Das weise Werk

Das Russland, von welchem Dostojewski träumt, ist ein Russland, das nie in die Zwangslage kommen soll, sich dem Urbilde der kapitalistischen Kultur, dem leeren Quadrat mit seinen beliebig und sinnlos fortlaufenden Seiten, anzupassen. Das Russland, das er verlässt, wenn er den Schlusspunkt zu seinen Romanen setzt, ist ein Land, das mit einem Fuß schon im Kapitalismus steht und mit seiner ganzen Attitüde verrät, dass es bald den zweiten Fuß nachziehen wird. Wenn wir uns fragen, welche Lebensform seinen Helden angemessen wäre, nachdem sie nun einmal nicht den Weg in die Gegenwart finden, sei es nun, dass sie sich erhängen oder nach Sibirien kommen, welche diese Linie ist, um die sie kreisen und schwanken, ohne je in sie einlenken zu können — die Antwort wird uns schwer. Aber nicht deshalb, weil uns der Dichter keine Anleitung gibt, sondern weil die einzig plausible Antwort allen Wünschen und Hoffnungen, die wir ihm abgelauscht, radikal widerspricht. Sollen sie sich ,,mit dem Rätsel des Daseins“ abfinden und Gutsbesitzer werden, in irgendeiner Form die patriarchalische Tradition weiterführen? Wir wissen es aus den Schilderungen Tolstois, welche dieselben Probleme, allerdings mit einer milderen Geste, übernehmen, dass sie auch auf ihren Gütern dieselben Sorgen verfolgen, dass sie dort nicht weniger als in der Stadt das unaufhaltsame Vordringen der neuen Zeit verspüren und durch ihre Vorboten in jeder Stunde ihres Alltags, in ihren seelischen Monologen, im Verkehr mit ihren Bauern gestört werden. Da genügt so ein Dampfpflug, eine unschuldige Dreschmaschine, um die schönsten Kartenhäuser über den Haufen zu werfen . . . Dostojewski demonstriert denselben Tatbestand etwas drastischer, indem er in den „Dämonen“ den Helden in einer sachlichen Abhängigkeit von jenen Gewalten zeigt, die er entfesselt. Und auch vor dem Amen seines Lebenswerkes, Aljoscha, welcher die Erde küsst, können wir die Frage nicht abweisen: ist es die Erde, welche der Pflug durchfurchen wird, oder die Erde, die vom Stampfen der Stahlrosse erbebt, die der Spaten des Minensuchers durchwühlt? Um diese Mittellinie nachzuzeichnen, welche alle psychischen Entwicklungen durchzieht, sind gerade die Nebenlichter am wichtigsten. Wer Fürst Myschkin am wenigsten versteht, weil alle diese Dinge, um die er sich quält, ihm nichts anhaben können, ist der General Jepantschin. Der General, der verlegen auf der Terrasse herumgeht, während vor seinen Augen der tuberkulöse Nihilist sich mit dem russischen Christus misst. Der General Jepantschin, der an industriellen Unternehmungen beteiligt ist und nicht einmal mehr mit dem Nihilisten zu paktieren braucht. Es gibt im ganzen Werke keine Kraft, die gleich unbekümmert wäre, ein ähnlich gutes Gewissen hätte, die sich gleich selbstsicher fühlte. Es ist nicht ein Kampf zwischen Myschkin und Rogoshin, was wir erleben, ebensowenig als die ,,Karamasoff“ den Kampf zwischen Iwan und Aljoscha schildern, es ist ein Kampf von Myschkin und Rogoshin um diesen Durchgangspunkt der Realität, den sie beide nicht verstehen, weil er weder mit dem Gott der Rache des Altgläubigen noch mit dem Gott der Liebe des neuen Christus eine Beziehung hat; sie verzehren sich im Kampf mit wesenlosen Feinden. Nastassja Filippowna wird ihnen nicht zum Schicksal, weil sie fatale Kräfte in sich trägt, sondern weil sie beide ein Schicksal suchen; und wenn es nicht eine Kokotte wäre, so wäre es eine alte Pfandleiherin . . . Ganjä kämpft hingegen mit dem „Geist der Zeit“ Auge in Auge, Ganjä, der ehrgeizige Sohn des versoffenen Generals, der seinem Ehrgeiz diese und keine andere Richtung gibt: nach Kapitalien lechzen, das Bündel der Hunderttausend aus dem Feuer holen. Es ist nicht der Geldhunger eines Menschen, der ein schon gegebenes Niveau nach irgendeiner Seite ausbauen, mit Annehmlichkeiten ausschmücken will, wie die kleinen und großen Gauner aus ,,Revisor“ — Ganjä will kein Geld, er will das ,,Kapital“. Damit in einem Menschen vom Spürsinn und der überspannten Wachsamkeit eines Ganjä solche Konflikte und Pläne wachsen können, muss die ganze Struktur der Gesellschaft, in der er lebt und die er bezwingen will, derart beschaffen sein, dass in ihr Raum ist für den Tatendurst des Industriehelden. Ein Streber von Anno dazumal hätte gerade die Kokotte aus seinem Aktionsplan ausgeschaltet. Der Dichter fühlt diese Strömungen, die ihm vielleicht nur halb bewusst werden, so genau nach, dass es ihm nirgends gelingt, sie zu fälschen, so gern er sie auch fälschen möchte. Dem Sohn des Generals weiß niemand Dank für seinen Verzicht und er sich selbst am wenigsten; er ist für diese Zeit geboren und als er es verschmähte, sich niederzubeugen und das Paket Banknoten aus dem Feuer zu holen, beging er keine gute Tat, sondern einen — Fehler; er kommt dann darüber nicht mehr so leicht hinweg. Liegt die Hauptwirkung von Myschkins Abenteuern nicht in seinen Beziehungen zu dieser Ideologie des Geldes? proiziert der Dichter nicht alle inneren Kämpfe seines Helden auf seinen Vermögensstand? können wir nicht auf dieser Skala, auf welcher der Zeiger hin und her wandert, wie an einem Seismographen die Wandlungen seiner Tragödie verfolgen? Warum aber gerade auf dieser Skala? Es gab Zeiten, die sich anders ausdrückten — wie sollte man jene historische Penode nennen, deren Realität immer in einer Zahl gipfelt, die wichtiger ist als etwa der Umstand, dass einer Fürst ist oder eine große Seele, weil er unerbittlich beiseite geschoben wird, wenn er es nicht versteht, nicht die Zahl nach seinem Seelenzustand, sondern seinen Seelenzustand nach der Zahl zu modifizieren ? Und Fürst Myschkin wird beiseite geschoben. Der Dichter muss künstliche Situationen schaffen, damit sich sein Held ausleben könne — zuerst fragt er nicht, wer ihm zu essen gibt, dann fällt ihm eine Erbschaft vom Himmel. Zwischen diesen zwei Extremen liegt der Raum, durch welchen der Atem der Zeit weht, der Raum, in welchen die Duma hineingebaut wurde und in dem sich das Schicksal Rußlands wenigstens für das nächste Jahrhundert entscheiden sollte. Der Dichter schafft künstliche Situationen — aber er weiß, dass sie künstlich sind; das ist seine Mahnung und seine Verzweiflung.

Eine andere Lehre vermögen wir aus seinen Werken nicht zu ziehen. Es ist nicht die Deutung, die wir ihnen geben, sondern es ist die Deutung, die sie selbst aufdrängen, wenn man sich nur an ihre Ausdrucksweise gewöhnt hat. Dostojewski gibt sie ohne die bittere Skepsis der Franzosen, aber in einer Monumentalität, die wie ein Albdruck auf dem Herzen lasten bleibt. Der eisige Schauer einer kosmischen Banalität weht um seine Visionen. Er führt alle seine Menschen an das hohe Ziel heran, in dem er die Aufgabe des Menschengeschlechts erblickt, und sie müssen alles hergeben, was sie in sich haben, was sie fühlen und denken, wissen und ahnen. Und alle ihre Worte fallen auf sie selbst zurück, verlieren sich im Räume, niemals wird das Ziel getroffen. Das ist, was sich der Dichter durch seine Lieder vorsingt, was die große Mühe des Werkes in seiner Seele verankert. Iwan, der die Weltordnung wegen eines gequälten Kindes verflucht, Aljoscha, der Gerechte, können es beide nicht verhindern, dass ihr Vater wegen dreitausend Rubel ermordet wird. Da gibt es den habgierigen Novizen — der wird nach Petersburg gehen, eine Zeitung gründen, einen Palast erbauen. In der übermenschlichen Gebärde, mit welcher Aljoscha die Welt herausfordert, liegt die Erkenntnis, dass es nicht leicht sein wird, den Palast niederzureißen, liegt die Gewaltsamkeit dieser Tragödie, die wir vielleicht nur dann in ihrem vollen Umfang begreifen, wenn wir bedenken, dass es Tausende von Muschiks diesem Palast zu verdanken haben, dass sie den Schnee der Karpathen mit ihrem Herzblut färbten, in die masurischen Sümpfe versanken; oder wenn wir uns daran erinnern, wie es Dostojewski erging, als er den Kampf versuchte — ein halbes Jahrhundert später hallten seine Worte in dem Palaste wieder.


Die Nichtigkeit alles Strebens vor dieser größten Prüfung, die über die Menschheit kommen sollte — es ist das einzige eindeutige moralische Bekenntnis, das wir aus seiner Kunst schöpften. Es ist unmöglich zu erkennen, worin er die Erlösung des Menschen sieht. Es ist seine tiefste Weisheit: dass es keine Erlösung gibt, dass eine schwere Zeit über die Menschheit kommt, dass es für den Menschen besser wäre, einen Stein an der Stelle des Herzens zu tragen. ,,Morgen vielleicht — das Heute gehört dem Antichrist!“ so lautet die vage Verheißung. Das Heute braucht weder Menschen, die Märtyrer ihrer Vernunft, Märtyrer ihres Egoismus, ihres Napoleonstraumes sind, noch Menschen, welche Liebe suchen — es braucht Menschen, die Egoisten sind. Ob die anderen verdammt werden oder erlöst, ist weniger wichtig als die Tatsache, dass sie die Zügel der Welt aus der Hand verlieren. Wenn sie sie wieder ergreifen wollten, so müßten sie Gewalten in Ihre Seelen aufnehmen, welche alle übrigen Regungen bis auf den letzten Rest aufsaugen. Wo wir die handelnden Personen dem realen Leben am nächsten fühlen, vollzieht sich der Übergang immer über einen Mechanismus, der zur Organisation des Geldes gehört. Gruschenka, die ihrem Kaufmann bei der Bilanz hilft, Dmitri, der mit seinem Vater um die Erbschaft streitet, selbst Raskolnikoff, der die Pfandleiherin erschlägt, sind Träger des kapitalistischen Gedankens, der sich im ,,Jüngling“ zur ,,Idee“ erhitzt. Es ist ein zäher Nebengedanke, der parallel zu den großen Abenteuern daneben läuft und wie eine Zange in alle Seelen hineingreift. Was lehrt uns Homer als Mittellinie und Kraftströmung des Lebens erkennen? Den Glauben an die Götter, den großen Stammbaum, den siebenhäutigen Schild. Goethe sagt: Jugendkraft; Schiller: Gedankenfreiheit. Bei Dostojewski behält der Nihilismus das letzte Wort und Nihilismus heißt nichts anderes als: kapitalistische Bourgeoisie. Es ist seine Aufgabe und große Kunst, zu zeigen, warum sich die Menschheit nicht ohne weiteres vor diesen Karren spannen lässt, letzten Endes auch, warum es unmöglich ist, dass dies ihr letztes Wort sei, warum sie auf eine Wiedergeburt hoffen muss. Aber Pjotr Stepanowitsch steigt in den Schnellzug und Stawrogin erhängt sich.

Dostojewski hat den geistigen Hintergrund vor uns entfaltet, aber einen Ausweg hat er nicht gezeigt. Als der Geist der Leere über die Menschheit zog, blieb ihr die Zahl, an die sie sich anklammerte, mit allen ihren Instinkten; eine Zahl ist in ihren Gedanken, eine Zahl in jedem Streben; was nicht zur Zahl werden kann, wird ihr nicht zum Begriff und nicht zum Bilde. Werchowenski ruft über die Leiche Schatoffs hinweg: ,,Die Fünf muss bleiben!“ Er muss diese ,,Fünf“ greifen und fühlen, um seiner Aufgabe sicher zu sein; er könnte leicht vergessen, was sonst an dieser Aufgabe hängt: Gesellschaft und Staat, alte und neue Moral — er ist hypnotisiert von der Zahl. Und sobald etwas geschehen sein wird, was die Zahl von der halben Verpflichtung dieser leeren Begriffe entlastet, wird er sie in andere Werte übersetzen. Sie ist der kürzeste Weg, auf welchem die Seele auf die Welt übergreift; um den zu beschreiten, braucht sich der Mensch nicht mit ,,mystischen Ideen, Überzeugungen, dass der Mensch ewig sei, unsterblich, dass er nicht wie ein gewöhnliches Erdentier nur sein Leben friste, sondern mit anderen Welten und der Ewigkeit verbunden sei , zu überbürden. Das Beste ist, dass er wirklich glaubt, der Mensch sei so ein Erdentier . . . ,,Chacun pour soi et Dieu pour tous.“ Dostojewski behauptet, dass eine Kultur, die sich über diesem Satze aufbaut, nicht lange bestehen kann. Aber die Welt, die er uns zur Weiterbehandlung übergibt, ist die Welt dieser Religion. Um diese Achse hat Dostojewski die unermessliche Fülle seiner Ahnungen rotieren lassen, die alle platzen und ihr Innerstes hergeben, wenn ihre Hülle vom zugespitzten Ende dieser grausam kleinlichen Wirklichkeit durchstochen wird. Es gibt keinen festen Punkt im Wogen und Stürmen, im Sichverknoten und Lösen, im Unter- und Emportauchen der seelischen Strömungen. Es lässt sich viel Schönes herauslesen: dass der Mensch sich erfüllt, wenn er in sich versinkt, wenn er sich an die anderen abgibt, wenn er sich in irgendeiner Quelle der Wiedergeburt tauft — aber bestätigt wird durch das Schicksal seiner Helden nichts von alledem. Es ist ein müßiger Zeitvertreib, mit dieser boite-à-tric für fromme Wünsche zu spielen, wenn man nicht von vornherein den Schlussknoten als das Wichtigste betrachtet. Die Zellen sind zahlreich wie in einem Bienenhaus und in jeder ruht schließlich ein süßer Tropfen, wenn man ihn finden will, wenn man dazu neigt, ein Trostsprüchlein für eine Wahrheit umzutauschen.

Denn obwohl im Dichter eine größere Geduld und Demut waltet als im Politiker Dostojewski, wirkt auch in seinen Visionen etwas von jener Hast nach, welche diesen in der Stunde der großen Not nach einer fälschenden Ideologie greifen ließ. Er muss gleichsam in weitem Bogen der Peter-Pauls-Festung ausweichen, die in seiner Erinnerung lastet, dem zweideutigen Kniefall vor dem Zaren, und jener anderen Peter-Pauls-Festung des Gedankens, die seinen Geist kontaminierte. ,,Bei vollständigem Realismus den Menschen im Menschen entdecken.“ Obwohl er das, was er im Menschen findet, immer nur nach der Entfernung von seinem hohen Ziel beurteilt, von dem aus erst die Selbstvervollkommnung zur Hauptbestimmung des Menschen werden kann, treibt ihn seine Ungeduld, ein absolutes Schema der möglichen Vollkommenheit dort aufzustellen, wo höchstens eine flüchtige Skizze bestehen könnte. Er spielt mit der Möglichkeit eines unveränderlichen, absoluten Maßes, das die seelischen Linien seiner Werke herausbauscht, anschwellen lässt, sodass sie für kurze Strecken erstarren. Aber sie werden immer wieder aufgeweicht und die Entscheidung liegt m einer anderen Sphäre. Es sind Merksteine, mit denen sich der Dichter den Umweg markiert, vor denen er einen Augenblick stehen bleibt, als wären sie schon das Ende, bis ihn sein Instinkt weitertreibt und er wieder auf die Mittellinie zurückfindet. Hier seine Ökonomie suchen, hieße sein Werk spalten, ins Unnatürliche verdrehen. Ein anderes System von „Schuld und Sühne“ als den Gegensatz von freier Menschlichkeit und Nihilismus, der kein persönlicher, sondern ein sozialer Gegensatz ist, hat der Dichter nicht — kann er nicht haben, da jede von seinen Gestalten die Fesseln ihrer sozialen Gebundenheit bis in den Untergang mitnimmt. Er unternimmt Versuche, eine Hypothese herauszuarbeiten, und diese Versuche sind es, die uns verführen, seine Absicht in einer anderen Weisheit zu suchen. Aber er schnellt immer wieder, noch bevor es zu spät wird, vor dem Kompromiss zurück und begnügt sich mit jener bitteren Anschauung der Zukunft, der er flucht, ohne ihr wehren zu können. In seinen großen Romanen ist dieser äußerste Hintergedanke nicht weniger wirksam, als in seinen Jugendschriften, wo ihn die einfachere Anlage deutlicher hervortreten lässt — der reiche Verführer, der sich die keusche Liebe des Beamten kaufen kann („Arme Leute“),der schlaue Streber, der dem Empfindsamen zuvorkommt („Der Doppelgänger“) ; — er ist nur reicher ausgestattet, in größere Zusammenhänge eingereiht. Und da der Dichter um eine präzisere Erkenntnis des Ziels bereichert ist, gelingt es ihm zum Schluss, noch einen Lichtpunkt in die fernste Zukunft hinauszuschleudern. Es ist noch so viel Kraft in seiner Menschheitsliebe, dass sie die Belastungsprobe ertragen wird, dass sie sich einmal emporschwingen wird, geläutert und erleichtert um die überflüssigen Säfte, welche die Prüfung aus ihren Adern pressen wird; aber welches Gewand sie tragen wird, wenn sie ins gelobte Land einzieht, ist Zukunftsgeheimnis. Wir sehen, was sie verliert, um ins Leben zu treten; was sie sich erhalten mag, wissen wir nicht.

Die Zukunft, der er flucht, ohne ihr wehren zu können. Hier sind wir dem psychologischen Tatbestand am nächsten, der uns zeigt, warum die relative Distanz zwischen seinem politischen Programm und dem Grundgedanken seiner Dichtung eine sinnvolle Funktion im Aufbau seines Lebens erfüllt. Ihre Zweckmäßigkeit ergibt sich aus einem menschlichen Gefühl einfachster Art; ein simpler Mechanismus des Selbstbetrugs, wie er im alltäglichen Leben sich oft wiederholen mag, wenn ein Mensch sich vor eine Aufgabe gestellt sieht, deren Bedeutung sein Selbstbewusstsein schwächen könnte, eine weise Blindheit, zu der uns die Natur befähigt hat, um unsere Fähigkeiten zu steigern. Jeder Kampf braucht die Fiktion des Sieges, der endlichen Erfüllung, der Verwirklichung seines Zieles, braucht ein Ziel, das nicht im Unendlichen liegt. Jeder Kämpfer braucht die Überzeugung, dass der Gegner nicht an Kraft und Einfluss zunehmen wird, dass er nicht noch mehr von jenen Werten an sich reißen wird, die von Ihm verteidigt werden sollen; dass sein Kampf nicht zwecklos sei, sondern von einem stetigen Erfolg begleitet. Und dies um so mehr, je mehr der Kampf in die Zelt, die Gegenwart hineingreift. Dostojewski brauchte den Kampf, einen Kampf, der um sehr aktuelle Dinge ging. Die Feinde, vor denen er sein gelobtes Land, sein ,,drittes Rom“ verteidigen musste, zeigten sich schon auf der Straße; und er ging auf die Straße, es war ein Ringen Mann gegen Mann. Er musste im Kampfe leben, weil sich ihm sonst etwas von der Schärfe jener Realitätsempfindung verflüchtigt hätte, die für Ihn den Worten „Erlösung“ und ,,Freiheit“ anhaftete. Seine Gottessehnsucht war immer etwas die Sehnsucht eines Deportierten nach Freiheit, die irdischen Ketten, die er sprengen wollte, erinnerten ihn Immer an die Ketten, deren Narben er an den Knöcheln trug, und die Grenze von Himmel und Erde war ihm immer wie mit Palisaden umzäunt. Er kämpfte nicht um ein unbestimmtes Gut, eine ferne Menschheit, denn er war dem Elend einer ganz bestimmten Menschheit zu nahe gekommen. Er kämpfte um den Alten, der die Nacht hindurch betet, um den hochmütigen Luka Kusmitsch, um den ganzen Ostrogg, er fühlte sie alle hinter sich, in sich und es gab ihm keine Ruhe, denn er wusste, dass sie jetzt noch, in diesem Augenblick, da draußen in Omsk und Semipalatinsk auf Pritschen lagen, Ziegelsteine schleppten, durch die Spießruten gejagt wurden und die Reihe der Pfähle abzählten, während sich vor seinen Augen die „fleischfressenden Lumpen“ breit machten, welche die Quelle dieses ganzen Elends noch um einige Gifttropfen bereichern wollten. Deshalb schmiedete er sich Waffen, mit denen er dreinschlagen konnte, in das Gewimmel des Tages, für den Tag — für einen Zukunftstag, der nicht ganz im Unerreichbaren liege. Deshalb stellte er die Fiktion auf, als ob er die Entwicklung aufhalten könnte, als ob alles, was er sah, nur ein böser Spuk wäre und nicht die Drohung vollenden würde, die es in sich trug. Was ihm als Überhebung vorgeworfen wird, ist nur ein Verzweiflungsschrei.

Und andererseits befähigte ihn gerade die Schärfe der Realitätsempfindung, die er durch den Kampf und die für den Kampf notwendige fromme Lüge in sich nährte, das Werden der Gegenwart in seinen subtilsten Schwingungen zu erfassen, aus denen er viel mehr erkannte, als er sich eingestehen durfte, wenn er nicht seine Sache für verloren geben wollte. Es mag eine Schwäche sein, diese Furcht vor der Erkenntnis, dass sich zwischen ihn und seinen Menschheitstraum noch eine Apokalypse schieben wird. Eine Schwäche, ohne die sein Wille seine beste Gabe verloren hätte: die brennende Unmittelbarkeit. Der höchste Grad von Intensität, den die Sinne eines Menschen einmal erreicht haben, der höchste Grad der Empfindlichkeit und Aufnahmefähigkeit — zu dem streben sie immer wieder hin. Und um diese Verbindung zur Welt stets gleich leistungsfähig zu erhalten, ließ er seine Sinne in der funkensprühenden Atmosphäre des Kampfes leben. Man lese in seinen „notierten Gedanken“, die er sich ohne jeden formalen Zwang, im Selbstgespräch aufschreibt und von denen bezeichnenderweise kein einziger als selbständiger Einfall dasteht, alle wie eine Entgegnung auf einen gefühlten oder tatsächlichen Widerstand, wie Hieb und Gegenhieb in einem bewegten Disput, mit welchem Ingrimm er seine Gegner behandelt, als hätte er sie vor sich: „die Nichtswürdigen“, „die Schurken“, „die Tölpel“. Man frage seinen Freund: ,,Der dritte bemerkenswerte Zug ist natürlich seine lebhafte Zuversicht, mit der er auf die Schnelligkeit und Möglichkeit der Verwirklichung jener Aufgaben vertraute, der Glaube, dass jene Ziele mit Leichtigkeit zu erreichen seien. Das ist gleichfalls auf die Lebhaftigkeit des Gefühls, das ihn erfüllte, zurückzuführen . . . Diese Fähigkeit, glühend zu glauben und zu hoffen, verblieb ihm bis zu seinem Tode. Er ließ sich stets von der Gewalt seines Gedankens hinreißen, und war nahezu fest überzeugt, dass das, was sein geistiger Blick schon so klar sah, unfehlbar und bald sich auch verwirklichen werde ... Es war im Jahre der Bauernbefreiung 1861, in der lichtesten Zeit der Regierung Alexanders II.“ Wenn wir jenen anderen Zug ins Bild hineinnehmen: „Fjodor Michailowitsch suchte stets den letzten und neuesten Charakterzug des Lebens zu erhaschen . . . und war stolz auf ihre richtige Wiedergabe in seinen Werken“, so ist der Kreis geschlossen. Um sich diese Fähigkeit zu erhalten, musste er jenes Feuer schüren.

Sein Menschentum hatte ihn an die äußerste Peripherie des Geschehens gestellt und so weit hinausgeschleudert aus jedem alltäglichen Zusammenhang, dass wenige Zusammenhänge ihm verborgen bleiben konnten. Er war nicht ein großer Künstler, weil er mit politischen Leidenschaften erfüllt war, sondern weil er jederzeit bereit war, für die Erlösung der Menschheit sein ganzes Wesen einzusetzen. Er hat das Geheimnis der Wirklichkeit am unerbittlichsten erhellt, weil er der Wirklichkeit am meisten voraus war. Aber er war auch nicht deswegen ein überflüssiger Dichter, weil seine Leidenschaft manchmal stammelt. Es ist nur eine optische Täuschung, wenn wir uns für feinfühliger oder weiser halten und glauben, seine Mahnung überhören zu dürfen; denn nicht dieses Stammeln war seine Mission, sondern jene tiefere Besinnung, die ihm mehr sagte, als das Bewusstsein seiner Welt vertrug. Von dem Vorgebirge aus, auf welchem er stand, übersah er nicht nur die Konvention von Gestern und Heute, sondern auch die Konvention von Morgen, von seiner Freiheit aus fühlte er den Zwang und die Lüge der Gegenwart und Zukunft und konnte so weit in die Zeiten schauen, dass wir uns in aufrichtigen Stunden gestehen müssen, dass wir bisher nur den kleinsten Teil jener Strecke zurückgelegt haben, die seine Seele durchmaß; dass wir mitten in der Lüge stecken, vor der er warnte. Er hatte eine Sonne geschaut, deren Lichtkreis für keine Form zu klein war, die er in der Welt fand; jedes Wesen und jedes Ding, das er dagegen hielt, musste den falschen Schatten verlieren und sein wirkliches Profil offenbaren, die Lage seiner Organe verraten. Es bleibe jedem das Urteil überlassen, ob nichtrussische Formen diesen Strahlen widerstehen können — jedem, der sich jedoch zuerst um die russische Wirklichkeit bemüht und nicht nur um den russischen Nebel; ob seine Gegenwart nicht auch unsere Gegenwart ist, trotz der fremdartigen Schnörkel, die sie schmücken und trotzdem der Dichter oft das Trennende betont; ob dort, wo er steht, nicht diese trennenden Zeichen von der Leuchtkraft der Symbole aufgesogen werden und ob es nicht trostreicher ist zu denken, dass diese Symbole auch für uns geboren wurden. Russisch waren die Ketten, die um seine Gelenke klirrten, russisch war auch dieses Verhängnis, dass er seine Gedanken einschränken musste, um sie vor fremder Berührung zu bewahren — aber der Zukunftsdrang, der hinter seiner Verneinung sich weithin erstreckt in eine grausame Weisheit und hoffnungsvolle Verheißung, die Erde, die Aljoscha küsst, der Sternenhimmel, zu dem er emporfleht — können wir sie entbehren? Können wir jedoch den Segen übernehmen und der Weisheit ausweichen? Und zwingt uns diese nicht zu sagen: die fatale Entscheidung, vor der seine russische Gegenwart stand, ist nicht weniger unser Schicksal, weil wir ihre Macht etwas früher zu fühlen bekamen, ist viel mehr unsere Qual und Sorge, als es die Sorgen sind, welche aus den ,,Toten Seelen“,*) aus einem Homer oder Shakespeare zu uns sprechen. Wir können und müssen das Trennende vergessen, nicht um dies und jenes von seinem Wissen und Fühlen zu uns emporzuheben, sondern um nicht hinter ihm zurückzubleiben; wir können es — vielleicht auch deshalb: weil dieser größten Prüfung der Menschheit, die er heraufkommen sieht, von den geheimnisvollen Mächten der Weltgeschichte, auf deren guten Willen wir noch immer vertrauen, auch wenn sie uns nur mit der Fratze und dem Schlangenhaar der Erinnyen erscheinen, die Aufgabe zuteil wurde, die Schranken zu untergraben und ihren Zusammenbruch vorzubereiten; vielleicht auch: weil sich die Qual von selbst zu einem Fluch verkrampfte, der stärker ist als sein glühendstes Anathema und der Menschheit die furchtbarste Gelegenheit bot, dass sich sein Gesetz des Blutes erfülle, — ,,nicht der ist stark, der das Blut vergießt, sondern der, dessen Blut vergossen wird.“

Dostojewski untersucht die Massen, die sich von ihrer Verankerung im Weltall losgelöst zu haben scheinen, um sich gegenseitig zu formen und zu durchdringen, und aus der vielfältigen Bewegung, aus der Kombination der treibenden Kräfte lässt er die wirksamste, aktuellste, subtilste Resultante auf sich wirken. Deshalb stehen alle Profile, die er zeichnet, unverrückbar im Raum, obwohl sie nur Durchgangspforten eines chaotischen Werdens sind. Er misst die Formel, die ihm die Gegenwart entgegenbringt, an dem Abstand, der sie von seiner tiefsten Erfahrung trennt: dass der fruchtbare Keim des Lebens, der im Volke schlummert, erhalten werden muss, wenn nicht die menschliche Gesellschaft in hektischer Ratlosigkeit zusammenbrechen soll. Er sieht, dass die Welt sich anschickt, Raubbau damit zu treiben. Das ist die traurige Erkenntnis, die der Dichter vor dem Politiker voraus hat, obwohl beide von demselben Punkt herkommen und sich in dieselbe Dimension entfalten. Was in seiner Seele vorgeht, wenn aus dem Theoretiker, der diese Wahrheit bemäntelt und umschreibt, der Schöpfer wird, der sie bis zur äußersten, quälendsten Konsequenz zuspitzt, ist genau so geheimnisvoll und undefinierbar, wie der Blutstrom, der das „Totenhaus“ umspült. Aber es ist unendlich viel mehr als die Übertragung auf eine ästhetische Kategorie, als die Auflösung des Gedankens zum Bilde. Denn der Gedanke, der aus dem Bilde spricht, ist so verschieden, dass ein geistiges und menschliches Heroentum allgemeinster Art notwendig ist, um die Umwandlung zu vollführen. Zwischen Dostojewskis Wirken und Schaffen erstreckt sich ein ungeheures Feld des Dunkels, der Nacht, der Verschwiegenheit, welches seine Seele durchpilgert, bevor sie in den Tempel eingeht, in dem sie ihr reinstes Opfer darbringt. Wir sehen zwar den Erfolg: dass ihm ein neuer Mut zuströmt, eine bewusstere Kraft, dass der Knoten, der seine Seele hemmt, aufgelöst wird von der Hand einer reineren Erkenntnis; wir wissen, was er alles auf der Wanderung von sich wirft — Konstantinopel und Asien; den ,, Deutschen“, den Katholiken, den Protestanten, das westliche und das östliche Imperium und viele Hoffnungen und Wünsche, viele voreilige und bedingte Konstruktionen, die ihm im grellen Lichte des Alltags als Scheuklappen dienen, und wir wissen auch, dass er jene Werte, die er als Ersatz auflesen möchte, wieder wegwerfen muss. Aber nur wenige Lichter, die hier und da aufglimmen, verraten uns den tatsächlichen Verlauf dieser Entwicklung. Sei es, dass er schmerzlich höhnt: „Die Polizei hätte man requirieren sollen, um die „Ausschreitungen“ des Publikums einzudämmen (das er durch seine Puschkinrede begeistert) — das heißt, natürlich, eine moralische Polizei, eine liberale Polizei. Aber warum denn nicht die wirkliche? Ist doch auch diese bei uns jetzt liberal, sogar durchaus nicht weniger liberal, als die liberalen Herren, die dies Geschrei über uns erhoben haben.“ Sei es, dass er von seinen ,,noch gesuchten Prinzipien mit großer Bestimmtheit und Beharrlichkeit spricht“. Und ein blendender Blitz, der aus grollenden Wolken zuckt: „In diesen wenigen Augenblicken empfinde ich ein Glück, wie man es in normalem Zustande niemals empfindet, und von dem die anderen Menschen sich gar keine Vorstellung machen können. Ich fühle vollständige Harmonie in mir und mit der ganzen Welt, und dieses Gefühl ist so stark und süß, dass man für die wenigen Sekunden einer solchen Seligkeit zehn Jahre seines Lebens, ja sogar das ganze Leben hingeben könnte.“ Dann ist es, als ob dieses allzu große Vertrauen zusammenstürzte, als ob die Wahrheit zu heulen begänne — „plötzlich drang aus seinem offenen Munde ein seltsamer, gezogener, sinnloser Schrei, und er fiel bewusstlos mitten im Zimmer hin.“ Wir können nur ahnen, was es seinen Geist kostete, einen Frieden zu finden, obwohl er dem bösen Nachbar seinen Acker überlassen musste. Aber in diesem Dunkel öffnet sich auch das große Tor, das ihn mit uns und uns mit ihm verbindet.

*) S. Otto Kaus „Der Fall Gogol“. München, Ernst Reinhardt 1912.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Dostojewski – Zur Kritik der Persönlichkeit