Lage zum Hinterland

Das Meer mit seinen Verkehrsbahnen und die überseeischen Länder bilden aber nur einen Teil der Fläche, auf der sich der von einer Seestadt vermittelte Verkehr bewegt. Die von fremden Ländern eingeführten Waren setzen ein Absatzgebiet, die nach jenen hingebrachten ein Produktionsgebiet voraus. Beide werden gebildet durch das Hinterland der betreffenden Küste. Ein solches wird bei sich gleich bleibenden Bedingungen natürlich desto wichtiger sein, je größer es ist. Da sich nun Europa von Osten nach Westen verjüngt, so müsste der östliche Teil der deutschen Küste in dieser Beziehung vor dem westlichen begünstigt sein.

Da aber die Warenüberführung in ein fremdes Land immer mit einer Zollbelegung verknüpft ist, so wird der Produzent, der seine Ware in überseeische Länder ausführen will, dieselbe möglichst innerhalb des Landes, in dem sie produziert ist, ans Meer zu bringen suchen. Andererseits wird eingeführte Ware für den Käufer desto teurer und damit desto weniger absatzfähig, je mehr Zollgrenzen sie passiert. Mit anderen Worten: eine Küste wird immer zum großen Teil auf das ihr politisch zugehörige, also die deutsche Küste auf das deutsche Hinterland angewiesen sein. Deutschlands Gestalt ist aber gleichsam die Umkehrung von der Europas, sie verjüngt sich im allgemeinen in der Richtung von Westen nach Osten. Daraus ergibt sich wieder ein Vorteil für die Plätze der Nordseeküste.


Die Größe des Nutzens, den die deutsche Küste von fremden Ländern erzielt, hängt natürlich ganz ab von dem mehr oder minder freundschaftlichen Verhältnis derselben zu Deutschland; und Städte, die in ihrem Verkehr zu einem größeren Teil auf fremde Gebiete angewiesen sind, werden politische Veränderungen in dieser Beziehung stark fühlen. Ohne auf zahlreiche Fälle aus der früheren Vergangenheit Danzigs und Königsbergs einzugehen, sei nur daran erinnert, welchen Niedergang der Handel beider Städte durch den deutsch-russischen Zollkrieg und durch den Übergang Deutschlands vom Freihandel zum Schutzzoll am Ende der siebziger Jahre erfuhr*). Selbst die Handelsverträge des letzten Jahrzehntes konnten die russische Regierung nicht hindern, die Getreide- und Holzausfuhr ihres Landes von den deutschen Häfen nach den russischen Ostseeplätzen Riga, Rewal und Libau und nach Odessa abzulenken. Wie sehr aber der Mangel eines politischen Hinterlandes fühlbar werden kann, zeigt Memel, das trotz seiner günstigen Lage an der Ausmündung des Kurischen Haffs und am Ende des Njemensystems doch zu keiner Bedeutung gelangen konnte.

Eine Stadt wird ihr Hinterland desto besser ausnützen können, in je besserer Verbindung sie mit ihm steht; heutzutage kann beinahe jeder Ort der Küste mit dem Inneren des Landes durch Eisenbahnen bequem verbunden werden. Libau wurde nur durch seine bequeme Bahnverbindung mit dem Inneren Westrusslands und mit Moskau ein gefährlicher Konkurrent der deutschen Ostseeplätze, und ebenso begann Kiels Aufschwung im Handel mit der Vollendung seiner Bahn nach Altona. Die übrigen hier in Rede stehenden Städte aber hatten ihre Verkehrsbedeutung lange vor dem Gebrauch der Eisenbahnen und verdanken dieselbe, soweit sie vom Hinterlande abhängt, hauptsächlich ihrer natürlichen Verbindung mit demselben durch die großen Ströme, an deren Mündung sie liegen. Nur Lübeck ist bloß durch einen Kanal und durch Landwege mit seinem westelbischen Hinterlande verknüpft.

Jene Ströme sind hinsichtlich ihrer Größe und der damit gewöhnlich korrespondierenden Brauchbarkeit für die Schifffahrt und hinsichtlich der Länder, die sie durchfließen, außerordentlich verschieden und haben dem gemäß auch in verschiedenem Grade vorteilhaft auf die an ihrer Mündung liegenden Städte eingewirkt.

*) Vgl. R. Armstedt, Geschichte der königl. Haupt- und Residenzstadt Königsberg in Pr. Stuttgart 1899 S. 324.

Es kann hier natürlich nur eine kurze Übersicht dieser Verhältnisse gegeben werden.

Nach den „Tabellarischen Nachrichten über die flößbaren und die schiffbaren Wasserstraßen des Deutschen Reiches“ von Viktor Kurs (Berlin, 1894) S. 161 haben die schiffbaren Strecken der hier in Betracht kommenden Stromgebiete innerhalb des deutschen Gebietes folgende Längen:

in den Gewässern östlich des Weichselgebietes: 850,13 km;
im Stromgebiet der Weichsel: 806,20 km
im Stromgebiet der Oder: 2.716,50 km
im Stromgebiet der Elbe: 3.292,31 km
im Stromgebiet der Weser: 1.059,30 km

Der große Unterschied zwischen dem Weichselgebiet und den Gewässern östlich der Weichsel (also hauptsächlich Pregel und Memel) einerseits und den drei Gebieten der Oder, Elbe und Weser andererseits fällt sofort auf. Dieser Unterschied wird noch größer, wenn man erwägt, dass der Pregel nur in seinem unteren Laufe bis Tapiau dem Großschifffahrtsverkehr dient, während der obere Teil von dem genannten Orte bis zum Anfangspunkte der Schiffbarkeit bei Insterburg nur lokale Bedeutung hat. Dazu kommt, dass auf den russischen Teilen der Memel und der Weichsel die Schifffahrt infolge mangelhafter Regulierung mit großen Schwierigkeiten verknüpft ist und verhältnismäßig viel Zeit in Anspruch nimmt*).

Es ist wohl selbstverständlich, dass dieser Unterschied wesentlich zu dem Übergewicht Hamburgs, Stettins und Bremens über Danzig und Königsberg in Bezug auf Verkehrsbedeutung beigetragen hat. In ähnlicher Weise ist Hamburg wieder Bremen und Stettin überlegen, da die Elbe nicht nur innerhalb Deutschlands eine längere schiffbare Strecke hat als die Weser und die Oder, sondern auch noch einen großen Teil des böhmischen Verkehrs beherrscht.

Weiter ist die Beschaffenheit der von den betreffenden Wasserstraßen durchströmten Gebiete wichtig. Ein Kriterium für die Produktionskraft und die Absatzfähigkeit eines Landes haben wir in der Dichte der Bevölkerung. Nehmen wir eine Volksdichtekarte von Mitteleuropa zur Hand, so sehen wir, dass von den hier in Betracht kommenden Strömen Pregel und Weichsel durch nur mäßig bevölkerte Gebiete strömen. Dem entspricht, dass der Güterverkehr auf beiden Flüssen, besonders auf der Weichsel, überwiegend land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse bewegt**). Auch das Verkehrsgebiet der Oder ist zum weitaus größten Teil unter Mittel bevölkert, aber dafür gehören ihm zwei wichtige Dichtigkeitsmaxima an: einmal das der Schifffahrt seit der Fertigstellung des Breslauer Umgehungskanals und des Koseler Hafens***) im vollsten Umfang erschlossene oberschlesische Steinkohlengebiet, und dann, was für Stettin besonders wichtig, ein Teil des Verkehrsgebietes der Reichshauptstadt.

*) D. R. St. 1900, II S. 8 ff.
**) Schwabe, Die Entwicklung der deutschen Binnenschifffahrt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Berlin 1899 S. 101.
***) D. R. St. 1900, II, 10.


Die Weser durchfließt in Hessen, Thüringen, Westfalen und Hannover zahlreiche Gebiete, deren Bevölkerungsdichte über dem Mittel liegt.

Am meisten begünstigt sehen wir aber wiederum die Elbe. Abgesehen von einer kleinen Strecke (etwa zwischen Torgau und Wittenberg) durchfließt sie von ihrer Quelle bis nach Magdeburg ohne Unterbrechung ein reich bevölkertes Gebiet, in dem sogar einige bedeutende Dichtigkeitsmaxima liegen; zuerst das von Prag, dann das des Königreichs Sachsen und schließlich das von Magdeburg. Zum Elbgebiet gehören ferner die Dichtigkeitszentren von Naumburg und Halle, die durch die von Naumburg an schiffbare Saale*) mit der Elbe verbunden sind. Endlich teilt sich die Elbe mit der Oder in den Großverkehr der Reichshauptstadt.

*) Die Saale ist von Naumburg an für Fahrzeuge von 300 t schiffbar. Kurs, Tabell. Nachrichten. Karte 3.

So sehen wir auch in Bezug auf das Hinterland und die Verbindung mit demselben die Nordsee in großem Vorteil vor dem Ostmeer. Dieser Vorteil aber ist tief begründet in der topographischen Beschaffenheit Deutschlands. Für diese ist charakteristisch einmal die allgemeine Abdachung nach Nordwest und dann jene beiden Grundrichtungen, die wir als die herzynische und erzgebirgische oder rheinische zu bezeichnen gewohnt sind. Gerade in den Mittelgebirgen liegen infolge des natürlichen Reichtums derselben an Kohlen und Eisen die meisten Dichtigkeitszentren Deutschlands. Aus diesen heraus suchen sich die Flüsse ihren Weg nach Norden. Während sie aber die Züge erzgebirgischer Richtung durchbrechen, werden sie durch die herzynischen Züge nach Nordwesten gelenkt, so dass jene Richtung für Deutschlands Ströme die charakteristische ist. Vom Meere aus gesehen, schneiden sie gleichsam diagonal nach Südosten in Deutschland ein; dadurch werden große Teile Mittel- und sogar Ostdeutschlands, die der geographischen Länge nach hinter der Ostsee liegen, Hinterland für die Nordsee. Mit den Flüssen haben auch die Landverkehrswege diese Tendenz nach Westen angenommen, und diese ist selbst an den Hauptlinien der Eisenbahn, wenn auch nicht so auffallend wie bei den Flüssen, so doch noch deutlich genug zu erkennen. Endlich wird der Zug des Verkehrs nach Westen noch unterstützt durch die ostwestlich führenden Kanalverbindungen im mittleren Deutschland. Erinnert man sich schließlich noch einmal der Tatsache, dass die Nordsee als das unmittelbar zum Weltmarkt gehörende Meer an sich für den Verkehr verlockender ist als die Ostsee, so ist erklärlich, warum der deutsche Verkehr in dichteren Strömen auf jene trifft, und warum die in den Mündungen von Elbe, Weser und Rhein liegenden Handelsplätze bedeutender sein müssen als ihre Schwestern im Osten.

Dass die bedeutenden deutschen Seestädte im Hintergrunde der großen Buchten liegen, welche die deutsche Küste bildet, dass sie also alle mehr oder weniger die Vorteile der „Meerbusenspitzenlage“ genießen, ist oft ausgesprochen worden und sei hier nur erwähnt. Vom Seeverkehr werden so gelegene Orte aufgesucht, weil er möglichst weit in das Land einzudringen sucht, und der Landverkehr strebt ihnen zu, weil sie für das Hinterland im allgemeinen die nächsten, also die am schnellsten zu erreichenden Punkte der Küste bilden. Noch energischer wird der Verkehr vom Hinterlande auf diese Punkte hingelenkt, wenn zu ihnen natürliche Wege in Gestalt großer Ströme führen; darum liegen auch in denjenigen Buchten der deutschen Küste, in die zwei Ströme münden, zwei Städte von hervorragender Bedeutung, Hamburg und Bremen in der Helgoländer, Danzig und Königsberg in der Danziger Bucht. In besonderem Maße genießen die Vorteile der Meerbusenspitzenlage Hamburg, Lübeck und Königsberg, weil sie nicht nur im Hintergrunde gewöhnlicher Meeresbuchten, sondern im Scheitelpunkte großer Küstenwinkel gelegen sind. Für Hamburg und Lübeck ergibt sich diese Tatsache ohne weiteres, und auch von Königsberg lässt sie sich aussprechen, denn diese Stadt liegt ungefähr an der Stelle, wo die Ostseeküste aus der nordwestlichen entschieden in die nördliche Richtung übergeht. Mit der Winkellage verbindet sich bei Hamburg und Lübeck die Isthmuslage, weil die Scheitel der Winkel, in denen jene Städte liegen, einander entgegengerichtet sind. Die Lübecker Bucht zielt lotrecht auf die Elbmündung, sodass Lübeck von der Elbe bei Geesthacht nur 52 km entfernt ist*), und hat überdies noch eine Fortsetzung in der Stecknitzsenke, die schon seit einem halben Jahrtausend von der Schifffahrt benutzt wird. Durch ihre Winkellage sind Hamburg und Lübeck Brennpunkte für den Verkehr zwischen dem Meer und dem Hinterlande, durch ihre Isthmuslage für den Verkehr zwischen Nord- und Ostsee. Den Hauptnutzen von diesem Isthmusverkehr hatte in alten Zeiten Lübeck, da es Hamburg insofern überlegen war, als es an dem damals verkehrsreicheren Meere und in größerer Nähe der für den Handel hauptsächlich in Betracht kommenden nordischen Länder lag. Als dieser Vorteil mit der Wanderung des Weltmarktes nach Westen Hamburg zufiel, musste diese Stadt Lübeck bald überflügeln. J. G. Kohl bezeichnet in seinem Buche über den Verkehr und die Ansiedelungen S. 392 auch Königsberg als eine Isthmusstadt, H. Bonk tritt aber dieser Ansicht entgegen. Einmal fehle dem Samland ein wichtiger Faktor zum Isthmus, nämlich die Verbindung zweier Länder, und sodann geschehe der Verkehr zwischen Frischem und Kurischem Haff durch Pregel und Deime ohne Umladung, während die echte Isthmusstadt ja erst infolge des Aufenthaltes beim Umladen vom Seeschiff in das Flussfahrzeug oder in das Landverkehrsmittel entstehe**). Wir möchten uns dieser Auffassung anschließen und Königsberg nicht zu den Isthmusstädten rechnen. Dafür hat aber Königsberg noch einen anderen, besonderen Lagevorteil für sich. Es liegt nämlich schon so weit südlich, dass sein Vorhafen Pillau von Norden her gerechnet der erste Mündungshafen der Ostsee ist, der im Winter fast niemals vereist, so dass der russische Warenverkehr während einiger Monate des Jahres trotz alles Sträubens der Regierung den deutschen Hafen benutzen muss.

*) Die freie und Hansestadt Lübeck. Von einem Ausschuss der geograph. Gesellschaft zu Lübeck 1890 S. 26.
**) Dr. H. Bonk, Die Städte und Burgen in Altpreußen etc. S. 232 Anm. 1.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die wichtigsten deutschen Seehandelsstädte