d) Die letzten Jahre der nationalukrainischen Bewegung und Österreich.

Die letzten 10 Jahre haben für die Popularisierung der ukrainischen Staatsidee mehr beigetragen, als 100 Jahre vorher. In diesen Jahren wurde die ukrainische Frage wieder zu einem internationalen Problem. Zwei Tatsachen hat sie dies zu verdanken. Die erste war die Umwandlung der nationalen Bestrebungen in der Ukraine zu einer Massenbewegung, die unter dem Einfluss der Ereignisse van 1905 (die russische Revolution) und 1909 (Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich) entstand. Der zweite Umstand war die Zerstückelung des ukrainischen Gebietes zwischen Österreich-Ungarn und Russland. Allerdings existierte diese schon lange, gelangte jedoch erst im zwanzigsten Jahrhundert zu ihrer vollen Bedeutung.

Die russische Ausrottungspolitik in der Ukraine hat im Laufe von zwei Jahrhunderten fast zum vollkommenen Abfall der höheren Klassen von dem Volke geführt, das zum nationalen Tode verurteilt zu sein schien — eine Erscheinung, die fast überall, obwohl nicht in demselben Maße, beobachtet wird, wo ein Volk unter fremder Herrschaft leben muss. (Vgl. u. a. zahlreiche Fälle der Russifizierung des baltischen Adels). Da unter diesen Umständen Träger des nationalen Bewusstseins in der Ukraine das Volk allein geworden ist, konnte die ukrainische Bewegung nicht festen Boden unter sich gewinnen, bevor nicht die unteren Schichten der Bevölkerung im öffentlichen Leben zur Geltung kamen. Dies geschah in Russland — infolge einer verspäteten Entwickelung des Kapitalismus in diesem Reiche — erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Ereignisse von 1905 und 1906 waren in dieser Hinsicht ausschlaggebend. Die Revolution rief die breiten Massen zur Teilnahme an dem politischen Leben des Reiches. Diese hat auch den bisher versperrten Weg der Selbstorganisierung zur Verfolgung der wirtschaftlichen Interessen des Volkes geöffnet. Es entstanden zahlreiche politische und wirtschaftliche Organisationen, (Parteien, Kooperativgenossenschaften usw.), deren Mitglieder sich aus den niedrigsten Schichten der Bevölkerung rekrutieren. Es entstand eine große Volkspresse. Die Vertreter der Bauern und Arbeiter drängten in die öffentlichen Institutionen oder suchten diese zu beeinflussen (Duma, Semstwos usw.). Diese Demokratisierung des Reiches nahm in Südrussland, einem gemischtsprachigen Gebiet, sofort die Form einer Ukrainisierung des ganzen öffentlichen Lebens an. Die Demokratie, der Demos, war doch dort ukrainisch! Es entstehen die ukrainische Volkspresse, die ukrainischen Bildungsvereine („Proswita“), es bilden sich die ukrainischen politischen Parteien („der ukrainische Bauernbund“, „der ukrainische Lehrerbund“ und verschiedene soz. Parteien), die ukrainischen Klubs in der ersten und zweiten Reichsduma, das Land wird bedeckt mit allerlei wirtschaftlichen Organisationen, die ebenfalls meistenteils ukrainischen Charakter tragen, es wird die ukrainische Arbeiter- und Bauernbewegung geboren. Sogar viele Angehörige der halbrussifizierten und halbpolonisierten höheren Kreise in der Ukraine sind zur Nationalität ihrer Großväter zurückgekehrt *). Diese Massenbewegung, die eigentlich schon 1900 — obwohl in illegalen Formen — entstand, hat in den letzten 14 Jahren trotz heftiger Verfolgungen eine kolossale Arbeit in der Ukraine vollbracht, indem sie eine erhebliche Stärkung des ukrainischen Nationalbewusstseins in allen Schichten bewirkte, und die — ein wenig verblassten — ukrainischen Selbständigkeitsgedanken wieder zur lebendigen Forderung in der Ukraine machte.


Um einem nicht Eingeweihten eine Vorstellung von dem Umfange der jetzigen nationalen Bestrebungen in der Ukraine zu geben, seien hier einige Ziffern angeführt, die dem Buche eines bekannten russischen Nationalisten entnommen sind **).

*) Besonders interessant ist die ukrainischen Bewegung unter dem polnischen Adel in der Ukraine, die von W. Lipinski kreiert wurde und in der Ukraine manch eine ihrer Adelsfamilien schon zurückgegeben hat.
**) Vergl. Schtschogoleff, „Ukrainskoje dwischenje kak etap juznoruskago separatisma“, Kiew 1912. (Die ukrainische Bewegung als Abschnitt des südrussischen Separatismus.)


Der wichtigste Verbreiter der ukrainischen nationalen Idee in den Massen war die nach 1900 entstandene ukrainische Presse. Vor diesem Jahre hatte die Ukraine eine solche überhaupt nicht. 1906 erschienen schon ukrainische Zeitungen in Kiew, Katerinoslaw, Poltawa, Lubny, Odessa, Charkow, Mohilew, Petersburg und Moskau. In der Zeit von 1907 bis 1911 erschienen in der Ukraine fünf Volksblätter (außer den für die Intelligenz bestimmten), die unter ständigen Kämpfen mit der Willkür der Behörden in der ukrainischen Bauernbevölkerung (die über 80 Prozent Analphabeten, aufweist) über 8.000 Abonnenten zu werben vermochte. Der ukrainische Dichter Hrintschenko allein hat in acht Jahren 50 Volksbroschüren herausgegeben, die in 200.000 Exemplaren verbreitet wurden. Die ukrainische Übersetzung des Evangeliums wurde in 129.000 Exemplaren in vier Jahren (1906 bis 1910) verkauft. Die Zeitungen waren nach Herrn Schtschogoleff „dem kriegerischen ukrainischen Nationalismus gewidmet und von boshaften Ausfällen gegen, die russische Kultur und das russische Wort erfüllt“. Es gab in der Ukraine 1912 eigene ukrainische Verlagsfirmen in Kiew (mehrere), Kamenetz-Podolski, Charkow, Schytomir, fünf in Petersburg und Moskau und zahlreiche ukrainische Buchhandlungen. Die Gesamtzahl der in Russland in ukrainischer Sprache herausgegebenen Bücher betrug 1909: 191.000 Exemplare, 1910: 196.000, 1911: 600.000 Exemplare.

Die ukrainischen Aufklärungsvereine, die die zweite wichtige Stütze der ukrainischen Bewegung bildeten, konstituierten sich (1906 bis 1908) in folgenden Gouvernements: Katerinoslaw, Schytomir, KamenetzPodolski, Kiew, Cherson, Tschernyhiw, Siedletz, Taurien und Kaukasus. Die Kiewer „Proswita“ allein hat in der Zeit von 1906 bis 1910: 150.000 Bücher verbreitet. Die Arbeit dieser, sowie auch anderer gleicher Vereine lag in der Verlagstätigkeit und in Vortrügen. Wie sehr das ukrainische gedruckte Wort in der Ukraine populär ist, zeigt die Tatsache, dass mehr als 100.000 Rubel in der Ukraine gesammelt wurden zur Errichtung eines Denkmals für den größten ukrainischen Dichter Schewtschenko, von dem der Bauer in der (russischen!) Schule kein Wort hört. Wie sehr das Verlangen nach einer ukrainischen Presse verbreitet ist, beweisen mehrere russische Zeitungen in der Ukraine, die vor kurzem in beiden Sprachen zu erscheinen begannen, unter anderem die offiziösen Blätter des Kiewer, Hadiatscher und Lochwitzer Semstwo.

Der dritte wichtige Faktor der Entwicklung des Nationalbewusstseins im ukrainischen Volke waren die Semstwo (Selbstverwaltungsorgane), besonders aber das sogenannte „dritte Element“ in ihnen, d. h. Agronomen, Lehrer, Ärzte, Tierärzte und andere Funktionäre der autonomen Behörde in der Ukraine. Eine ganze Reihe von diesen Semstwos hat eine Menge ukrainischer Bücher durch eigene Buchhandlungen verbreitet. So z. B. hat auf solche Weise das Charkower Semstwo (um 1910) aus dem ukrainischen Verlag in Petersburg 13.000 Bücher zur Verteilung kommen lassen. Dasselbe war der Fall bei den Semstwos in Cherson, Wierchniednieprowsk (Gouv. Katerinoslaw), Kiew, Wolhynien, Konotop, (Gouv. Tschernyhiw) und anderen. Verschiedene Semstwos sind auch als Befürworter der ukrainischen Sprache als Unterrichtssprache in den Volksschulen bekannt. Mit solchen Forderungen, an die Regierung traten z. B. im Jahre 1911 auf dem „allgemeinen Semstwo-Tage für die Volksaufklärung“ die Vertreter der Semstwos von Charkow, Poltawa und Tschernyhiw hervor. Noch intensiver war die Arbeit des „dritten Elements“. „Bei vielen Semstwo-Ausschüssen sind die ukrainischen Vorträge verschiedener Instruktoren sehr verbreitet und schon zur alltäglichen Erscheinung geworden“, berichtet Herr Schtschogoleff. Einige Semstwos (im Gouvernement Cherson) haben selbst die ukrainische Sprache in den Volksschulen eingeführt.

Die intensivste nationalukrainische Propaganda trieben gewiss die Volksschullehrer. Die Forderung der ukrainischen Volksschule wurde zu einem Kampfesprogramm fast des ganzen Volksschullehrkörpers in der Ukraine, welches dieser bei jedem Anlass — auf den provinzialen, sowie auch auf dem allgemeinen russischen Lehrertage in Petersburg 1912 — aufstellte. Viele dieser Lehrer entwickeln das nationale Bewusstsein ihrer Schüler durch Lesen, Deklamationen und Bücherverteilung, in jeder Stunde ihre Stelle und oftmals sogar die Freiheit riskierend. Viele Anhänger hat auch die ukrainische nationale Bewegung unter der akademischen Jugend (Studenten, Techniker, Alumnen usw.), die 1905 und 1906 eine große Campagne für die Ukrainisierung der drei auf dem ukrainischen Territorium existierenden Universitäten einleiteten.

Die kooperativgenossenschaftliche Bewegung, die nach 1905 einen großen Umfang in den ukrainischen Gouvernements angenommen hatte, wurde sehr bald zum Zwecke der ukrainischen nationalen Propaganda benutzt und zwar geschah dies — und geschieht noch jetzt — durch die Presse, durch Vorträge und dergleichen. Herr Schtschogoleff berichtet, „dass einige Produktivgenossenschaften Podoliens ausschließlich die ukrainische Presse abonnierten. Eine ganze Reihe der Dorf-Kooperativen in den Gouvernements Poltama, Tschernyhiw und Kiew waren Subabonnenten der ukrainischen Fach- und allgemeinen Zeitungen.

Die ganze ukrainische Bewegung war gewiss keine rein kulturelle, vielmehr auch eine politische. Die politischen Parteien entstanden in der Ukraine schon in der vorrevolutionären Zeit und stellten sich schon damals an die Spitze der großen Massenbewegungen, wie z. B. die „Revolutionäre Ukrainische Partei“, die 1902 die große Bauernbewegung im Gouvernement Poltawa und Charkow leitete, die zum Vorspiel der russischen Revolution wurde. Nach 1905 entwickelt sich das politische Leben der Ukraine auf dem legalen Wege: in der ersten und zweiten Duma hatten die Ukrainer ihre eigenen Klubs.

Die rasche Verbreitung der ukrainischen Idee, die nicht nur die Massen des ukrainischen Volkes für sich zu gewinnen begann, sondern auch zahlreiche Adepten in den halbrussifizierten und halbpolonisierten höheren Gesellschaftskreisen fand, erregte ernste Besorgnis zuerst seitens der Regierung und dann aller Schichten der russischen Bevölkerung. Wenn auch nicht die derzeitige Stärke der Bewegung selbst, so gaben doch deren Tendenzen Anlass zu solchen Besorgnissen. Die Ziele der ukrainischen Bewegung waren: die freie kulturelle Entwickelung des Volkes und wirtschaftliche Emanzipierung des Landes von der Ausbeutung durch das russische (auch französische und belgische) Kapital bzw. diese Staaten; das Mittel dazu Autonomie des Landes. Diese Forderung der Autonomie der Ukraine wurde noch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von den Ukrainern (besonders von dem bedeutenden Gelehrten Prof. M. Drahomanow) aufgestellt; aber erst im zwanzigsten Jahrhundert wird dieses Programm in den breiteren Schichten der ukrainischen Gesellschaft populär, indem es auf den verschiedenen Kongressen, in der Presse und von den ukrainischen politischen Parteien und ukrainischen Klubs in der Duma verkündet wurde. Für Russland bedeutete die Verwirklichung des Programms der ukrainischen Autonomisten die eventuelle Zurückdrängung der russischen kulturellen Einflüsse hinter Don und Sejm einerseits, andererseits den Verlust eines kolossalen Ausbeutungsgebiets, mit dessen Kräften der moderne russische Staat sich nährt. Diese logischen Konsequenzen einer eventuellen erfolgreichen ukrainischen Bewegung trieben alle bedeutenden russischen Parteien in allem, was die Ukraine anbelangt, in das Lager der Regierung und der Nationalisten. Die Rückwirkung dieser Tatsache war die Wiederbelebung der separatistischen Strömungen in der Ukraine, die weder vom alten noch vom liberalen Russland noch etwas zu hoffen hatte und die von den herannahenden internationalen Konflikten die Erlösung der Ukraine von Russland erwartete. Die separatistischen Strömungen, zuerst schwach, von den „Autonomisten“ und Sozialdemokraten bekämpft, gewannen rasch Boden unter den Füßen *). Es entstand eine separatistische Literatur, einige Zeitschriften in der russischen Ukraine stellten sich in den Dienst dieser Idee und im März 1911 fanden schon auf den Straßen Kiews und Charkows die ersten separatistisch-austrophilen Demonstrationen statt.

*) Der erste Versuch, ein separatistisches Programm zu begründen, wurde auf dem ukrainischen Jugend in Lemberg 1913 von dem Verfasser gemacht, wo er zum Vortrage über die politische Situation eingeladen wurde. (Vergl. D. Donzow, „Sutschasne politytychne poloschenie nacyi in naschni zawdania“. — „Die gegenwärtige politische Lage der Nation und unsere Aufgabe“, Lemberg 1813.)

Die besondere Gefährlichkeit der ukrainischen Bewegung für Russland, die den russischen Liberalismus zwang, sich dagegen zu stemmen, wird dadurch erklärt, dass ein Teil des ukrainischen nationalen Gebietes in dem Bereich Österreich-Ungarns liegt. Eben diese Tatsache hat die Formierung einer separatistischen Ideologie in der Ukraine ungemein beschleunigt. Die Geschichte wollte es, dass ein Stückchen des ukrainischen Territoriums der Vergrößerungsgier der Moskowiter entgangen war und sich innerhalb der Grenzen der Habsburgischen Monarchie befand. Die österreichische Staatsidee musste, um mit sich selbst nicht in Widerspruch zu geraten, ihren vier Millionen Ruthenen die Möglichkeit freier nationaler Entwickelung gewähren. Besonders seit 1900, als durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes die breiten Massen des ruthenischen Volkes in Österreich zur Geltung kamen, — machte die nationale Entwickelung der österreichischen Ruthenen bedeutende Fortschritte. Es entstanden mehrere neue ukrainische Volks- und Mittelschulen und Lehrkanzleien an der Lemberger Universität, die Forderung einer selbständigen ukrainischen Universität wurde aktuell, es entstanden zahlreiche ukrainische volkswirtschaftliche Vereine, im Landtage und Parlament gewann die ukrainische Vertretung die Bedeutung eines wichtigen Faktors des politischen Lebens.

Die Erhebung der galizischen Ruthenen fand im weiten russischen Reiche lauten Widerhall. Die ukrainischen Bücher aus Galizien kamen nach der russischen Ukraine und weckten dort das halberstickte Nationalbewusstsein des ukrainischen Volkes. Die nationale Entwickelung der österreichischen Ukraine wurde ihren russischen, jedes nationalen Rechtes beraubten, Volksgenossen zum Vorbild und zum Beweis, dass das ukrainische Volk zu einem selbständigen Leben sehr wohl fähig sei, und es zu erlangen wagen dürfe. Dort aber — in Russland ist die Frage einer nationalen Absonderung des ukrainischen Volkes, das jetzt über 20 Millionen zählt, — eine Lebensfrage des ganzen Russentums. Russland erkannte bald, dass jeder Fortschritt der Ruthenen in Galizien die ukrainischen Absonderungsbestrebungen in der Ukraine ungemein stärken müsse. Um der ukrainischen. Nationalidee in Russland einen entscheidenden Stoß zu versetzen, musste man sie auch in Galizien zu ersticken trachten. So wurde die Eroberung Galiziens zum Programm des russischen Nationalismus. Auf solche Weise wurde die ukrainische Frage zu einer internationalen Frage, deren Lösung von der Stärke Österreich-Ungarns und seines Verbündeten einerseits, Russlands und seiner Verbündeten andererseits abhängt.

Am krassesten hat die ganze Tragik der ukrainischen Frage für die beiden zuerst interessierten Mächte der russischnationale Schriftsteller L. Woronin im „Deutschen Volksblatte“ (1914) ausgedrückt: „Wir können nicht — schrieb Woronin wenn wir nicht Selbstvernichtung treiben wollen, untätig zusehen, wie unsere 28 Millionen Kleinrussen von Galizien aus langsam, aber sicher das sie uns entfremdende nationalistische Dogma annehmen. Andererseits könnte Russland, wenn es von Österreich die Russifizierung Galiziens fordern würde, keine andere Antwort, als ein entschiedenes „Nein“ erwarten. Darin liegt die Tragik des Verhältnisses. Solange es für Russland in Kiew und Poltawa keine Ruthenen oder vice versa für Österreich in Galizien, Bukowina und Ungarn keine Russen gibt, solange ist an ein Schwinden des Gegensatzes nicht zu denken. Da aber nicht erhofft werden darf, dass Österreich oder Russland ihre Standpunkte jemals freiwillig ändern, so ist es klar, dass sich eine Perspektive voller Besorgnisse eröffnet.“

Eben diese „Perspektive“ förderte den ukrainischen Separatismus in Russland. Einerseits hofften die russischen Ukrainer im Habsburgerstaat einen desto mächtigeren Verbündeten für ihre Bestrebungen zu finden, da ihn zu dieser Rolle die ganze oben geschilderte politische Lage — sogar gegen seinen Willen trieb. Andererseits spitzte die unverschämte russische Propaganda in Galizien — die zur Notwendigkeit für den russischen Staat wurde die russisch-österreichische Verstimmung bedeutend zu. Die Unvermeidlichkeit eines Konfliktes wurde immer klarer, was gewiss die Stärkung der separatistischen Strömungen in der Ukraine nur beschleunigen konnte. In derselben Richtung wirkten auch immer größere Konzessionen, die der österreichische Staat den nationalen Forderungen seiner Ruthenen machte, und die eine starke Anziehungskraft auf die russischen Ukrainer übten. Aber auch für die österreichischen Ruthenen wurde eine Politik, die auf die Lostrennung der ukrainischen Gebiete von Russland abzielte, zu einer Notwendigkeit. Die stetige Einmischung Russlands in die inneren Angelegenheiten Galiziens, das Säen der Anarchie im Lande, die offen verkündeten Absichten, die ukrainischen Gebiete Österreichs zu annektieren, — machten jede kulturelle und politische Eroberung der österreichischen Ruthenen unsicher, bevor nicht den russischen Intrigen die Spitze abgebrochen war. Dies war aber nur durch die Losreißung des ganzen ukrainischen Territoriums vom russischen Staate zu erzielen. Die österreichische Politik bewegte sich anfangs in ganz anderem Ideenkreise, der den ukrainischen staatsrechtlichen Aspirationen nichts weniger als freundlich war. Die jagiellonische Idee war es eher, die in den offiziellen und nicht offiziellen Kreisen Österreichs bis in die letzten Zeiten hinein Popularität genoss. Anders könnte es eigentlich auch nicht sein. Die Polen waren das stärkere und kulturell höher entwickelte Element in Galizien. Also schon die Rücksichten der inneren Politik zwangen die maßgebenden Kreise, gerade mit ihnen im Frieden zu leben. Diesen inneren politischen Bedürfnissen wurden auch die galizischen Ruthenen geopfert, die in die Stellung einer minderwertigen Nation zurückgedrängt waren. 1906 war aber der Zeitpunkt, wo diese für die Ruthenen wenig erfreulichen Verhältnisse sehr rasch sich zu ändern begannen. Die Erhebung der Ruthenen störte das schon seit 40 Jahren existierende galizische Gleichgewicht. Der schnell emporkommenden Nation musste man Zugeständnisse machen, was selbstverständlich nur auf Kosten der bisherigen Machthaber in Galizien, der Polen, geschehen konnte. Dieser letztere Umstand hat zwischen Wien und Polen eine Verstimmung hervorgerufen, die einige polnische Parteien (Allpolen, Podoliaken) sogar zur Neuorientierung ihrer ganzen Politik veranlasste, die sich nun dem Dreibunde durchaus feindlich verhielt und eine Annäherung an Russland suchte. Diese Umstände — das Erstarken des ukrainischen Elements dessen Bedeutung für die Monarchie in Anbetracht der rasch steigenden ukrainischen Bewegung in Russland immer klarer erkannt wurde, die drohende Haltung Russlands und die Umstimmung im polnischen Lager haben wichtige Konsequenzen gehabt. Neben der alten jagiellonischen Idee, beginnt auch die neue ukrainische Staatsidee in den politischen Kreisen Österreichs Raum zu gewinnen.

Früher hatte das nicht geschehen können. Und zwar nicht nur wegen der relativen Schwäche der ukrainischen nationalen Bewegung. Bis zu den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren die Gedanken der Lenker der Monarchie nach einer anderen Seite gewendet, nach Italien und Deutschland. Nach 1878 glaubte Österreich seine historische Mission im Süden zu finden, und erst in den letzten Jahren, nach der Erstarkung der Balkanstaaten (besonders nach 1912) und bei der immer klarer werdenden Unvermeidlichkeit eines Krieges mit Russland, gewinnt die ukrainische Staatsidee ihre Anhänger in der Habsburger Monarchie. Für diese Idee interessierten sich alle diejenigen, die an den großen Kräften der Monarchie nicht zweifelten, und an ihre Mission glaubten, ein Organisierungszentrum für alle Slawen abendländischer Kultur zu werden. Durch seine innerpolitische Entwickelung ist Österreich-Ungarn allmählich zu diesem Zentrum geworden. Die nationale Freiheit seiner Völker, die allmählich zum Ziele und zur Aufgabe der Habsburgischen Staatsidee wurde, konnte nicht ohne Einfluss auf die politischen Sympathien der russischen Nationalitäten (besonders der Ukrainer) bleiben, die freie Volksgenossen in Österreich hatten, in Russland aber in einer Nationalknechtschaft schmachteten. Dieser Umstand stellte der österreichischen Politik eine große Aufgabe, die aus der ganzen Lage mit solcher Notwendigkeit sich entwickelte, dass sie sogar von den Gegnern Österreichs als etwas Selbstverständliches wahrgenommen wurde. In den Memoiren des Grafen N. Ignatieff heißt es: „Wenn Österreich-Ungarn irgendeinmal es gelingt, die Serben und Bulgaren in politischer, wirtschaftlicher und militärischer Beziehung in seine Hände zu bekommen, die sich auf ihre natürlichen magyarischen Verbündeten stützenden Polen und die Tschechen sich näher zu bringen, dann wird Wien an der Spitze der uns feindlich gesinnten slawisch-katholischen Föderation stehen, die Rolle Russlands wird in Europa ausgespielt und an unserer Westgrenze werden ernste Gefahren entstehen. Polen wird wiederhergestellt und in die österreichisch-slawische Föderation einbezogen, und die Frage von der autonomen Lage Litauens und der baltischen Provinzen, vielleicht auch Kleinrusslands wird angeschnitten werden.“

Der am 28. 06. 1914 verübte abscheuliche Mord hat der ukrainischen Staatsidee einen schmerzlichen Stoß gegeben, der in beiden Teilen der Ukraine mit Entsetzen und tiefem Bedauern empfunden wurde. Aber die Pläne Russlands, das die Hand des Meuchelmörders lenkte, der ukrainischen Staatsidee in Österreich den Boden zu entziehen — konnten auch dadurch nicht verwirklicht werden. Diese Idee, die für Bunsen ein schönes Traumgebilde war, auf dessen baldige Realisierung er selbst nicht viel Hoffnungen setzte, die für Bismarck-Hartmann eine Notwehrmaßregel zur Erhaltung des europäischen Gleichgewichtes war, ist für Österreich ein Gebot der Selbsterhaltung geworden. Die letzten Jahre der ruthenischen Politik Österreichs (die ruthenische Universitätsfrage, die galizische Wahlreform usw.) zeigen deutlich, dass dieses Gebot sich seinen Weg zum politischen Bewusstsein jener Kreise, die an die Größe und glänzende Zukunft der Monarchie zu glauben nicht aufhörten, allmählich aber sicher bahnte. Zahlreiche Zeitungsartikel und Bücher (z. B. „Groß-Habsburg“), die diese Idee popularisierten, machten auch die breiteren Schichten der Gesellschaft mit ihr vertraut. Die russische und polnische Presse kommentierten bei jeder Gelegenheit die Pläne „Wiens“, auf den Trümmern Russlands einen ukrainischen Staat zu errichten, — ein Beweis, wie tief diese Idee — als eine historische Notwendigkeit — sogar von ihren Gegnern empfunden wurde.

Nach ihren Wandlungen, ist die ukrainische Staatsidee im XX. Jahrhundert wieder zur internationalen Frage geworden, deren eine oder andere Lösung, — ebenso wie 1709 — das Schicksal Europas auf Jahrhunderte hinaus bestimmen wird. Nicht nur das politische Gleichgewicht im Osten, sondern das von ganz Europa hängt von der Lösung dieser Frage ab.*)

*) Der Mangel an der dem Verfasser zur Verfügung stehenden Zeit, sowie auch an der entsprechenden (französischen und englischen) Literatur, hat ihn verhindert, auch die Stellungnahme Englands und Frankreichs zu der ukrainischen Frage hier zu erörtern. Aber schon die vom Verfasser der Broschüre benutzten Quellen lassen mit einer großen Wahrscheinlichkeit vermuten, dass die volle Bedeutung der ukrainischen Staatsidee für die Grußmachtstellung Russlands auch den Kabinetten von London und Paris, besonders zur Zeit des Krimkrieges nicht ganz unbekannt war. U. a. ist es höchst interessant, dass schon zur Zeit Chmelnytzkis gerade die englische Presse war, die Ukrainer vor einem Bündnis mit dem Moskowiterreich am ernstesten warnte!