrauen würden, keiner von diesen ,,Orthodoxen“ geht irgendwie als Sieger hervor. Nur auf einem Umweg lässt sich dem Hintergedanken seines Gesamtwerkes eine Deutung unterschieben, die sich der vom Programm des Dichters erwünschten Lösung — die Zukunftsmission des orthodoxen Typus — nähert. Wenn wir uns nicht mit der großen Heiterkeit begnügen, die sich durch die größte Anarchie durchsetzt und nach genaueren Angaben suchen, finden wir nur spärliche Winke, dass der Dichter jenen Teil, den er als lebenswürdig bezeichnet, auch für lebensfähig hält; vielleicht hofft er — aber seine Hoffnung trägt die Nebenbestimmung: ,,nicht heute — sondern morgen! das Heute gehört dem Antichrist!“ Von der scharfen Grenze zwischen Liebe und Hass, die er zeichnet, bis zu jener fernen Erlösung, erstreckt sich ein weiter Raum, der trächtig zu sein scheint mit unerfüllten Möglichkeiten, deren Atemzug uns ganz anders ergreift als Pobiedonoszews dreischwänzige Katze. Die doppelte Verneinung ist wichtig; wenn ihr erster Teil den Tatbestand wiedergibt, führt uns der zweite in die psychologische Situation ein, welche dem Dichter die zweifache Zielsetzung ermöglichte.

Selbst wenn wir uns nur an die Rechtgläubigkeit halten und die anderen Dogmen übersehen, lässt uns das Werk im Stiche. Der Dichter behauptet, die Seele des Menschen finde in der Orthodoxie ihr Heil, werde in der Rechtgläubigkeit wiedergeboren, von allen Zweifeln und Kontrasten befreit; nur die Rechtgläubigkeit könne die russische Gegenwart und Zukunft sichern. Seine Werke könnten uns demnach zeigen, wie sich diese Erlösung im konkreten Fall darstellt, wie sie zustandekommt, was für Folgen sie nach sich zieht. Der Dichter selbst will diese Wiedergeburt erlebt haben, um so eher könnten wir sie in seinen Werken wiederfinden, denen so stark der Stempel seiner vielfältigen Subjektivität aufgedrückt ist. Man kann jedoch, mit gutem Gewissen, keine Gestalt nennen, welche das Problem eindeutig und klar verkörpert. Wir erinnern uns zwar an Raskolnikoff, der die ,,Erlösung in Liebe“ findet, an den Fürsten Myschkin, der die ,,Schönheit“ im Menschen sucht, an Aljoscha Karamasoff, den Jünger des Starez Sossima, an Werssiloff, der nach seinen seltsamen Abenteuern eine relative Ruhe in einem von einer zweifelhaften Frömmigkeit durchsetzten Milieu findet. Aber wir können schon aus äußeren Gründen die Gestalten nicht als vollgültige Belege für des Dichters Heilslehre gelten lassen. Sie kämpfen gar nicht um die Idee ihres Glaubens, sie kämpfen um die Möglichkeit — um diese Idee ringen zu dürfen; und es kommt niemals dazu. Einen tätigen Glauben, eine ecclesia militans sehen wir nie am Werke, einen Glauben, der in den Alltag hineingetragen wurde und sich mit allen seinen Forderungen und Zielen durchzusetzen versuchte. Die Gegenwart stürmt über diese Helden hinweg, als wäre sie von Gesetzen beherrscht, die keine Beziehung zu den Massen haben, die sie suchen. Man könnte höchstens den Starez als Ausnahme betrachten, den wir den Hebel des Alltags manchmal mit glücklicher Hand bewegen sehen, dessen Leben und Wirken jedoch von so vielen anormalen Voraussetzungen abhängig ist, dass wir, auch wenn wir alle westeuropäischen Begriffe abstreifen, keinen Übergang von ihm zu jener Gegenwart erblicken, die wir in Russland in voller Wirksamkeit beobachten können und die auch — wie sich leicht zeigen lässt — der Dichter gut kannte. Und die Empfänglichkeit für die wirksamen Kraftlinien der Gegenwart ist Grundprinzip im Schaffen Dostojewskis. Scheint er nicht selbst die Notwendigkeit eines solchen Beweises zu fühlen, wenn er zuletzt Aljoscha ins Leben treten lässt, gepanzert zwar mit der strahlenden Rüstung der Gnade, wie ein Gralsritter, aber einer Gnade, die sich erst bewähren muss? noch mehr: scheint er nicht zu sagen, dass in seiner Gefolgschaft Christi noch ein großer Fehler liegt, wenn der Novize das Unheil, das er ahnt, nicht abzuwenden vermag? Wenn wir bedenken, dass das Unheil Vatermord heißt und dass Aljoscha in einem gewissen Maße zum Mitschuldigen wird, können wir den Fehler kaum als nebensächlich betrachten. Dostojewski bleibt uns den zweiten Teil des Beweises stets schuldig, bei Aljoscha nicht weniger als bei Raskolnikoff, wo er ihn in formeller Weise verspricht. Vom Fürsten Myschkin, der als Gotteskämpfer aufzutreten versucht, lässt sich nur eines mit Bestimmtheit sagen: dass er unterliegt. In allen diesen Fällen ist nicht einmal des Dichters Absicht zu erkennen, ob es ihm wirklich darum zu tun ist, die Erlösung in der Liebe und im Glauben zu empfehlen, man könnte ebensogut den Bankerott dieses Glaubens daraus entnehmen. Der Roman ,,Der Jüngling“, in dem der Pferdefuß etwas deutlicher zum Vorschein kommt, nimmt auch als Dichtung im Schaffen Dostojewskis eine Sonderstellung ein und kann nur mit einigem Vorbehalt in eine Reihe mit seinen übrigen Werken gestellt werden. Raskolnikoff geht nach Sibirien, Stawrogin erhängt sich, Aljoscha muss das Kloster verlassen, wo er noch am ehesten „Panslawist“ geworden wäre, in einer Atmosphäre, in welche mancher Aberglaube seinen Schatten wirft. Dafür steigt Werchowenski in den Schnellzug und rettet sich über die Grenze, um sein Treiben fortzusetzen. Er hat es auch fortgesetzt — zwei Monate nach dem Tode des Dichters ermordete Pjotr Stepanowitsch den Zarbefreier. Die einzige Lehre, die man herauslesen kann, wäre: dass ein bestimmter russischer Typus, ein hervorragend lebensfähiger, zukunftsträchtiger Menschentypus seine innere Heilskraft verliert, je mehr er sich auf nihilistische Tendenzen einlässt. Der Dichter stellt ein furchtbares Talionsgesetz auf: Raskolnikoff geht an seinem Napoleonstraum zugrunde, Stawrogin daran, dass er einmal revolutionär gesinnt war.

Man könnte sagen, dass der Dichter so ergriffen sei von der Wichtigkeit seiner Mission, eine Warnung aufzustellen, den Feind m seinen geheimsten Schlupfwinkeln aufzustöbern, dass er gar nicht dazu kommt, das Gegenbild zu zeichnen. Einzeln genommen, könnte die Katastrophe als eine Folge der besonderen Verhältnisse gedeutet werden. Aber das Gesamtwerk trägt ein negatives Merkmal, welches den Wert einer Tatsächlichkeit hat: der Dichter zeichnet keinen Orthodoxen, der nicht unterliegt. Als er seinen Geist vor die Wirklichkeit legte, verfing sich kein Strahl darin, aus dem sich dieses Bild entwickelt hätte. Er sah überall nihilistische Strömungen mit Russlands Lebensgeist kämpfen und er sah jene unentwegt, ungebrochen und unermüdlich weiterarbeiten, diesen immer unterliegen. Trotz des Vertrauens, das er uns einflößt, ist sein Zukunftstypus seltsam schwach und empfindlich, beim kleinsten Schritt, den er in die Wirklichkeit setzt, wird er von dem Räderwerk des Rationalismus ergriffen, von Widersprüchen und Zweifeln zerrissen. Fürst Myschkin, der von vornherein als ,,russischer Christus“ auftritt, niemals mit dem Nihilismus paktiert, stets den Geboten jener himmlischen Gesetze folgt, die er im Herzen trägt, auf den das Talionsgesetz keine Anwendung finden sollte, versinkt in Nacht und Wahnsinn; denn seine Gesetze hat er doch nicht befolgt, obwohl sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen sind, deshalb nicht, weil sie an dem lebendigen Werden abgleiten und jeder Anknüpfungspunkt nur ein Missverständnis ist. Dostojewski gibt uns ein Bild der Wirklichkeit, lässt uns die Gewalten, die sie regieren, bis zur Quelle verfolgen und entlässt uns mit dem Gefühl, dass sein Christus in diesem Rahmen keinen Platz habe. Er sagt nicht nur, dass der Nihilismus ein zersetzendes Gift sei, dessen Wirkung kein Gegengift paralysieren kann, eine Blausäure, von der einige Tropfen genügen, um die organischen Vorbedingungen des Lebens zu zerstören, er sagt: dass es keine Möglichkeit gibt, der Gefahr zu entrinnen. Es liegt ein Moment von furchtbarer Tragik darin, dass der Zwang, die Lüge, der Betrug immer das letzte Wort behalten, dass er seine Werke gar nicht anders anlegen kann, als mit dieser letzten Perspektive, als ob er sonst irgendein Gebot der Wahrhaftigkeit verletzen müsste, die ihn erfüllt. Der sechste Sinn, aus dem seine tiefsten Bilder erwachsen, verkrampft sich zu einer Erkenntnis, die vielleicht zu bitter ist, als dass er sie aussprechen könnte, die jedoch sein Schaffen tyrannisch beherrscht, den letzten Hintergedanken seines Werkes, seiner Botschaft an die Menschheit birgt. Dieser Hintergedanke könnte den Ausgleich aller Kontraste bringen, die wir aufgezählt haben, könnte um einen wichtigen Grad intensiver sein, als die große Gebärde seiner Weltpolitik, und zugleich kosmischer, als der Drang nach Konstantinopel. Wenn wir in seinem politisch-religiösen Programm ein rationales System vor uns haben, dem wir mit den Waffen der Logik beikommen können, bewegen sich seine Visionen auf einer irrationalen Richtlinie, der wir vertrauen müssen, weil sie eine Fülle des Lebens trägt, ohne zu biegen oder zu brechen, aber offenbar eine andere Sprache führt, wenn wir sie logisch begründen wollen. Und wir erinnern uns einen Augenblick daran, dass auch der Panslawist Dostojewski, bevor er in das geschlossene System hineinwächst, eine Phase durchmacht, die uns nicht abstößt, sondern anzieht. Der Hintergedanke streift diese heikle Grenze: der Sieg des orthodoxen Typus liegt weder in der Stimmung des Gesamtwerkes, noch in der Anlage seiner einzelnen Teile; man kann höchstens von einem moralischen Sieg sprechen, insofern als uns seine Niederlage erschüttert wie die Ankündigung einer Götterdämmerung. Aus der Inbrunst, mit welcher Aljoscha die Erde küsst und seine Arme zum Sternenhimmel erhebt, aus der Hoffnungsfreude, mit welcher er in die Welt hinaustritt, ließe sich entnehmen, dass der Lebensfunke, der in ihm glimmt, nicht ganz unter der Asche ersticken wird, dass er irgendeinmal zu heller Flamme emporlodern wird. Aber wann? Und wie mögen die Schatten aussehen, welche diese Flamme gegen die Nacht zeichnet? Die psychologische Haltung des Dichters der ,,Rechtgläubigkeit“ gegenüber ist gleichsam dreischichtig: auf der ersten Ebene liegt der Ingrimm, mit dem er den Weg nach der Hagia Sophia sucht und der niemals zur Vision wird, auf der zweiten liegt die absolute Verneinung, das trostlose Schicksal Myschkins, auf der dritten eine vage Verheißung.

Was uns am meisten davor warnt, das panslawistische Programm als das primäre und notwendige Erkennen des Dichters aufzufassen, als einen reinen Ausdruck für den wichtigsten Mittelpunkt seines Erlebens, ist die hohe Spannung, die drängende Not, die sich in seiner seelischen Haltung offenbart und für die wir in jenen Begriffen keine genügende Erklärung finden können. Die Menschen, die Dostojewski schildert, sind nicht von einem fernen Traum erfüllt, von einem formlosen Glauben begeistert — sie werden von einer unmittelbaren Gegenwart gequält, verfolgt, gehetzt, ihr Wille wird durch den Tag gebrochen, nicht durch die Zukunft geheilt. Wenn wir jedoch die Prinzipien des Panslawismus bis zu einer konkreten Sachlichkeit entwickeln wollen, die auch nur halbwegs der Anschaulichkeit des dargestellten Geschehens entspricht, wenn wir, mit anderen Worten, aus der idealen Zielsetzung den aktuellen Aktionsplan ableiten wollen, zu dem sie ihre Jünger verpflichtet, so tritt das Unmögliche der Gefühlsgemeinschaft so deutlich hervor, dass jener überbau, dessen Schwelle wir nicht überschreiten können, wie eine dünne Schale von selbst wegfällt. Die historische Wirklichkeit, zu der sich das panslawistische Ideal kristallisiert, und die historische Wirklichkeit des Dostojewskischen Problems stehen in absoluter Feindseligkeit einander gegenüber. Ihre Gemeinsamkeit liegt nur im Wort und wird zum unvereinbaren Gegensatz, sobald dem Worte die geringste Willensregung angehängt wird, von ihren endlichen Ursachen ganz zu schweigen. Es ist nur das Wort, was uns hemmt, in Verbindung mit einigen Gedanken- und Gefühlsakzenten, die wir unwillkürlich aus ihm herauslesen und denen sich auch Dostojewski nie ganz entziehen konnte — denn jedes Missverständnis und Kompromiss hat seinen Fluch, selbst wenn es noch so gut gemeint war — und es ist jener tiefere Wille und jene tatsächliche Ursache, die uns mit Dostojewski verbindet und die in seine Vision übergeht.

Die historische Bedeutung des Uvarovschen Slawophilismus deckt sich vollkommen mit der Dynamik der Reaktion. Es ist bezeichnend für die Art der Wirkung, die Dostojewski auf uns ausübt, dass wir selbst dort, wo dieses besondere Moment einer politischen Einstellung, die scheinbare Übereinstimmung mit der russischen Reaktion, sehr stark hervortritt, nur widerstrebend die Tatsache ins Auge fassen und im Grunde nicht gern als kritischen Einwand gelten lassen wollen. Es ist so, als ob in uns der Verdacht schlummerte: eine Reaktion, die solche Fürsprecher findet, muss mehr enthalten, als wir im Zarismus zu sehen gewohnt sind. Daran ist nur Eines wahr, dass der Westen, trotzdem es ihm an Studiengelegenheiten nicht fehlte, sich noch immer über die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen der russischen Entwicklungskämpfe im unklaren ist — was im weiteren Sinne nur ein Nebensymptom der epidemischen Unempfindlichkeit unserer intellektuellen Kreise für die hier kompromittierten Probleme sein mag. Denn in Wirklichkeit genügt die reale Tragweite des historischen Begriffes der ,,Reaktion“ nicht nur, um die Fälschung, das krankhaft Unnatürliche im Bilde des reaktionären Dostojewski aufzudecken, sondern auch um die Komödie des offiziellen Panslawismus an den Pranger zu stellen. Der Panslawismus in der Hand der zaristisch gesinnten Aristokratie war nichts anderes als eine Waffe, die ihre bedrohte Herrschaftsposition verteidigen sollte. Die Taktik wurde ihr Insofern leicht gemacht, als die Autokratie eine Interessen- und Gefühlsgemeinschaft mit der großen Masse des russischen Volkes, dem Bauer, mimen konnte, ohne ihre wichtigste Kampfposition zu schwächen, da ihr gefährlichster, wenigstens ihr nächster Feind nicht der Bauer, sondern eine dem Bauer in jeder Beziehung wesensfremde Gesellschaftsschicht war. Es liegt schon im Wesen der Ideenbildung begründet, dass zwischen dem, was eine Idee sagt und dem, was sie will und tatsächlich bewirkt, sich eine ganze Reihe von geistigen Kulissen, von seelischen, metaphysischen, ethischen Halbwerten dazwischenschiebt, welche die treibenden Kräfte verhüllen. Und in der Geschichte der russischen Reaktion treten Menschen wie jener Pobiedonoszew auf, ein Dämon in Menschengestalt, ein Großinquisitor echtester Prägung, der um geistige Hilfsmittel wohl nie m Verlegenheit war. Es ist gleichgültig, ob den innerhalb einer politischen Ideologie tätigen Individuen die Triebfeder ihres Aktionswillens, die Sorge um ihre Herrschaft, bewusst ist oder nicht, ob sie als betrogene Betrüger oder nur als Betrüger auftreten. Denn von ihrer sozialen Stellung hängen für sie selbst auch Werte der verschiedensten Natur ab, von deren Existenzberechtigung sie mehr oder minder überzeugt sind. Aber wenn wir sehen, wie im Falle Dostojewski, dass es einer politischen Ideologie gelingt, sich Kräfte dienstbar zu machen, die geradezu vom sozialen Gegenpol ausgehen, deren Willen seinen Schwerpunkt im entgegengesetzten Extrem verankert hat, so wird das Misstrauen zur Pflicht, weil uns ohne dasselbe gewaltige Werte getrübt werden können. Der springende Punkt unseres Problems liegt darin: hat es Dostojewski mit der Verteidigung jener gesellschaftlichen Kultur, für die wir den Zaren und seine Diener verantwortlich machen, ernst gemeint oder war die Interessengemeinschaft nur scheinbar? und welche Umstände können es verschuldet haben, dass auch nur der Schein der Verständigung entstehen konnte?

Unter Reaktion verstehen wir die Bemühungen der russischen Autokratie, die um ihre Herrschaftsmethoden besorgt ist. Wenn wir den Verkehr mit den unpersönlichen Prinzipien, in denen sie ihre Rechtfertigung sucht, aufgeben, so gelangen wir zwangsmäßig zu einem Punkt, wo unser historisches Gewissen nicht mehr einer Autokratie, Orthodoxie und Nation gegenübersteht, sondern deren Personifikationen sieht, den Zaren, den Synod und neben dem Bauer — den Kosaken; wo es ihm auch unmöglich wird, das griechische Kreuz nach Konstantinopel zu bringen ohne die russischen Eisenbahnen hinzuleiten, oder jenes naturalistische Argument zu übersehen, dass der panslawistische Traum durch die Wirklichkeit arg hergenommen wurde. Jeder einzelne dieser Komplexe würde genügen, um die Distanz zwischen dem sozialen Willen der Reaktion und der Zielsetzung Dostojewskis zu offenbaren; ihr Konglomerat jedoch, in den Vergleich eingestellt, kann höchstens als dämonische Groteske wirken. Es ist nur tragisch, dass wir im Zwielicht der Atmosphäre die teuflische Larve wirklich grinsen sehen, dort, wo Dostojewski selbst in den kritischesten Augenblicken des Kampfes, den er mit seiner Welt aufnimmt, das Grenzgefühl verliert.

Es hieße schlecht Dostojewski verstehen, wenn man sich in der Kritik nicht das Recht anmaßen wollte, sich auf ebenso sachliche Bilder zu berufen, wie es diejenigen sind, die er zeichnet. Es dürfte eher die beste Methode sein, um der seelischen Not, die sein Schöpfertum nährt, näher zu kommen, um sachlich zu sehen, da es schon im allgemeinen Charakter seiner Kunst, im Realismus, begründet liegt, dass ihm das Erlebnis nur dann vertrauenswürdig erscheint, wenn es in eine Strömung realen Geschehens einmündet. Noch bevor wir die Kabinettsfrage nach dem aktuellen Willen seiner politischen Leidenschaft auf warfen, ergab uns der Vergleich mit den Werken die triftigsten Gründe gegen die innere Zweckmäßigkeit seiner Slawophilie, deren Synthese durch die Entwicklung der dichterischen Idee doppelt geknickt wird. Wenn wir die Personifikationen der reaktionären Ideologie zum Vergleich heranziehen, so können wir den Übergang überall ansetzen — nicht nur in der Schlussphase — und es wird immer nur der Widerspruch, niemals die Analogie heraustreten. Selbst wenn wir jene schwächeren Augenblicke des Künstlers ins Auge fassen, da er von der reinen Anschauung sich entfernt und nach ideellen Hilfshypothesen zu suchen scheint, jene Augenblicke, da der Empfindungsstrom, den wir vergleichsweise als gleichwertig mit seiner orthodoxen Zielsetzung betrachten, auf sich selbst zu ruhen scheint, zu stocken beginnt und sich in eine halbe Realität verwandelt, ungefähr dort, wo Fürst Myschkin seine Predigt anheben lässt, die mit dem Ruin der Vase Lisaweta Prokofjewnas endet, dort, wo der Starez sein Tagebuch schreibt, der sterbende Pilger, im ,,Jüngling“, sein Leben rekapituliert. Je geschlossener diese Aussagen werden, je mehr sie sich zum Begriff verdichten, desto weiter werden wir von der Mittellinie des Werkes abgedrängt. Die Tragödie des russischen Christus liegt nicht darin, dass die Welt seinem Vollkommenheitsideal nicht entspricht, sondern dass ihr die Möglichkeit fehlt, die Wertmasse dieses Ideals als wichtig zu empfinden; die ,,Idee“ des „Jünglings“ kann durch die Lehren des Pilgers nicht ersetzt, sondern höchstens abgeschwächt werden. Aber selbst wenn wir diese Momente herausgreifen, die in Anbetracht der großen Ferne, in welche Dostojewski seine Verheißung hinausschleudert, und der unmittelbaren Gegenwart der Lebensgewalten, die sein Werk ausstatten, als vorschnelle Synthese gelten müssen, merken wir die unmittelbare Distanz zum Panslawismus. Es fällt uns schwer zu glauben, dass das Christentum eines Fürsten Myschkin und eines Starez Sossima irgend etwas mit dem Geist und Zweck der Religion eines heiligen Synod gemeinsam hat. Die Gebärde, die Einflusssphäre ist verschieden, die Absichten, die man hinter der geistigen Fassade spürt, der animalische und soziale Trieb, der aus ihnen atmet, sind nicht dieselben. Die staatserhaltenden Kräfte eines Pfaffentums dürften eher in jenem Popen zu finden sein, der Dmitri Karamasoff nur ungern Auskunft erteilt, weil er mit seinem Vater in geschäftlicher Verbindung steht. Die Menschenliebe des Starez ist so durchsichtig, dass sich hinter ihr kaum ein soziales System verbergen könnte, in dem ein Müßiggänger von der Arbeit von hundert und aberhundert Menschen lebt mit der einzigen Begründung, dass es immer so war und immer so sein wird. Eine Staatsreligion braucht bedeutend festere Stützen, als eine rein negative Moral der Demut. ,,Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“ Aber gerade dadurch wurden die Grundlagen des Imperiums unterspült. Um den Starez weht eine verdünnte Höhenluft, die durch alle Ritzen und Fugen dringt und alles angreift, was nicht ihren Aggregatzustand hat. Fürst Myschkin trägt einen gefährlichen Negativismus mit sich herum, ein Nichtverstehenwollen, das einem Nichtgeltenlassen auf ein Haar ähnlich sieht. Alles, was er nicht versteht, was an ihm nicht haften kann, ist ungefähr das, was den gesellschaftlichen Status quo ausmacht. Er hat eine Geste der Verleugnung des Eigentums, der, „Güterverteilung“, die so aufdringlich ist, dass man kaum annehmen kann, die patriarchalische Ordnung der Bojarenwirtschaft, mit welcher der Politiker Dostojewski kokettiert, hätte sich mit ihm befreunden können oder er mit ihr. Wenn wir den Vergleich mit westeuropäischen Begriffen vorwegnehmen, so ist Dostojewskis Christentum, wie es sich hier ausspricht, nicht viel mehr als ein vermummter Marxismus, ein Marxismus, der schon jenseits von jedem Materialismus schwebt, der Versuch einer Antwort auf die unausgesprochene Frage: was bleibt dem Menschen übrig, wenn er sich von jeder ökonomischen und sozialen Fessel befreit hat. Dostojewski verurteilt den offenen Kampf gegen die bestehende Ordnung, verurteilt die Revolutionäre; ist jedoch seine Antirevolution, deren Spuren wir vorläufig nur im Werk verfolgen, um vieles besser? Er befürwortet einen Konservatismus „unter gewissen Bedingungen“. Zu diesen Bedingungen gehört aber jedenfalls auch der „Christus in Bettlergestalt“; und es kann jeder selbst beurteilen, was dieser mit dem heiligen Synod gemeinsam hat. Ebensowenig wie jener Bauer, der Dmitri nach Mokroje fährt, oder die Geschworenen, die den angeblichen Vatermörder aburteilen, mit dem Kosaken. Der Zar wird vom Dichter einfach unterschlagen, tot geschwiegen, eine Verneinung, die denselben tatsächlichen Wert hat, wie der fehlende Beweis für den Triumph des orthodoxen Typus. Die metaphysische Strömung organisiert sich im Werke zu einem geschlossenen System — dort, wo das Gesetz von ,,Schuld und Sühne“ eingreift. Das hat wenig mit Konstantinopel zu tun. Und andererseits kann man sagen, dass diese Ideologie genau so entfernt ist von der Mittellinie der gültigen Symbole, wie der Panslawismus von der Mittellinie der historischen Mission Dostojewskis. In jedem einzelnen Falle, wo wir Gelegenheit zu haben glauben, die inneren Maße dieser Schuld- und Sühneidee nachzuprüfen, werden wir enttäuscht. Es spricht etwas anderes zu uns als eine ethische Formel. Wirkt die Selbstanzeige Raskolnikoffs überzeugend, über den individuellen Fall hinaus? Ist die Lebenswahrheit, die aus diesem letzten Akt seiner Selbstvernichtung spricht, eine andere als diejenige, die uns seine Mordtat offenbart? ist der Mord nicht schon ein Selbstmord — der Selbstmord nicht ein zweiter Mord? Wir sehen wohl, dass Raskolnikoff die Reue erlebt; aber ist das nicht schon ein Entwicklungsprodukt der tragischen Verwicklung? Wir sagen uns nicht: er endet in Sibirien, weil er die Entsühnung brauchte, sondern viel eher: weil er Raskolnikoff war; weil ein Mensch wie er in einer Welt wie dieser in Sibirien enden muss. Also liegt der Kernpunkt der Tragödie anderswo als in seiner Reue. In den ,,Brüdern Karamasoff“ versucht der Dichter den Sühnegedanken von jedem materiellen Beiwerk zu entkleiden; Dmitris Schuld bleibt im Moralischen stecken, und gerade hier wird die Idee zum Sophisma. Der Autor weiß nicht, was er mit ihm machen soll: soll er nach Sibirien kommen oder nicht? und er findet keine endgültige Lösung. Trotzdem macht das Werk auf uns nicht den Eindruck des Fragmentarischen, weshalb wir auch nicht den Sühnegedanken als seine Synthese auffassen dürfen. Es ist eine Frage für sich: wie in dem Ethiker Dostojewski das Bedürfnis nach dieser starren Formel laut werden kann, die doch unfruchtbar bleibt. Es genügt uns jetzt anzumerken, dass gerade dort, wo sich die Freiheit seiner Vision zum System verdichten möchte, die ungeheure Entfernung vom grobkörnigen Panslawismus sich am deutlichsten bekundet; könnte es sich nicht herausstellen, dass, ebenso wie der Sühnegedanken für den Dichter ein überflüssiges Organ, ein Schmarotzerproblem war, das seinem Gestaltungswillen nichts nehmen und nichts geben konnte, auch der Slawophilismus des Politikers nur als barockes Nebenprodukt seines sozialen Gewissens verstanden werden darf?

Das wäre beinahe gleichbedeutend mit der Erkenntnis, dass Dostojewski überall dort, wo er eine feste rationale Struktur für sein kosmisches Erleben sucht, in eine ungünstige Situation gerät, die ihn an falschen Fiktionen haften lässt. Wir denken an jenen Zug, den Strachoff besonders hervorhebt, dass der Dichter seine Gedanken fühlte und lieber einen scharfen plastischen Ausdruck suchte, als dass er sie logisch erklärte. ,,Während die Slawophilen von vornherein gewisse, sehr bestimmte religiöse, philosophische und politische Auffassungen vertraten, suchte Dostojewski erst die Prinzipien, die zu der erwünschten Versöhnung führen sollten.“ Trotz dieser Unbestimmtheit, in der er lebte, „sprach er von diesen noch gesuchten Prinzipien mit großer Bestimmtheit und Beharrlichkeit.“

Es wäre uns jedoch wenig damit gedient, dass Dostojewskis Anschauungen nicht ganz so aufgefasst werden dürfen, wie ein prinzipienstarrer Panslawismus aufgefasst werden muss, dass wir in dieser Unbestimmtheit, gleichsam zum Trost, sympathischere Anknüpfungspunkte finden können. Wir würden dadurch dem Dichter eine Ungenauigkeit vorwerfen, die Fähigkeit, in einer Halbheit zu beharren, die zwar Ausreden liefern mag, aber in seltsamem Widerspruch zu der rasanten Schärfe seiner Wirklichkeitsempfindung steht und zu jenem überaus realen Erlebnis, von dem aus wir seine tiefere Besinnung und sein Schöpfertum herleiten: die Katorga. Ob wir nicht der Wahrheit näherkommen, wenn wir sagen Dostojewski bleibe immer dort unbestimmt und ungenau, wo man ihn auf slawophile Anschauungen festlegen will, was nicht die Möglichkeit ausschließt, dass er sehr bestimmt und sehr deutlich wird, wenn seine politischen Instinkte andere Wege beschreiten als die der slawophilen Ideologie? Wir hätten den rätselhaften Vorgang zu erklären, dass der Dichter Dostojewski mehr weiß, als er in seinem metaphysischen System zum Ausdruck bringt, dass seine Sinne und sein Geist schärfer und lebendiger sind, um eine höhere und präzisere Weisheit bereichert, wenn er die Schicksale seiner Helden spinnt, als wenn er die Schicksale Europas durcheinanderwirft; dass er das eine Mal die wirksamen Möglichkeiten des Lebens erfasst, ihre Zukunft ahnt, ihre Wege bezeichnet und das andere Mal daneben greift und trotzdem in beiden Fällen dieselbe Methode der Einteilung befolgt und sich aus demselben subjektiven Erlebnis heraus entfaltet. Um das Gemeinsame in diesen zwei Äußerungsformen seiner persönlichen Entwicklung aufzudecken, wäre uns damit ein fester Punkt gegeben: der Ausgangspunkt, den wir zeitlich und ideell in die ,,Erinnerungen aus einem Totenhaus“ verlegen können. Um ihre innere Organisation zu erfassen, fehlt uns nur noch die reine Erkenntnis des Zieles. Sollte nicht auch dieser Panslawismus, vor dem alle Einwände wie Spreu vor dem Winde verwehen, weil er seine Kraft nicht aus der Logik schöpft, sondern aus dem glühenden Affekt, der ihn geschweißt hat und zusammenhält, viel besser aus dem Ziel heraus verstanden werden, dem er zustrebt, als aus den Mitteln, die er in Bewegung setzt — und zwar aus einem aktuellen Ziel, im Verhältnis zu dem auch alle weltpolitischen Pläne nur ein Mittel sind? Das Ziel könnte derart beschaffen sein, dass es durch die Wirrnis der Argumente wesentlich verschiedene und viel präzisere Wege bahnt, als uns jene nationalistischen Prinzipien sind. Und es könnte auch sein, dass wir diese Wege nicht nur durch Umdeutung von Äußerungen Dostojowskis nachzeichnen müssen, sondern in seinen Dokumenten sehr klar und bestimmt ausgedrückt finden. Vielleicht gehört nicht viel mehr dazu als guter Wille und die Fähigkeit, sich nicht durch den Umstand beirren zu lassen, dass er gelegentlich in ein panslawistisches Fahrwasser geriet.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Dostojewski – Zur Kritik der Persönlichkeit