a) Materielle Vorbedingungen des ukrainischen Staates.

Die Geschichte der staatsrechtlichen Bestrebungen eines Volkes verleiht denselben eine moralische Kraft, gibt jedoch keine ausreichende Antwort auf die Frage, ob dieses Volk alle Grundlagen des Staates besitze oder nicht? Im gegebenen Falle lässt sich diese Frage in die Form bringen: Ist die ukrainische Staatsidee realisierbar?

Die Existenzbedingungen eines Staates liegen sowohl in der äußeren Natur (die Größe des Gebietes, seine Grenze, Fruchtbarkeit des Bodens, Reichtümer, Ausgestaltung der Verkehrswege usw.), als auch im Volke selbst (seine Zahl, gemeinsame Sprache, Geschichte, Kultur, Staatentrieb usw.). Ob und in welchem Maße diese Vorbedingungen bei dem ukrainischen Volke vorhanden sind, ist zu untersuchen. Das Gebiet, welches die ukrainische Nation bewohnt, umfasst 850.000 Quadratkilometer, ist also bedeutend größer als Deutschland, Unter allen Vorbedingungen eines Staates spielt die Ausdehnung des Territoriums vielleicht eine größere Rolle, als man überhaupt annimmt. Abgesehen davon, dass viele kulturelle und politische Aufgaben nur einem großen Staate vorbehalten sein können, macht das Bedürfnis, einem größeren Wirtschaftsgebiet anzugehören, die Existenz kleinerer Staaten immer unsicher. Polen und Böhmen machten im Laufe ihrer Geschichte verzweifelte Anstrengungen, ihren Völkern durch die politische Expansion über ihre ethnographischen Grenzen hinaus ein größeres Wirtschaftsgebiet zu schaffen. Vergebens! Das Bestreben der polnischen Könige, die Schwarzmeerküsten zu erobern (und die Ukraine zu annektieren), waren gescheitert, ebenso wie die Bemühungen Ottokars von Böhmen, die Adria zu erreichen (und Österreich zu bezwingen). Beide Völker mussten, um sich alle Vorteile der Zugehörigkeit zu größeren Wirtschaftsorganismen anzueignen, unter fremde
Herrschaft sich beugen. Die Ukraine mit ihrem kolossalen Territorium und der wachsenden Bevölkerung (über 30 Mill.) brauchte dies nicht zu tun. In ihrem eigenen ethnographischen Gebiet ist sie imstande, ein größeres Wirtschaftsgebiet, einen größeren Staat zu bilden. Ebendieselbe Bedeutung hat die Gestaltung der Verkehrswege, die das gegebene Territorium mit dem Weltmarkt verbinden, oder die Gestaltung der Grenzen des Landes, was auf dasselbe hinauskommt. Die oben erwähnten Staaten (Polen und Böhmen) brachen zusammen, weil ihr ethnographisches Gebiet — allzu schwach, um über die anderssprachigen Gebiete zu herrschen — von den Weltverkehrswegen abgeschnitten war. Ein ukrainischer Staat wäre hierzu nicht verurteilt. Fast der ganze nördliche Teil der Schwarzmeerküsten (mehr als 1.000 Quadratkilometer) wird von Ukrainern bewohnt, und die bedeutendsten Flüsse des Landes (Dniepr, Dniestr, Pruth) münden ins Schwarze Meer und verbinden so das Land auch mit dem Mittelmeer. In strategischer Hinsicht sind die Grenzen der Ukraine, die durch die großen Flüsse im Osten und Nordosten, durch die Sümpfe im Norden und durch das Meer im Süden gesichert sind, — ebenfalls günstiger als die mancher anderer Staaten. Noch größere Bedeutung für einen Staat hat die wirtschaftliche Geschlossenheit des Gebietes; auch diese fehlt der Ukraine nicht. Die Ukraine hat den fruchtbarsten Boden in Russland, indem sie zu der sogenannten Schwarzerdzone gehört. Der Anteil des Ackerlandes in dieser Zone schwankt zwischen 32 und 78 Prozent (Gouvernement Cherson), dagegen in dem eigentlichen Russland zwischen 12 bis 43 Prozent. Überhaupt gehört die Ukraine zu den reichsten Weizenländern Europas, die mit den Produkten ihrer Agrarwirtschaft nicht nur die eigenen Bedürfnisse und die von ganz Russland deckt, sondern in beträchtlichem Maße auch Europa versorgt. Auch in industrieller Hinsicht stellt die Ukraine das wichtigste Land unter den Provinzen Russlands dar, indem sie alle Voraussetzungen zur Entwickelung ihrer eigenen Industrie besitzt *). Was z. B. die Kohlenförderung anbetrifft, nimmt die Ukraine den ersten Platz ein. Die Kohle wird in Russland in fünf Revieren gewonnen. Dies sind die Ukraine, Polen und drei im eigentlichen Russland (Moskauer Bassin, Ural und Kaukasus). Die letzten drei jedoch spielen auf dem russischen Kohlenmarkt keine Rolle, infolge der geringen Ergiebigkeit, sowohl wie auch wegen minderwertiger Qualität der Kohlen, und decken nur das Lokalbedürfnis der betreffenden Gegenden. Die gesamte Kohlenproduktion der russischen Reviere betrug 1912 (in 1000 Tonnen):


*) Die nachstehenden Ziffern sind dem englischen „The Russian Year-Book 1914“ entnommen, das sich auf die allerletzten offiziellen statistischen Angaben stützt.

Die Ukraine (Donetz-Bassin) 20.245
Moskauer Bassin 160
Ural 600
Kaukasus 63
Polen 8.000
Zusammen 29 070

Das Donetzkohlenfeld ist das größte in der Welt. Drei Fünftel der von den russischen Eisenbahnen benutzten Kohlen werden vom Donetz-Bassin geliefert. Was die Koks Produktion anbetrifft, so zeigen folgende Ziffern die ganze Bedeutung der Ukraine für Russland in dieser Hinsicht:

Es gab in der Ukraine im Jahre 1912: 1.454 Koksöfen, die 3.000.000 Tonnen per Jahr produzierten, während Ural nur 4.830 und Sibirien bloß 1.300 Tonnen. Die Ukraine ist auch das Hauptzentrum der Roheisenproduktion. Sie liefert 70 Prozent der gesamten Roheisenproduktion des Reiches, die übrigen 30 Prozent verteilen sich auf Ural, Polen, Zentral- und Nord-Russland. 1912 wurden in der Ukraine 2.793.000, in allen anderen Revieren zusammen 1.338.000 Tonnen Roheisen gewonnen. Die Produktion von Eisen und Stahl betrug 1911 (in 1000 Tonnen).

In der Ukraine 1.812
Ural 597
Moskau 152
Wolga 122
Nordrussland 212
Polen 363
Zusammen 3.258

Die Hauptzentren der Manganerze befinden sich im Kaukasus (Gouvernement Kutais) und in der Ukraine (Gouvernement Katerinoslaw).

Das Quecksilber wird ausschließlich aus den vier Gruben des Kreises Bachmut (Gouvernement Katerinoslaw) in der Ukraine gewonnen.

Die größten Salzfelder Russlands (28 Prozent des ganzen Salzgebietes Russlands) befinden sich auch in der Ukraine im Donetzbecken.

Die Zuckerrübe, Tabak und Wein wachsen vorwiegend in der Ukraine. Das Ganze mit Zuckerrüben bebaute Gebiet betrug in der Ukraine 1.808.395 Acres, die Produktion von Zucker 2 Millionen Tonnen. In den ukrainischen Gouvernements Charkow und Tschernyhiw konzentrieren sich 88 Prozent der ganzen Zuckerproduktion des Reiches. Die Hauptanbaugebiete des Tabaks in der Ukraine sind die Gouvernements Poltawa und Tschernyhiw, die über die Hälfte des ganzen russischen Ertrages (3.208.438 Puds) liefern. Die Ukraine verfügt auch über die besten Weindistrikte des Reiches in Podolien, Cherson, Katerinoslaw und Taurien. Diese Ziffern beweisen zur Genüge, dass die Ukraine, die das ganze Russland mit den Produkten ihres Naturreichtums nährt, imstande ist, viele ökonomische Bedürfnisse ihrer Bevölkerung durch in ihr selbst erzeugte Artikel zu befriedigen, damit also ein unabhängiges, geschlossenes Wirtschaftsgebiet zu werden.

Diese Tatsache, sowie auch die oben erwähnte Ausdehnung des Gebietes, die Zahl der Bevölkerung, die Grenzen des Landes und natürliche Verbindungswege mit dem Weltmarkt machen fast alle Voraussetzungen für die Existenz eines Staates aus, sofern sie in dem Lande selbst liegen. Wie steht aber die Sache mit denjenigen Voraussetzungen, die nicht in der äußeren Natur des Landes, sondern im Volke selbst liegen?