Weltverkehrslage

Wenn wir die von uns betrachteten Städte Seestädte nennen, so ist damit schon ein wichtiges Merkmal ihrer Verkehrslage ausgesprochen. Sie liegen an der Küste, an einem Orte also, an dem der Verkehr gezwungen ist, seine Vehikel zu wechseln. Die dadurch entstehende Verzögerung und der Bedarf zahlreicher Menschenhände, um diese Verzögerung möglichst zu verkürzen, lassen Handelsplätze entstehen. Diese werden desto zahlreicher und desto bedeutender an einer Küstenstrecke sein, je zahlreicher und bedeutender die Handelswege sind, die dieselbe berühren.

Die Nordsee steht nach Norden und — was für den Verkehr wichtiger — nach Süden durch den Kanal in offener Verbindung mit dem Atlantischen Ozean, der noch immer seine Vorherrschaft als Hauptschauplatz des Weltverkehrs behauptet, wenn auch die Anzeichen zu Gunsten des Stillen Ozeans immer häufiger werden. Dadurch nehmen die Städte der Nordsee unmittelbar Anteil an jener Fülle von Beziehungen, die zwischen dem Westrand Europas und dem Ostrand Amerikas bestehen, und die nicht nur einen regen überseeischen Verkehr veranlassen, sondern auch auf den Küstenverkehr außerordentlich fördernd einwirken. Die Ostsee aber ist durch die Halbinsel Jütland vom offenen Ozean getrennt und hat wie in physischer, so auch in verkehrsgeographischer Beziehung einen Binnenmeercharakter. Am deutlichsten kommt der Unterschied beider Meere in der Tatsache zum Ausdruck, dass der Seeverkehr an der deutschen Nordseeküste im Jahre 1898 dem Raumgehalt der Schiffe nach gerade doppelt so groß war, als der an der deutschen Ostseeküste*). Und diese Differenz muss noch größer erscheinen, wenn man bedenkt, dass die ganze Verkehrssumme dort fast ausschließlich von Hamburg und Bremen absorbiert wird, während sie sich hier auf fünf, wenn wir Rostock und Saßnitz **) noch hinzunehmen, auf sieben Plätze verteilt.


*) D. R. St. 1900, II, 38 ff.
**) Der Verkehr von Saßnitz war in den letzten Jahren infolge des gesteigerten Bäderbesuches, besonders durch die Berliner, ein außerordentlich lebhafter.


Eine wesentliche Verbesserung der Weltverkehrslage erfuhren natürlich die Ostseeplätze durch den 1895 vollendeten Durchstich des Kaiser-Wilhelm-Kanals, der den vom Nordmeer nach der Ostsee gehenden Schiffen den zeitraubenden und verhältnismäßig gefährlichen Umweg um das Kap Skagen erspart. Aber natürlich kann eine solche Wasserstraße eine breite Verbindung, wie sie der Ärmelkanal bietet, noch nicht ersetzen. Die durch das zweimalige Durchschleusen der Schiffe entstehende Verzögerung und die Kanalabgaben sind auch noch, wenn auch nur geringe Hindernisse der Schifffahrt. Dazu kommt, dass das Ansegelungsgebiet in der Elbmündung infolge häufiger Stürme nicht allzu günstig ist und dass andererseits gerade in den Monaten der stärksten Ausfuhr, zur Zeit der ostdeutschen und russischen Getreideernte die Witterungsverhältnisse eine Umsegelung des dänischen Kaps gestatten. Infolgedessen wird der Kaiser-Wilhelm-Kanal sogar von einem nicht geringen Prozentsatz der zwischen der Nord- und Ostsee verkehrenden Schiffe überhaupt nicht benutzt. Im Jahre 1898 betrug dieser Teil dem Raumgehalte der Schiffe nach etwa 40%*) , und zwar waren es meist große Schiffe, deren Ladung einen längeren Transport ohne Schaden aushalten konnte, die den Umweg nach Norden vorzogen. In der Tat betrug die Steigerung des gesamten Ostseeverkehrs in den Jahren 1894 — 1898 nur 3.49 %, und wenn wir die des Nordseeverkehrs von 16,74 % dagegen halten**), so muss man wohl den größten Teil jenes Wachstums des Ostseeverkehrs der allgemeinen Verkehrszunahme zuschreiben und kann nur einen kleinen Teil der direkten Wirkung des Kaiser-Wilhelm-Kanals zu gute rechnen***). Bei den Größen unserer heutigen Weltverkehrsbahnen sind so kurze Strecken wie unsere deutsche Küste nur von geringem Einfluss. Nicht weil die Ostseeküste weiter vom Atlantischen Ozean entfernt liegt, hat sie einen bedeutend geringeren Handel als die Nordseeküste, sondern weil diese vor ihr liegt. Dem vom Atlantischen Ozean kommenden Verkehr ist in der Elbmündung zum ersten Male Gelegenheit geboten, tief in das Herz Deutschlands einzudringen, und diese Gelegenheit benutzt er in ausgiebigster Weise. Hamburg würde wahrscheinlich auch dann den weitaus größten Verkehr unter den deutschen Seestädten aufzuweisen haben, wenn die jütische Halbinsel nicht existierte und Nord- und Ostsee ein zusammenhängendes Meer wären.

*) Die Zahl macht nicht Anspruch auf vollständige Genauigkeit. Sie wurde gefunden nach den Angaben der D. R. St. durch eine Vergleichung der Frequenz des Kanals im Jahre 1898 und des Verkehrs der einzelnen deutschen Seehäfen in demselben Jahre mit denjenigen Hafenplätzen, nach und von denen der kürzeste Weg durch den Kanal führt.
**) D. R. St. 1900, II. 39.
***) Ungleich größer ist die strategische Bedeutung des Kaiser-Wilhelm-Kanals.


In früheren Zeiten lagen freilich die Verkehrsverhältnisse an unserer deutschen Küste wesentlich anders. Im späteren Mittelalter hatte der norddeutsche Kaufmann die Aufgabe, den Verkehr zwischen Südeuropa und den nordischen Ländern: Russland, Skandinavien und Dänemark (über Flandern) zu vermitteln. Dafür lagen natürlich die Ostseestädte günstiger als die weiter entfernten westlichen Nachbarorte. Damals war die Ostseeküste der dem Verkehr zugewandte Teil der deutschen Wasserkante. Der Verkehr zwischen England und Südeuropa aber und zwischen England und Deutschland geschah über die dafür äußerst günstig gelegenen niederländischen Städte. So hatte gerade diejenige deutsche Küstenstrecke, die jetzt in Bezug auf den Verkehr die wertvollste ist, damals die geringste Bedeutung. Deshalb spielen in der Geschichte der Hansa die Ostseestädte eine viel größere Rolle als Hamburg und Bremen, und dass Lübeck lange Zeit das Haupt des Bundes war, ist zum Teil eine Folge seiner hervorragend günstigen Lage, zum Teil aber auch nur ein besonders starker Ausdruck für das Übergewicht der Ostseestädte überhaupt. Danzig übertraf z. B. noch im Anfang des 17. Jahrhunderts Städte wie Straßburg, Nürnberg und Breslau*) an Einwohnerzahl und hatte noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts weniger Einwohner als zu jener Zeit: 1625: 75.000 Einwohner**); 1855: 55.076 Einwohner (1858 allerdings schon 76.795 Einwohner***). Ebenso hat Lübeck wahrscheinlich erst in der Gegenwart die Bevölkerungszahl seiner ersten Blüte wieder erreicht (1890 noch 63.590 Einwohner). Der Niedergang des deutschen Seehandels infolge der Umwandlung des Handels innerhalb bestimmter Kulturkreise und auf bestimmten Straßen in einen Welthandel und infolge der isolierten politischen Stellung jener Städte****), sowie der allmähliche Wiederaufschwung desselben zunächst in den Nordseestädten im Wettkampfe mit den holländischen und besonders englischen Nachbarn kann hier nicht näher geschildert werden.

*) Dr. S. Jastrow, Über Welthandelsstraßen in der Geschichte des Abendlandes. Volkswirtsch. Zeitfragen 1887 S. 46.
**) H. Bonk, Die Städte und Burgen in Altpreußen etc. Altpreußische Monatsschr. 1895 H. III. S. 245.
***) Stat. Jahrbuch deutscher Städte. 7. Jahrg. 1898 S. 253.
****) Jastrow, a. a. O. S. 52.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die wichtigsten deutschen Seehandelsstädte