Von der Idee zum Roman. Der äußere Widerspruch

Denn Dostojewski war Panslawist. Vielleicht der leidenschaftlichste Panslawist, der je aufgetreten.

Wir können alles aufrollen, was wir über den Panslawismus wissen — es wird nicht zu wenig sein. Dostojewski fand das Programm schon in seinen Grundzügen vorgezeichnet vor, erlebte jedoch seine Entfaltung zur tätigen Partei. Für sich hatte er das Bekenntnis unter den schwierigsten Verhältnissen entdeckt, die zugleich die günstigsten waren, damit es sich in seiner Seele zutiefst verankere. Aus dem entgegengesetzten politischen Lager kommend, furchtbare Prüfungen überwindend, die er alle auf das Konto seiner ursprünglichen Gesinnung schreibt, schließt er sich mit Begeisterung den Slawophilen an, baut ihnen durch die Gründung der Richtung der „Bodenständigen“ eine literarische Kanzel, bereichert sie um seine große Erfahrung, seine tiefe Intuition, nicht zuletzt: seine leicht entflammte Phantasie und jene venia poetica, die es ihm gestattet, sich leichter über Hemmungen hinwegzusetzen, die einen Nur-Politiker zaghaft machen könnten. Seine politischen Schriften haben wenig von der methodischen Art wissenschaftlicher oder philosophischer Traktate, obwohl dem System ein reicher metaphysischer und wissenschaftlicher Apparat zur Seite stand, ohne den es sich weder halten noch durchsetzen konnte. Dostojewski schmilzt Für und Wider in großen Synthesen zusammen und krönt das Gebäude durch glühende Symbole. Es sollte nicht ein Winkelprogramm sein, sondern alle Gebiete des Lebens umfassen, entscheidend auf die ganze kulturelle, moralische, materielle Entwicklung Rußlands wirken und hatte mit Gegnern zu kämpfen, die sich auf eine große metaphysische und historische Vergangenheit berufen konnten — die ,,Westler“ aller Schattierungen, vom Terroristen und Nihilisten bis zum gemäßigten Liberalen, zum Lebemann, der französische Allüren nachahmt und in deutsche Bäder fährt, alle jene Parteien und Menschen, welche mit aus Deutschland und Frankreich importierten Idealen operierten und eine westeuropäische Staats- und Lebensform anstrebten.


Der Panslawismus stellt diesen Idealen die ureigene Bestimmung des russischen Volkes entgegen, die sich von allen westeuropäischen Möglichkeiten im Prinzip und in den Methoden wesentlich unterscheiden soll. Man könnte den Panslawismus einfach als Nationalismus auffassen, insofern als er unter dem Zwiespalt aller national determinierten Ideale leidet: die Übertreibung einer naturhistorischen Tatsache, die nur einen beschränkten Wirkungskreis haben kann, zum einzigen Maß der Dinge, allen Forderungen der Kultur zum Trotz, welche die Entwicklung der Menschheit aufgestellt hat und die über dem Gattungsbegriff Kraftzentren schufen, die in ihrer Art keine geringere historische Wirkungskraft besitzen, jenen natürlichen Voraussetzungen gleichwertig, oft überlegen sind. Beim russischen Nationalismus wird die Perspektive jedoch durch zwei besondere Motive durchkreuzt, Vielehe dieses höhere Regulativ auf einem Umweg wieder einzuführen scheinen: indem der religiöse Charakter der Nation so stark betont wird, dass Orthodoxie und ,,russische Nation“ als Synonyme auftreten, und eine typisch-russische Staatsform befürwortet wird. Dadurch wird die primitive nationalistische Anschauungsweise, die im Grunde nichts anderes wäre als biologischer Naturalismus, gewissermaßen veredelt, der Naturkraft wird eine metaphysische Teleologie eingeimpft. Für den Panslawisten strengster Observanz ist die Autokratie, der Zarismus, von der Erhaltung der zwei anderen Prinzipien, Nationalität und Orthodoxie, nicht zu trennen. Das bedeutet für ihn jedoch nicht eine vollständige Ausschaltung der Selbstbestimmung des Volkes, die in anderen Formen zu Worte kommen soll, als über jene westeuropäische der ,,parlamentarischen Verfassung“, wie er überhaupt im Zarismus nicht ein starres, totes System sieht, wie die liberalen Parteien, sondern eine entwicklungsfähige Organisation, die Vorbedingung jeder Entwicklung, die zur notwendigen Struktur des russischen Daseins gehört, gleichsam den ersten Akt der Selbstbestimmung des Volkes darstellt. Was man an ihm auszusetzen hatte (diese Skwosnik-Dmuchanowskijs, Dershimordas, Tjäpkin-Ljäpkins, die wir aus Gogols ,,Revisor“ kennen), wurde durch Peters Reformen hineingetragen. Wenn man ihre Folgen beseitigt und wieder dorthin zurückgeht, wo der verhängnisvolle Einflussstrom eingeschaltet wurde — an den Anfang der westeuropäischen Verwicklungen — wird sich der Absolutismus wieder als lebensfähig erweisen.

Der circulus vitiosus ist geschlossen. Alles, was bewiesen und gestützt werden soll, lehnt sich an etwas anderes, das wieder auf das erste Argument übergreift, um bestehen zu können. Der russischen Nation muss ihre unvermischte Einheitlichkeit erhalten bleiben, weil ihr Glaube am reinsten ist und Europa nichts Gleichwertiges aufweisen kann, und er ist es deshalb, weil er aus der russischen Seele emporblüht. Der Kreis öffnet sich nur dort, wo die Idealgestalt des russischen Bauern, des Muschik, mit seinem Gottvertrauen und seiner großen Demut, seinen unverbrauchten Instinkten, als das lebendige Gefäß der Gnade gefeiert und dem Westeuropäer entgegengestellt wird, der mit seinem großen irdischen Wissen, seinen reichen Mitteln immer mehr der inneren Harmonie entfremdet und zügelloser Anarchie zugetrieben wird. Weil der Muschik allen jenen Prinzipien huldigt, müssen sie unangetastet bleiben. Das Argument zeugt vielleicht von einem gesunden Willen, könnte jedoch nicht tendenziöser sein. Im Vergleich ist der Russe immer der Muschik, der Westeuropäer immer der Industrieritter oder der Besucher des Jardin Mabille. Die metaphysische Rechtfertigung geht wieder in biologischen Realismus über und es überrumpelt uns der Verdacht, alles übrige sei nur erfunden worden, um diesen triebhaften Egoismus geistig aufzufrischen und die wahre Absicht zu verschleiern. Der Verdacht wird durch die weltpolitischen Pläne der Panslawisten bestärkt, die in dem Drang nach Konstantinopel, in der Forderung nach der Weltherrschaft der Slawen gipfeln. Die Bestimmung Europas wird übers Knie gebrochen, indem den europäischen Völkern prophezeit wird, es werde ihnen, wenn sie ,,im eigenen Blute schwimmen werden“, nichts anderes übrig bleiben, als sich dem Zepter des Zaren zu beugen, von Russland das „neue Wort“ zu empfangen. Sie mögen der all versöhnenden, all vereinenden Liebe des russischen ,,Allmenschen“ vertrauen. Aber die sachliche Stoßkraft der konkreten Pläne wird von einem trüb glosenden Feuer des Hasses genährt, das uns gegen das christliche Ziel misstrauisch macht, m dessen Namen ,,die lebendige Wiedervereinigung der Menschen, die universale Einigung“ angestrebt wird, und wenig von jener angeblich 36 Der äußere Widerspruch echt russischen Fähigkeit verrät, das Wesen fremder Nationen zu erfassen. Den Übergang zur Außenpolitik findet der Panslawismus, indem er einige nichtrussische Völkerschaften in den Interessenkreis einbezieht — bald weil sie die Rassenmerkmale tragen, dann wieder weil sie der rechtgläubigen Kirche angehören — in dessen Mittelpunkt jedoch stets Russland bleibt. Der Unterschied zwischen „russisch“ und „slawisch“ kommt im Programm selbst nicht zum Ausdruck, man kann ebensogut von Panslawismus wie von russischem Nationalismus sprechen — die Nationalisten sind Slawophile und die Grenze verschiebt sich in ihrem Bewusstsein. Die Erhebung der Balkanslawen gegen das Türkenjoch gibt ihnen Gelegenheit, ihr außenpolitisches Ziel auszugestalten, das mit dem Zerfall Österreichs, mit der Auflösung der deutschen Einheit, mit der Anarchie in Frankreich und England rechnet. Die bösartigen Folgen, die erfahrungsgemäß jedem nationalistischen Programm anhaften — dieser Fluch: dass es immer in Überhebung umschlagen muss, selbst hier, wo es sich durch Demut rechtfertigen will, und jene Realitäten, auf die es sich beruft, in der gröblichsten Weise missbraucht — treiben die giftigsten Blüten. Eine rein persönliche Ursache spricht mit: dass jene Individuen, welche den Nationalismus entdecken, meistens Menschen sind, welche kaum als Träger jener natürlichen Kräfte und volklichen Eigenschaften betrachtet werden können, die sie befürworten, Menschen, die sich innerlich mit dem Geist eines idealen oder praktischen ,,Auslandes“ kompromittiert haben. Durch irgendeine Ursache, deren Bedeutung sich schon deshalb gern im Unbewussten verbirgt, weil sie sonst nicht stark und unbekümmert genug wirken könnte und hier durch Nebendeutungen übersponnen wird, zur Umkehr gezwungen, „entdecken“ sie Dinge, die ihnen bisher unbekannt waren und die sie mit dem Reiz der Neuheit anlocken. Gerade weil sie das Distanzgefühl nie ganz abschütteln können, erheben sie das neue Symbol, das eine zweckmäßige Wahl bedeuten mag, zum Götzen und verteidigen seine einzelnen Attribute ebenso hartnäckig wie die lebendige Wahrheit, die sie suchten. Und nicht selten verherrlicht der Slawophiie — selbst Dostojewski — den Muschik mit demselben Tonfall, mit dem ein Baudelaire die Venus noire und den Haschischrausch besingt. Andererseits liegt der Keim der Übergriffe schon darin, dass eine nationale Eigenart nur in Augenblicken betont wird, da sie von inneren oder äußeren Feinden angegriffen, in eine Minderwertigkeitsposition gedrängt wird. Die Antwort auf ein Minderwertigkeitsgefühl ist immer überkompensierend.

Alle diese Umstände wirkten zusammen, dass der Eifer der Panslawisten sich in ihrem außerpolitischen Programm zu orgiastischem Übermaß steigerte. Ihr Aktionsplan, der bei anderer Gelegenheit nur der Gegenwart dienen möchte, spannt sich hier über Jahrhunderte, Jahrtausende und ihr Grenzgefühl für Zeit und Raum verwischt sich vollkommen. Es ist seltsam, dass Dostojewski gerade auf diesem Gebiet Glanzleistungen der historischen Intuition vollbringt, der großzügigen Erkenntnis (so in seinen Ausführungen über Katholizismus, Protestantismus), so dass uns die verschiedenen Fälschungen, vor denen er dann nicht zurückschreckt, noch mehr überraschen. Wir müssen hier ein widerspruchsvolles Gefühl notieren, das uns beim Lesen seiner politischen Schriften anwandelt: dass auch dort, wo seine Beweisführung sehr zähe an den Fiktionen hängt, die uns am meisten misstrauisch machen, wir ihm unser Mitgefühl nicht ganz entziehen können, als ob zwischen Gefühl und Idee andere Möglichkeiten durchschimmerten. Es ist nicht allein die Gewaltsamkeit, die uns fortreißt, sondern irgendein Oberton, der mitschwingt und der uns sachlicher und sympathischer, überzeugender anspricht als der Grundakkord. Er arbeitet mit einer seltsamen Mischung von phantastischer Schwärmerei und glühender, zugleich glücklicher Wahrheitsliebe, von Überschwang und ehrlichem Realitätsgefühl, das sich um so inniger mit der Wirklichkeit verknüpft glaubt, je weiter die Vernunft ausholt. An gewissen Punkten leuchten seine Argumente mit einer Evidenz hervor, dass wir glauben möchten, auch die Schlussfolgerungen müßten uns überzeugen, schimmert ein Daseinswille durch, der uns packt, dem wir jedoch dann wieder die Legitimation verweigern, wenn wir unser Mitgefühl auf die ganze Perspektive ausdehnen möchten. Wir merken, dass die Fälschungen nicht durch einen fehlenden Sinn, sondern durch einen verdorbenen Sinn verursacht werden, durch einen Sinn, der sich bei gewissen Gelegenheiten gern verderben lässt. Aber da die Synthese mehr von jenen trüben, als von den reineren Gefühlen weiß, können wir dann nichts anderes tun, als den Mißbrauch bedauern. Das Problematische seiner historischen Intuition verrät sich auch dort, wo sie bedeutungsvolle Ergebnisse erzielt, an der Gebärde: sie beziehen sich immer auf Phänomene, die ihm und uns zeitlich oder räumlich fern stehen. In der Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse auf die Gegenwart beginnt die Beweisführung zu hinken und unsere Wege beginnen sich zu trennen. Er stützt sein Gebäude durch mächtige Traversen, die den Jahrhunderten zu trotzen scheinen. Nur übersieht er meistens irgendein Motiv, das im Vergleich zum großen Entwurf nebensächlich dünkt und das doch ausschlaggebend ist für die richtige Beurteilung der Werte, die er ins Treffen führt — der Wurm, der in dem Balken seine Gänge bohrt. (Am deutlichsten wird die Unzulänglichkeit der Methode in seiner Darstellung Napoleons III., „Die Verschwörung des Katholizismus“.) Wenn er sagt: „Der Katholizismus ist nicht mehr Christentum und geht in Götzendienst über, der Protestantismus aber nähert sich mit Riesenschritten dem Atheismus und wird zu einer schwanken, veränderlichen und nicht ewig feststehenden Sittenlehre“, so müssen wir ihm zustimmen. Und auch die Absicht, die er mit diesen Argumenten stützt, — zu beweisen, dass Westeuropa trotz seinem ökonomischen und wissenschaftlichen Fortschritt ethisch zurückgeht — kann auf unsere Zustimmung Anspruch erheben. Nur werden wir irre an seinem guten Willen, wenn er den Triumph der Orthodoxie mit Hilfe von jenen Lastern durchsetzen will, die ihm als Beweis für die Krankheit des Westens gelten. Jene Ferne, die er darstellt, erwacht zu einer Leuchtkraft, die uns ergreift; der Wille, der auf die Gegenwart zielt — auf etwas, das unmittelbar gegeben ist, das unmittelbar verpflichtet — wirkt nicht minder überzeugend, Art und Kraft der Verpflichtung zwingt uns zur Anerkennung; aber beim Übergang zur sachlichen Anschauung der Gegenwart greift ein Unterton ein, der uns bald wie böser Wille, bald wie blinder Dilettantismus abstößt und die Vereinigung wieder ins Uferlose hinausschleudert.

Dieselbe Disposition der Massen, die seine politischen Anschauungen durchzieht, kehrt auch in allen Romanen des Dichters wieder. Alle Spannungen und Kontraste ergeben sich aus der Gegenüberstellung von Motiven, die aus der Atmosphäre des psychischen und politischen Westlertums und Nihilismus geholt sind, und Symbolen, die aus dem panslawistischen Lager, aus dem Dunstkreis seiner seelischen Möglichkeiten stammen. Die Parteien sind meistens sehr reinlich geschieden, so dass man bei einiger Übung leicht erkennt, in welche Richtung sie der Dichter einspannen will. Raskolnikoff trägt schon im Namen das Bekenntnis seiner Abstammung (Raskolnik = Altgläubiger), Zosimoff, der Arzt, mit seinen wissenschaftlichen Theorien, Luschin, mit seiner prätentiös liberalen Gesinnung sind Westlertypen. Sie sind meilenweit entfernt von jener ethischen Grenzlinie, die Raskolnikoff mit seiner ,,Erlösung in Liebe“ erreicht. Dazwischen stehen Rasumichin, der mit dem sicheren Spürsinn des Instinkts, innerlich unverdorben, sich seinen Weg durchs Leben bahnt, aber doch für die Westler arbeitet, um sich Geld zu verdienen, indem er naturwissenschaftliche Broschüren übersetzt. Swidrigailoff, der in dem verhängnisvollen Zwischenraum zwischen russischer Lebensart und westeuropäischer Kultur hängen geblieben ist. Im „Idioten“ steht das Christusideal des Fürsten Myschkin dem amerikanisierten Ganjä, den revolutionären Theorien Hippolyts und seiner Freunde gegenüber, dem Opportunismus des Generals Jepantschin; Nastassja Filippowna ist die russische Nachahmung der französischen Demi-Mondaine. In den „Dämonen“ sehen wir die Nihilisten an einem großen Plane arbeiten, werden alle möglichen westeuropäischen sozialpolitischen Theorien durcheinandergewirbelt; ihr Verhältnis zur großen russischen Seele offenbart sich in ihren Beziehungen zu Stawrogin, der den Sturm entfacht hat und ihn nicht mehr besänftigen kann, zu Kirilloff und Schatoff; Stepan Trophimowitsch Werchowenski ist die harmlosere Abart des Westlers aus der früheren Generation, dem es nur um kleine Eitelkeiten, um Bildungspuder und Zivilisationsschminke zu tun ist. In den „Brüdern Karamasoff“ ringen die Gewalten in Personifikationen von übermenschlicher Größe miteinander, der Westler Iwan, der Orthodoxe Aljoscha, Dmitri und Fedor Pawlowitsch, als Symbole der entfesselten Kräfte, die es zu bändigen gilt (deren jedoch weder der Westler noch der Rechtgläubige Herr wird) — Ssmerdjäkoff, der sich parfümiert und nach Paris sehnt, ein abschreckendes Beispiel jener degenerativen Tendenzen, die bei Stepan Trophimowitsch noch belächelt werden.

Die Übereinstimmung zwischen dem Politiker und dem Dichter wird jedoch durch ein Moment gefestigt, das wichtiger scheint als Name und Anordnung der Parteien. Ihre Projektion auf den großen, allgemeinen Hintergrund des ,,lebendigen Lebens“, eines lebenswürdigen, harmonischen, vollkommenen Daseins, ihre Abgrenzung gegen Freiheit und Zwang, gegen Schönheit und Verzerrung bietet kongruente Bilder. Dostojewski lässt uns in seinen Romanen und in seinen politischen Ausführungen keinen Zweifel darüber, dass er alle Tendenzen, die den Nihilismus nähren, die Menschen, die ihm folgen, für unfruchtbar hält, für ein Elend und einen Fluch, dass ihre Weisheit mit dem Geheimnis des Lebens nichts zu tun hat und einen unerträglichen Zwang über die Welt bringt, Seele und Geist in ein Prokrustesbett zwängend. Sein Urteil über die Menschen springt aus der Darstellung deutlich hervor, mit allen Nuancen: wer weniger und wer mehr verdorben ist. Die Darstellung bleibt rein und unverfälscht, nur weil seine Beziehung zu diesem Urteil absolut zweckmäßig und natürlich ist, gerade dank dem entgegengesetzten Prinzip, das die Angst vor der Tendenz empfehlen möchte.

Wenn wir uns durch diese Umstände verleiten ließen, den Panslawismus für das gültige Äquivalent jenes Lebensgefühls zu halten, aus dem die Visionen des Dichters herauswachsen, würde die Situation in jenes kritische Stadium treten, wo unser Urteil dem unerbittlichen Entweder-Oder nicht ausweichen kann. Wollten wir alles anführen, was uns am Panslawismus missfällt und nicht Eingang in unsere Seelen findet, bliebe uns wenig in der Hand. Die reale Aggression gegen Werte, von denen unsere Existenz mehr oder weniger abhängt, kommt nicht in Betracht gegen die Hemmungen, mit denen wir seinen psychologischen und dialektischen Methoden begegnen; um mit ihm zu fühlen, müßten wir einige der wichtigsten Kategorien, die unsere Vernunft stützen, über den Haufen werfen. Seine inneren Widersprüche entheben uns der Aufgabe, ihn objektiv zu widerlegen. Und dieselbe Vernunft sollte sich verführen lassen, wenn ihre Quälgeister in einem anderen Gewände auftreten? Unser Problem war, da wir vom Verwachsensein von Kraft und Erkenntnis bei dem Dichter überzeugt sind, ob die Beziehung zwischen seinem politischen Weltbild und seiner Kunst eine bedingte oder unbedingte sei, ob wir die Kritik über jede Phase seiner sozialen Anschauungsweise der Kritik über seine Romane gleichsetzen dürfen, oder ob nur einzelne Phasen denselben Lebenswillen offenbaren. Wenn wir den Panslawismus als den Gipfelpunkt von Dostojewskis sozialer Gewissenhaftigkeit ansehen, so ergibt sich daraus unmittelbar die Folgerung — da wir ihn subjektiv und objektiv ablehnen — dass wir entweder die Beziehung zwischen Kraft und Erkenntnis als nur zufällig und keineswegs gesetzmäßig gelten lassen, oder den Künstler ablehnen müssen. Da wir uns mit keiner von diesen beiden Möglichkeiten befreunden können, nehmen wir an, dass das Verhältnis zwischen Weltbild und Gestaltungskraft nur ein bedingtes gewesen sein kann, dass die Gewissenhaftigkeit des Politikers in einigen wesentlichen Punkten von der des Dichters abweicht und dass der Panslawismus nicht ausschlaggebend einwirken kann auf unser Urteil über die Persönlichkeit Dostojewskis. Da wir jedoch den Künstler und den Politiker durch das kritischste, tiefgreifendste Erlebnis gleichermaßen beeinflusst sehen, das uns gleichsam als erste und letzte Instanz für die lebendige Bedeutung der behandelten Werte gilt, müssen wir weiter folgern, dass der Panslawismus nicht einmal in seinem politischen Streben zu den wichtigen Organen Dostojewskis gehörte.

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die Suche zu gehen nach einem reineren Ausdruck seines politischen Wirkungsdranges, der zugleich die Forderungen, die sein Werk an unser kritisches Urteil stellt, befriedigt. Was wir vom panslawistischen Abenteuer mitnehmen wollen, ist nur das: dass wir auch im Umkreis seiner spezifischen Atmosphäre Augenblicke erleben, die uns eine Gemeinschaft vortäuschen. Die Frage könnte sich zu dem Problem zuspitzen, ob jene recht haben, welche diese tiefere Intuition Dostojewskis nur als ein gutes Mittel betrachten, das einem trüben Zwecke dient, oder jene, welche den Panslawismus als das trübe Mittel betrachten, das einem guten Zwecke zuliebe eingeschaltet wurde. Derselbe Widerspruch tritt uns in einer anderen Form entgegen, wenn wir in den weltpolitischen Plänen des Dichters den Hass und das Unverständnis glosen fühlen und die christliche Gebärde wie die List eines Rattenfängers herausflöten, und andererseits in Strachoffs Ausführungen lesen: ,,Der auffallendste Zug war dabei (bei seinem Traum von der universalen Synthese, von der Auflösung und Versöhnung aller Widersprüche, die sich in der historischen Menschheit gezeigt) wohl das vollständige Fehlen von Hass und Verachtung in seinem Verhalten zu unserem großen Streit zwischen der westlichen und der russischen Idee. Dieser Zug war die Ursache der geradezu elektrischen Wirkung seiner Rede zur Puschkinfeier. Und derselbe Zug charakterisiert auch seine Romane und sein ,Tagebuch‘.“ Um bei unserem Suchen eine bessere Anleitung zu haben, eilen wir der Beweisführung um einige Schritte voraus, als hätten wir schon die Berechtigung unserer Gefühlsgemeinschaft erwiesen. Wir berufen uns auf eine Empfindung, die vorläufig nur einen subjektiven Wert haben mag, die aber immerhin durch die Autorität einer großen Gemeinde gestützt wird. Wir verfolgen nur die Absicht, den Kreis unserer Wanderung einzuschränken.

In unserer Einstellung zu einer „panslawistischen“ Kunst hätte schließlich das Prinzip des Selbsterhaltungstriebes seinen berechtigten Platz, trotz aller Objektivität, deren wir uns befleißigen mögen, schon deswegen, weil es sich jenseits jeder materialistischen Deutung in seinen geistigen Akzenten bemerkbar machen müsste. Wir sind, im großen ganzen, Westeuropäer. Wäre die Distanz zwischen uns und jenen Wesenheiten, denen Dostojewski die Entscheidung über Leben und Tod anvertraut, die Distanz zwischen Europa und Russland, zwischen europäischen und russischen Existenzproblemen wirklich so groß, wie es der Dichter behauptet, dann wären wir — selbst als Todgeweihte und Verfemte, gerade um dieses Eintagsleben organisieren zu können — eingesponnen in Gefühle und Ideen, welche uns jede Gemeinschaft mit den Trägern jener anderen Entwicklung verbieten würden. Es ist jedoch erstaunlich — und an und für sich eine laute Warnung vor jeder missverständlichen Umdeutung trennender Faktoren — wie leicht es uns, dem „Raskolnikoff“, dem „Idioten“, den ,,Karamasoff“ gegenüber gelingt, von jenen Wendungen, Übergängen und Eigentümlichkeiten des Kolorits, welche die Abhängigkeit von der näheren Umgebung zu stark verraten, abzusehen und das Dargestellte als unsere Privatsache zu empfinden, gerade seine höchsten Steigerungen und bedeutungsvollsten Katastrophen in uns aufzunehmen, instinktiv und ohne Widerstand, als wüssten wir im voraus, dass sie Offenbarungen enthalten, die unserer Seele, unserer Vernunft, unserer ,,Kultur“ einen großen Gewinn bringen. In solchen Fällen steht dem Literarhistoriker ein Wort zur Verfügung, das im Handumdrehen eine bequeme Brücke über die tiefsten Abgründe herstellt — das Wort von der „allgemeinen Menschlichkeit“; ein Wort, hinter dem dieselbe Unzulänglichkeit steckt wie hinter dem Dogma der Indifferenten, obwohl sich diese auf eine absolute Form, jene auf eine absolute Fülle berufen, die uns alle verbinden soll und uns Dinge nahe bringt, die aus einer ganz anderen Zone kommen. Homer können wir schließlich auch nachfühlen und wir verstehen sogar den Zulukaffer, der Diamanten um Glasperlen umtauscht. Es will uns aber scheinen, dass unsere Beziehung zu Dostojewski sich auf einem viel engeren Gebiet bewegt, als unser Verhältnis zu Homer und zum Zulukaffer, dass unsere persönliche Ergriffenheit aus Quellen fließt, die eine viel konzentriertere Lösung der Lebenssäfte speist, als das Menschliche Allzumenschliche aller Zeiten und Zonen; dass wir mit ihm nicht in einem überzeitlichen Raum zusammen treffen, sondern in einem Heute, dass der Internationalismus, der uns mit ihm verbindet, von jüngerer Herkunft ist. Es würde uns nie gelingen, uns z. B. mit Gogol so eng zu verbinden; wir müßten manches auf eine andere Tonleiter transponieren, eben mit Hilfe des Schlüssels des Allgemein-Menschlichen. Sollte beim Übergang von Gogol zu Dostojewski, der doch unmittelbar von ihm abstammt, in Russland etwas geschehen sein, was uns allen sehr nahe geht — uns allen derselbe Fluch, dieselbe Erlösung ist? Dostojewski schildert die Mischformen, die aus der Kombination von russischem Wesen und westeuropäischer Kultur hervorgehen. Wäre das unser Anteil? Warum lehnt sich dann nicht unser Lebenswille auf gegen die Weisheit, die wir ihm entnehmen, die uns aus der ganzen Perspektive entgegenhaucht, und die wir auf unser ganzes Welterleben ausdehnen, als wäre sie uns auch eine Hoffnung und Freude? Warum lieben wir nicht diesen Pjotr Stepanowitsch, diesen Rakitin, diesen Ssmerdjäkoff — warum hassen wir nicht Aljoscha, den Starez, den „Jüngling“ ? Wenn wir seinen Helden und Märtyrern in Gesellschaft begegnen, mag es uns leicht sein, sie als Russen zu erkennen, an ihren Bärten, ihren weichen Stimmen, ihren gewaltsamen Gesten. Aber ob wir die Tragödie ihrer Seele, die sich hinter ihrem fremdartigen Aussehen emporbäumt, auch nur als eine russische Angelegenheit betrachten, wie das Barttragen, das wir uns schon abgewöhnt haben?

Was uns an einer Kunst ergreift, ist nicht ihre Buntheit um einen beliebigen Mittelpunkt, sondern dieser Mittelpunkt. Homer steht uns ,,menschlich“ nahe, weil er zu den Möglichkeiten, zur Notwendigkeit seiner Welt jene aufs höchste potenzierte richtige Beziehung hat, welche in seine Visionen als große Intensität ausstrahlt. In diesem Sinne könnte unsere Liebe zu Homer und unsere Liebe zu Dostojewski noch immer auf demselben Niveau liegen; sie würde uns vorläufig nur besagen, dass auch der Schwerpunkt des Russen sich auf der Linie der intensivsten Weisheit seiner Welt gegenüber bewegt und die könnte sich noch immer zum Panslawismus rationalisieren lassen. Aber wenn wir die positive Gemeinschaft nicht verleugnen können, die viel intimer ist, als wenn sie nur an den spärlichen Hacken hielte, die für die Fäden unserer westeuropäischen Kultur bereit stehen (,,was die ersteren betrifft, d. h. die Wissenschaften und die Techniken, so müssen wir die allerdings vom Westen übernehmen, und uns in der Beziehung von Europa abzuwenden, dazu haben wir gar keinen Grund, ganz abgesehen davon, dass es andere Lehrmeister nicht gibt, außer den westeuropäischen, wofür Europa von uns Dank und Preis sei ewiglich. Aber unter Aufklärung verstehe ich [und ich denke, dass niemand sie anders auffassen kann], verstehe ich — das, was das Wort buchstäblich besagt: ,,Erleuchtung“, also das geistige Licht, das die Seele erhellt, das Herz durchleuchtet, den Verstand lenkt und ihm den Lebensweg weist“), wenn sie sich auch auf alle jene Elemente erstreckt, die Dostojewski als nicht zur westeuropäischen Kultur gehörig betrachtet und vor dieser als Privileg russischer Eigenart retten möchte, wenn wir auch dieselbe Auffassung über die Bedeutung der Aufklärung haben und sie uns gern durch seine „Erleuchtung“ bestätigen lassen — so bekunden wir ein Nahgefühl, das mehr enthält als die Empfänglichkeit für eine Kraftformel, das auch die besondere Tendenz dieses Schwerpunktes schon in sich aufgenommen hat. Wir können — wenigstens in den entscheiden den Augenblicken — nicht anders urteilen, als er urteilt; die Distanz, welche notwendig wäre, um seine Gestalten anderen Wertmassen anzugliedern und die wir bei Homer sehr leicht gewinnen, gelingt uns nicht.

Das fördert nicht nur den Verdacht, dass er seine Wertmaße nicht aus dem Panslawismus holt, sondern zwingt uns die Aufgabe auf, eine enge Analogie zwischen Dostojewskis Weltbild und einem für uns möglichen Weltbild herzustellen. Wir können von ihm lernen, wie sehr das seelische Wohlergehen des Einzelnen von dem großen Willen der Allgemeinheit abhängig ist und erschreckend oft wecken seine Worte in uns eine Wahrheitsempfindung, wenn er die falsche Richtung aufdeckt, welche irgendein russischer Wille einzuschlagen droht. Inwiefern entspricht die Allgemeinheit, mit der er rechnet, unserer Allgemeinheit, ihre Kämpfe unseren Kämpfen? Wir lehnen jedoch den Panslawismus nicht nur in der Synthese, sondern auch in der Methode ab. Und auch wenn wir ihn für weniger falsch hielten: wollten wir in unserer Umgebung nach Anhaltspunkten für die Darstellung eines auch nur vergleichsweise ähnlichen Programms suchen, so kämen wir über die primitivsten Schwierigkeiten nicht hinweg. Der reine Panslawismus steht und fällt mit der Dreieinigkeit: Nationalität-Orthodoxie-Autokratie, mit dem Drang nach Konstantinopel und dem Dogma vom prinzipiellen Unterschied zwischen Russland und Westeuropa, zwischen russischen und europäischen Lebensfragen. Wenn wir vom Panslawismus, wie er zur Zeit Dostojewskis wirksam war, sprechen, dürfen wir nur diese und keine anderen Attribute im Auge haben und wenn wir auf dem Standpunkt bleiben, Dostojewski sei ein Panslaw gewesen, so müssen wir konsequent alles ausmerzen aus seinem Weltbild, aus seinen Äußerungen, was ihnen widerspricht, und das Widersprechende nur als Entwicklungstrübungen verstehen. Es geht auch nicht an, einzelne Merkmale an der panslawistischen Ideologie hervorzuheben — ihren metaphysischen, ihren ethischen, religiösen, nationalen Charakter — um durch den Hinweis auf die metaphysische Dimension die Möglichkeit unseres Interesses zu erklären, das dann eine Art Übung unserer ethischen, metaphysischen, religiösen, nationalen Bereitschaften wäre, unabhängig von den Ideen, welche hier und dort den betreffenden geistigen Raum ausfüllen. Die besondere Bedeutung des Panslawismus hegt nicht in seinen einzelnen Hilfsmitteln, sondern in der Kombination, er ist ein Konglomerat von ethischen, religiösen, nationalen Bereitschaften, von denen ihn keine einzige ohne die Mitwirkung der anderen weder erzeugt noch aufrechterhalten hätte. Nicht dass der Panslaw religiös und national empfindet, kann ihn uns nahe bringen, wenn er dadurch immer nur das Gefühl der Trennung und Feindschaft nährt. Entweder entsprechen nationale, religiöse, ethische Ideen einer lebendigen Wirklichkeit, oder sie können nicht wirksam sein, sondern nur durch etwas anderes in ihnen wirken. Die bloße Neigung zu einer „Richtung“ kann nur den Abgrund weiter klaffen lassen, wenn das Ziel der Bewegung ein feindseliges ist. Und das ganze Problem besteht nur darin: ob dieses Feindselige in Dostojewski lebendig war, dieser Wille, für den wir die slawophilen Dogmen einsetzen können und nichts anderes.

Wenn wir jedoch für die Lebensprobleme unserer Welt eine dem Panslawismus ähnliche Struktur suchen, so kommen wir schon gegen die Schwierigkeit nicht auf, dass uns jedes Äquivalent für diese Extreme fehlt, über welche der Russe sein Weltbild spannt; da uns die Autokratie fehlt, jede Art von Rechtgläubigkeit und selbst ihr Gegenpol, der Nihilismus, ist schon die Möglichkeit des Vergleichs nicht vorhanden. Dostojewski rechnet mit einer Situation, die für uns eine überwundene Periode bedeutet, an die wir uns kaum erinnern. Um bis zum Werke durchzudringen, müßten wir außerdem eine ebenso saubere Parteienordnung einführen und unser Urteil nach rechts und links verteilen. Und hier können wir ihm am wenigsten folgen: wenn er um die Autokratie den Geist des Guten, um die Unzufriedenheit den bösen Geist kreisen sieht. Das widerspricht unserem politischen Gewissen wie ,,Ja“ und ,,Nein“, wir können uns unmöglich zurückschrauben; wenn wir von Erneuerung und Besserung träumen, so schauen wir unwillkürlich nach jener Seite, von der uns eine Empörung entgegenglutet. Wir übersehen eine größere Periode der russischen Geschichte als Dostojewski. Es dürfte jetzt einem Freiheitsapostel, der wirklich mit allen seinen Organen so nach Luft und Licht lechzt, wie Dostojewski, dem ,,Erlösung“, ,,Liebe“ und ,,Schönheit“ keine Umschreibungen sind, sondern wesentliche Bestandteile seines Daseinsgefühls, Keim und Wurzel seiner Gedanken, auch in Russland schon sehr schwer sein, sich den Ausblick auf die Autokratie offen zu halten.

Wir können höchstens Folgendes konstatieren: der einzige Gegenwert, den wir in unserer Umgebung für den Panslawismus finden, ist derartig beschaffen, dass wir uns seine Menschen und Gedanken mit gespreizten Fingern vom Leibe halten. Sie stehen uns ebenso fern, als uns Dostojewski nahe steht. Sie haben mit dem Russen manche Unlogik, Ungerechtigkeit, Überspanntheit gemeinsam — aber nichts anderes, und außerdem fehlen in ihrer Struktur mehrere von jenen Balken, ohne welche der Panslawismus nicht denkbar ist. Wir können uns unmöglich vorstellen, dass sich aus ihrem Geist ein Symbol entfalte, das auch nur annähernd soviel von unserer Sehnsucht weiß, wie die Symbole des Russen.

Bevor wir mit dem Abbau des Widerspruches beginnen, führen wir der Vollständigkeit zuliebe — mag sie in der viel erörterten Frage auch nur schwer zu erreichen sein — einen Gedankengang an, den wir so wiedergeben, wie wir ihn gehört haben, ohne die geringste Verantwortung dafür zu übernehmen, einen ängstlichen, gefährlichen Gedanken, welcher vielen einen Ausweg bot, die durch die Dialektik, die wir entwickeln, sich an die Mauer gedrückt fühlten. Nennen wir sie: Vitalisten. Ihre Meinung geht einfach dahin, dass Dostojewski mit seinen Hoffnungen und Weissagungen über das russische Volk recht hat, dass der Muschik tatsächlich irgendeinmal die Welt beherrschen wird, von der Hagia Sophia oder von einem anderen Throne aus, dass seine Kraft eben darin besteht, dass er noch eine Autokratie, eine Orthodoxie denken kann, als einzig zweckmäßige Lebensform, und im Hasse gegen alle Andersgläubigen und Andersdenkenden leben, und dass es nur ein Symptom unseres Niederganges ist, wenn wir nichts Ähnliches konzipieren können. Eine Statistik über die Bevölkerungszunahme in Russland, auf die alle diese Diskussionen zurückkommen, ist gleich bei der Hand. Die Slawophilen hätten sich nur im Datum geirrt, um einige Jahrhunderte, ein Jahrtausend verrechnet und die Rückschläge nicht voraussehen können, die Kraft unterschätzt, welche noch in der westeuropäischen Kultur liegt. Ein Teil ihrer Prophezeiungen sei schon in Erfüllung gegangen — hat nicht Westeuropa für Russland gearbeitet, indem es sich mit ihm verband, an ihm verblutete? Die größten Niederlagen seien nur ein guter Dünger für die große Geduld der russischen Erde. Alle Argumente, welche die Slawophilen erfinden, seien nur der Ausdruck dieses ungeheuren Lebenswillens, falsch und wahr zugleich, metaphysische Ausschmückungen einer biologischen Notwendigkeit; dort am verlogensten, wo sie eine Vernunft und Ordnung suchen — das Leben werde sie bestätigen und widerlegen, indem es ganz ohne Ordnung emporwuchern wird. Unser Mitgefühl stamme daher, dass sich unsere Sympathie unwillkürlich und zwangsmäßig nach jener Seite neigt, wo wir die stärkere Kraft, die größere Zukunft, das reichere Leben fühlen, dass der Vitalismus, der in uns noch schlummert, gerade noch ausreicht, um uns vom Naturschauspiel seiner schwellenden Gewalt ergreifen zu lassen. Es sei dies ihre stärkste Waffe und unser Todesurteil: dass wir bewundern müssen, was unser Dasein bedroht — wie wir auch den Tiger bewundern, der zum Sprunge ausholt.

Die Kreise, die man von hier aus über die Welt ziehen kann, lassen sich leicht verfolgen. Die Kritik fällt zum Teil zusammen mit der Kritik gegen den Panslawismus, da diese Annahme dieselben Grundvorstellungen unseres historischen Gewissens verletzt — zum Teil ist sie schon in den äußeren Beziehungen zwischen Dostojewskis Politik und Dichtung enthalten: wenn die Gültigkeit des Panslawismus in einer sehr fernen Zukunft und in einer Unordnung liegt, die nichts mit den proklamierten Dogmen gemeinsam hat, so sehen wir Dostojewskis Weltanschauung über eine ganz bestimmte Ordnung und eine ganz bestimmte Gegenwartsempfindung fruchtbar werden, und auch über dieselbe Ordnung und Gegenwartsempfindung auf unsere Seelen übergreifen. Es wird hier nur eine Berufung auf das allgemeinste menschliche Gefühl, das Gefühl der Gefühle, konstruiert, die uns schon verdächtig war, als sie in einer anderen Maske auftrat. Es ist immer der Seitenblick auf Homer, der uns genau so unsicher und zweifelhaft erscheint, als unser Zugehörigkeitsgefühl zum russischen Dichter sicher und fest fundiert, als ein sinnvolles organisches Erlebnis uns entgegentritt. Es könnte höchstens ein laxes, weitherziges Verhältnis sein, das sich zur Repulsion steigern müsste, je enger der Dichter den Knoten seiner Katastrophe schürzt; während gerade in der Peripetie unser Verständnis am stärksten ist und die Distanz sich auf Entwicklungsmomente beschränkt. Das wäre eine seltsame Verirrung unseres Lebensgefühls: dort eine Wahrheit zu halluzinieren, ein Gebot zu empfinden, wo nur die Sicherheit des Aufgefressenwerdens lockt!

Die Auflösung beginnt schon damit: wenn wir aus dem politischen Bekenntnis des Dichters jene Äußerungen auslöschen, welche sich mit der Dreieinigkeit von Uvarovs und Pobiedonoszews Gnaden nicht vertragen, entfernen wir zugleich jene Prinzipien, welche ihm die tiefere Motivierung für den Dualismus Nihilismus — Orthodoxie, Antichrist-Christ liefern, und verlieren damit die leistungsfähigste Brücke zum Werke. Denn mit der begrifflichen Antithese ist noch gar nichts gegeben und sobald wir näher untersuchen, mit welchen Werten er die Begriffskreise ausfüllt, fühlen wir schon die Qual der Entscheidung, gelangen in den Bannkreis jener tieferen Überzeugung, die auch den Fanatiker adelt. Was wir dem Panslawisten Dostojewski, der sich mit Völkerhass und trüben Kriegsplänen belastet, am meisten vorwerfen, ist der innere Widerspruch seiner Anschauung; und was uns am meisten befremdet, wäre, dass diese widerspruchsvolle Wahrheit die somnambule Sicherheit seiner visionären Architektonik halten sollte. Die Wahl zwischen einem unreinen Weltbild und einer unreinen Kunst reduziert sich demnach auf die Wahl zwischen dem einen oder anderen Pol des Widerspruches: die Wahl zwischen Konstantinopel oder dem Allmenschen, zwischen Hass und Liebe. Sollte es uns gelingen, nicht die Liebe, sondern den Hass, nicht den Allmenschen, sondern den Eroberer als Entwicklungstrübung zu verstehen, so wäre der Widerspruch gelöst und wir hätten die Basis für die Begründung des gesetzmäßigen Kräfteaustausches zwischen Weltbild und Kunst gewonnen, an dessen Wirksamkeit wir schon deswegen glauben müssen, weil Idee und Anschauung von derselben Entwicklungsphase des Menschen Dostojewski ausgehen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Dostojewski – Zur Kritik der Persönlichkeit