b) Ideelle Vorbedingungen des ukrainischen Staates.

In dieser Hinsicht stellen sich die Ukrainer einem unvoreingenommenen Beobachter als ein Volk dar, das seine eigene, vom Westen übernommene Kultur, eigene Sprache, ein starkes Einheitsgefühl und einen mächtigen Absonderungstrieb hat, und dass ein Gebiet bewohnt, dem nur eine brutale Gewalt den Schein eines russischen Landes gegeben hat.

Es ist grundsätzlich falsch zu behaupten, dass die ukrainische Nation mit der russischen vollkommen verschmolzen ist. Wir haben gesehen, dass in der Ukraine am linken Ufer eigentlich erst von 1734 ab das Russifizierungssystem eingeführt wurde; am rechten Ufer noch später, nämlich 1793, erst nach der dritten Teilung Polens. Doch für ein Russifizierungswerk war es eigentlich keine genügende Zeit, wenn man die Zähigkeit des Volkes berücksichtigt. Zur Zeit der Annektion aber war die Ukraine nichts weniger, als russisch. Sie war damals im Gegenteil ein typisches Stückchen Land von Westeuropa, dem byzantinisch tatarischen Moskowiterreich vollkommen fremd. Das war besonders in den politischen Einrichtungen der Ukraine bemerkbar. Das moskowitische Reich war eine despotische Monarchie, die Ukraine von aristokratisch-republikanischen Tendenzen tief durchdrungen. Diese Tendenzen offenbarten sich schon am Tage des Abschlusses des Perejaslawer Vertrages. Die Ukrainer begnügten sich nicht damit, ihrem neuen Herrscher den Treueid zu leisten, sie forderten vielmehr auch die russischen Bojaren auf, im Namen des Zaren dem Lande den Eid zu leisten, dass sie seine Rechte wahren wollten, eine Forderung, die den moskowitischen Begriffen von „Souverän und Untertanen“ vollkommen unverständlich war und die fast zur Abbrechung der Verhandlungen führte. Nicht weniger gab es Zwistigkeiten zwischen den russischen Gesandten und den Ukrainern, die statt als „treue“ („wirni“) „freie“ („wilni“) Untertanen schwuren. Diesen ihren Vorstellungen von dem Wesen der monarchischen Gewalt blieb die Ukraine immer treu, bis zu ihrer gänzlichen Niederringung. Noch drastischer, als in den politischen Anschauungen., stoßen sich diese zwei Welten — die Ukraine und das Moskowitertum — in der Kirchenfrage. Die ukrainische, in abendländischer Kultur ausgebildete Geistlichkeit konnte nie die russische caesaro-papistische Orthodoxie anerkennen, und ganze Jahrzehnte weigerte sie sich hartnäckig, die Obergewalt des moskowitischen Patriarchen (nachher des Synods) über sich anzuerkennen, bis es Peter I. mit Hilfe des Sultans gelang, den Konstantinopeler Metropoliten zu zwingen, auf seine Oberhoheit über die ukrainische Kirche zu verzichten. Überhaupt hat der ukrainische Klerus nur unter der Bedingung das geistige Oberhoheitsrecht Moskaus anerkannt, dass alle Geistlichen, in der Ukraine durch Klerus und Zivilbevölkerung frei gewählt wurden. Eine freie autonome Kirche — die Devise der Ukrainer — war dem moskowitischen Caesaro Papismus ebenso fern, wie sie den kirchlichen Einrichtungen des Westens ähnlich war. Selbst die Lehre der ukrainischen Kirche hielt man in Moskau für Ketzerei. Den Anschauungen der Moskowiter war die Ukrainische Kirche überhaupt, die theologische Akademie Kiews insbesondere schon längst des Latinismus verdächtig. Die ukrainische Kirche — sprach man dort — habe sich der Union zugewendet. In der Akademie wurde nach lateinischen Büchern gelehrt. Die Kirchenbehörde in Moskau verbot, Kiewer Geistliche ohne vorhergehende „Besserung“ in die Gemeinschaft der Rechtgläubigen aufzunehmen. Es war in Moskau unter Androhung bürgerlicher und kirchlicher Strafen verboten, Bücher des Kiewer Druckes zu kaufen.


Was die soziale Organisation anbetrifft, war die der Ukraine ebenfalls der westeuropäischen von damals sehr ähnlich. Die russische Gesellschaft des XVII. Jahrhunderts wurde von oben bis unten durch eine starke Staatsgewalt zusammengehalten und stützte sich auf die Zwangsorganisation der sozialen Gruppen. In Russland gab es zwischen dem Staate und der Bevölkerung noch keinen festen Kitt, der beide Elemente so zusammenhielt, wie dies in Westeuropa zu beobachten war. In der Ukraine dagegen gab es schon mächtige Stände, die ihr eigenes politisches Dasein führten: die unabhängige Grundbodenaristokratie (der zukünftige Adel), der halb abhängige Bauernstand und freie Städte. Die oberen Schichten besaßen hoch entwickelte Standesinteressen und Rechte, waren nichts weniger als ähnlich den russischen „zarischen Knechten“, wie jene sich selbst nannten, diesen Scharen ohne jedes Ehrgefühl und ohne jede Standesorganisation. Besonders die ukrainischen Städte wiesen auf den westeuropäischen Ursprung der ukrainischen Zivilisation hin. Die russische Stadt war nicht das natürliche Produkt des wirtschaftlichen Lebens. Bevor die Stadt für die Bevölkerung nötig wurde, bedurfte ihrer die Regierung. Die Stadt war ein administratives und militärisches Zentrum. In ihrer Bevölkerung herrschten Beamtentum und Militär vor. Unter solchen Bedingungen konnte die städtische Bevölkerung sich nicht zum selbständigen Element entwickeln *). Anders war es in der Ukraine. Die ukrainischen Städte waren wirkliche Städte im europäischen Sinne des Wortes, deren Einwohnerschaft nach vielen Tausenden sesshafter Menschen zählte. Die Bevölkerung der ukrainischen Städte war in einer unabhängigen Kaste organisiert und wurde von dem Magdeburgischen Rechte regiert. Ebenso war das Bildungswesen in der Ukraine nach westeuropäischem Muster eingerichtet und stand bedeutend höher als in Moskau.**) Byzanz und die Tataren haben die Berührung Russlands mit Westeuropa ungemein erschwert.

*) Vergl. Prof. P. Miljukoff, Skizzen der Russischen Kulturgeschichte I, Leipzig 1898
**) Der Archidiakon Peter von Aleppo, der 1653/1654 in der Ukraine reiste, schreibt in seinem Tagebuch: „In dem ganzen Lande der Ruthenen haben wir seine sehr interessante Tatsache beobachtet, die unsere Bewunderung erregte; alle, mit kleinen Ausnahmen, sogar die Mehrheit ihrer Frauen und Töchter, können lesen und wissen die Ordnung des Gottesdienstes und die Kirchenlieder; außerdem lehren die Geistlichen die Waisen. Die Kinder können alle lesen.“


Die Ukrainer waren — im Gegenteil — schon seit dem IX. und X. Jahrhundert und dann unter Polen in stetem Kontakte mit dem Westen und Rom, dessen Religion sie fast alle im XVII. Jahrhundert angenommen haben. Die Ukrainer hatten schon im XVII. Jahrhundert viele Schulen für die Kleriker, eine Hochschule in Kiew, auf der u. a. die lateinische und die griechische Sprache studiert wurde. Dagegen war in Russland das Lateinische, die Weltsprache, das Idiom der Wissenschaft, bis in die spätere Zeit unbekannt. Die ukrainische Geistlichkeit stand in theologischer und allgemeiner Bildung höher, als der russische Klerus; manche ukrainische Geistliche hatten Studienreisen nach Westeuropa gemacht, waren in Rom und Paris gewesen. In Russland aber galt alles „Westliche“ als „teuflisch“. Während die Hetmans ihre Paläste und Kirchen mit den Gemälden westeuropäischer Maler schmückten, während die Malerei und Musik in der Ukraine blühten, wurde 1640 in Russland ein Ukas herausgegeben, demzufolge überall im ganzen Reiche musikalische Instrumente vernichtet werden sollten. Besonders stark tritt zwischen Russland und der Ukraine der Unterschied in der Psychologie der Gesellschaft hervor, derjenige Unterschied, der überhaupt zwischen den West- und Ostvölkern bemerkbar wird. Auf einer Seite die Aktivität einer ihrer Rechte bewussten, in ihren Kräften nicht gebundenen Gesellschaft, auf der anderen Trägheit, Mangel an Oppositionsgeist, orientalische — fast asiatische passive Demut vor jeder Gewalt. Während die moskowitische Gesellschaft der damaligen Zeit rein passiv, ohne jeden Protest, die unsinnigste Tyrannei eines Iwan des schrecklichen ruhig über sich wüten ließ, während der russische Bauer die unmenschliche Behandlung seitens seines Herrn ruhig ertrug, organisierten die Ukrainer des XVI. und XVII. Jahrhunderts, denen es in Polen gewiss nicht so schlecht ging, als den zarischen Untertanen, eine Reihe von Revolutionen gegen die sozialen und politischen Einrichtungen der polnischen Republik. Während die russische Geistlichkeit die Abschaffung des Patriarchates und damit den Verlust des letzten Schattens ihrer Unabhängigkeit vom Staate mit Demut hinnahm, leistete der ukrainische Klerus Polens einen großartigen Widerstand dem kriegerischen Katholizismus, der die Rechte seiner Religion zu vermindern trachtete. Und als Katharina II. die Säkularisation der Kirchengüter in ihrem Reiche durchzuführen suchte, hat die Kirche die Verteidiger ihrer Rechte nur in der Ukraine gefunden. Diesen Geist der Aktivität haben die Ukrainer bis auf die letzten Tage beibehalten. Die revolutionäre Bewegung von 1905 hat in der Ukraine begonnen, die der russischen Revolution viele ihrer Führer gegeben hat.

Gegen die westliche Kultur, die im XVII. und XVIII. Jahr hundert in der Ukraine blühte, führten gewiss die Russen ebenso wie gegen eine politische Selbständigkeit des Landes — einen Vernichtungsfeldzug, der im Laufe des XIX. Jahrhunderts die ukrainische Sprache aus dem öffentlichen Leben des Landes vollkommen vertrieben hat. Dieses Vernichtungswerk hat dem Lande ein äußerlich russisches Aussehen gegeben: russisch sind alle Schulen in der Ukraine, russisch alle Inschriften, russisch ist die Amtssprache, russisch ist die Verwaltung. Aber weder das Land noch sein Volk ist dadurch russisch geworden. Bisher blieb die Ukraine ein Fremdkörper im russischen Organismus. Die Zahl der Russen in der Ukraine schwankt zwischen 3 Prozent (auf dem linken Ufer) und 1 Prozent (auf dem rechten Ufer). Die Sprache der Bevölkerung auf dem flachen Lande und in den kleineren Städtchen ist nicht russisch. Die Bevölkerung der größeren Städte ist international. Die Kirche ist auch nicht russisch. Bis zum Untergang Polens waren fast alle seine Ukrainer — wie jetzt in Galizien — Katholiken. Nach dem Fall der Republik begann seitens der russischen Regierung eine gewaltsame Bekehrung der ukrainischen Katholiken mit Bajonetten (im Laufe des XIX. Jahrhunderts wurden nicht weniger als sieben Millionen Ukrainer zur Orthodoxie auf diese Weise „bekehrt“), trotzdem aber ist für viele Tausende von ihnen die griechisch-katholische Religion ihre eigene geblieben. Diese „Bekehrung“ schritt, obwohl man mit ihr gleich nach der Annektion der ukrainischen Gebiete Polens, also zu Ende des XVIII. Jahrhunderts begann, so langsam vorwärts, dass man noch 1870 damit nicht ganz fertig war. Manche von diesen „Bekehrten“ sind in der Tiefe ihrer Seelen bisher dieselben Katholiken wie früher geblieben. Nach den Angaben der Cholm-Warschauer Eparchieen-Behörde gab es noch 1895 in dieser Diözese allein 75.175 „Hartnäckige“, „in den unitarischen und katholischen Irrtümern beharrende“ Ukrainer, die „außerhalb jeder Fürsorge der Kirche stehen geblieben waren“*). Mehr als 200.000 dieser „Bekehrten“ sind nach der Verkündigung des bekannten Toleranzmanifestes des Zaren vom 17.04.1905 zum Katholizismus wieder übergetreten. Aber auch für denjenigen Teil der ukrainischen Bevölkerung, der anscheinend mit seiner „Bekehrung“ versöhnt ist, ist die russisch-orthodoxe Kirche mit den Gebräuchen, die man sehr oft in der Ukraine nicht kennt, mit der seltsamen, für den Ukrainer unverständlichen russischen Aussprache der allslawischen Gebetsworte, bis jetzt eine fremde Kirche **). Ebenso sind die Agrarverhältnisse in der Ukraine nicht russisch. Der Gemeindebesitz herrscht nur in den russischen Gouvernements, wo nur 10,4 Prozent des Bauernlandes sich im Privatbesitz der Bauern befinden. In den ukrainischen Gouvernements dagegen — mit wenigen Ausnahmen — ist schon lange diese Form des Grundbesitzes ganz unbekannt. Der größte Teil des Bodens ist Privateigentum. Was aber besonders wichtig ist: Russland hat bisher nicht vermocht, das Kostbarste, was das ukrainische Volk besitzt, zu vernichten: ein starkes Einheitsgefühl, ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem dem Russentum feindlichen größeren Ganzen, das die Grundbedingung der Unabhängigkeit einer Nation ist.

*) Vergl. P. Miljukoff, Skizzen Russischer Kulturgeschichte II, S. 185 ff.
**) Der Unterschied zwischen der griechisch-katholischen und griechisch-orientalischen Kirche wird oft sogar in den gebildeten Kreisen Westeuropas verkannt. Nur im Ritus und in der Zölibat-Frage nähern sich diese Kirchen einander. Sonst hat die griechisch-katholische Kirche, die alle Dogmen des Katholizismus und die Oberhoheit des Papstes anerkennt, mit der russischen nichts gemeinsam.


In einer seiner Reden sagt Bismarck, dass „die deutsche Einigkeit habe geschaffen werden müssen, ehe die Nation zur Unabhängigkeit habe gelangen können. Die nationale Einigkeit (Deutschlands) wäre nicht möglich gewesen, wenn die Kohle unter der Asche nicht glimmend gewesen wäre. Wer hat dieses Feuer gepflegt? Die deutsche Kunst, die deutsche Wissenschaft, die deutsche Musik: das deutsche Lied nicht zum wenigsten“, sie haben die Einigkeit der Deutschen vorbereitet.

Dasselbe ist auch in der Ukraine der Fall. Die ihrer alten Rechte und ihrer Kultur beraubte Nation hat bisher ihre Volksmusik und Poesie, die reichste in Europa, bewahrt, die diejenigen geistigen Bande bilden, mit denen die Ukrainer zu einer Nation verbunden sind. Die ukrainischen Lieder, die in jedem Dorfe gesungen werden, voll tiefer Melancholie und Sehnsucht nach dem verhallten Ruhm der Nation, sind eine Quelle, woraus die Ukrainer noch jetzt ihre Kraft und die Kampfeslust für ihr Vaterland schöpfen. Und der „Kobsar“ des größten ukrainischen Dichters Schewtschenko wurde zum Evangelium jedes Ukrainers, ob eines Intellektuellen, ob eines Bauern, das ganze Generationen im glühenden Hass gegen ihren Feind zu einem Ganzen vereinigte, das nur von einem Wunsche beseelt ist.

Dieses Einheitsgefühl, das diejenigen „Imponderabilien“ bildet, von denen (nach Bismarck) der Erfolg der Einheitsbestrebungen eines Volkes abhängt, hat in der Ukraine nicht nur einen passiven, die Einheit der Nation bewahrenden, sondern auch einen aktiven Charakter, der die Nation in ihren Befreiungsbestrebungen stärkt. Wir haben schon gesehen, wie stark sich in den letzten Jahren die Absonderungstendenzen in der Ukraine zeigen. Diese Tendenzen haben schon allmählich den russischen Einfluss im Lande, — in kultureller, sowie in politischer Hinsicht — geschwächt. Sie haben den ganzen kulturellen Charakter der Ukraine (Vereine, Zeitungen, Theater) stark ukrainisiert, sie haben auch das politische Leben beeinflusst, das seinen bisher ausgesprochen russischen Charakter einbüßen musste. Sie haben sogar das ökonomische Leben des Landes, das sich von der russischen Vormundschaft befreien will, auch unter ihre, unter die nationale ukrainische Fahne zu stellen gewusst. Diesem Prozesse — der Ukrainisierung des ganzen öffentlichen Lebens in der Ukraine, kam auch die ökonomische Entwicklung zu Hilfe. Die seit l906 größeren Umfang einnehmende Parzellierung des Großgrundbesitzes zieht in der Ukraine bei der dort existierenden nationalen Gliederung der Bevölkerung die Schwächung des russischen und Stärkung des ukrainischen Elementes nach sich*). Wie ein Mathematiker, zwischen einer Funktion und ihren Argumenten eine Abhängigkeit feststellt, hat die Revolution von 1905 auf einmal den Zusammenhang zwischen der Ukrainisierung Süd-Russlands einerseits und seiner wirtschaftlichen Entwickelung und Demokratisierung andererseits festgestellt. Dieser Zusammenhang lässt uns voraussehen, mit was für riesigen Schritten die Ukrainisierung Süd-Russlands vor sich gehen würde, wenn der rechtlichen Befreiung der unteren Bevölkerungsschichten in Russland 1905 nicht ein Damm entgegengesetzt worden wäre. Nur die russische Staatsgewalt hat diesen Nationalisierungsprozess in der Ukraine aufgehalten. Fällt aber diese Gewalt weg und wird den Kräften der wirtschaftlichen und politischen Entwickelung in der Ukraine freies Spiel gelassen, so wird man in einigen Jahren vergessen, dass die Ukraine (besonders die rechtsseitige mit ihren 4 Prozent Russen) jemals ein „russisches“ Land war! Dann wird die Ukraine, der weder die natürlichen noch geistigen Vorbedingungen dazu fehlen, es verstehen, zu einem einheitlichen wirtschaftlichen und staatlichen Organismus sich zu konsolidieren. Der starke Staatentrieb, den die Ukraine im Laufe ihrer Geschichte bezeugte, wird ihr dazu gewiss helfen. Dieser Staatsorganismus wird Russland seiner besten Kräfte berauben, die ihm allein seine Raubpolitik ermöglichen, dem Panslawismus ein Ende bereiten und Europa einen dauernden Frieden bescheren.

*) Dazu trägt auch der immer wachsende Zuzug der ländlichen (ukrainischen) Bevölkerung in die Städte bei, die ihren russisch-jüdischen Charakter dadurch allmählich verlieren.

Jetzt ist das Problem der selbständigen Ukraine seiner Lösung näher als je.

Das originellste in den Wandlungen der ukrainischen Staatsidee ist, dass alle Mächte, die ihre Realisierung zur Aufgabe ihrer äußeren Politik machten, sehr oft fast gegen ihren Willen dazu gezwungen waren. So zum Beispiel Polen 1659. Zögernd entschloss sich auch Karl XII. mit Mazeppa zu gehen. Die Pforte, die 1680 ihre ukrainefreundliche Politik aufzugeben schien, musste noch manches Mal in dem folgenden Jahrhundert zu dieser zurückkehren. Preußen hat oft diese Idee, als dem Reiche schädlich, abgewiesen. Ebenso war Österreich durch ganze Dezennien nicht dazu zu bewegen, mit dieser Idee sich zu befassen, und beide strebten in verzweifelten Versuchen nach Annäherung an Russland. Und das alles nur, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass die Kluft, die beide Staaten von Russland trennt, unüberbrückbar ist, und dass die „kindischen“ Projekte der Zerstückelung Russlands doch das geeignetste Mittel darbieten, die Suprematie des Moskowiterreiches zu brechen, eine Tatsache, die die ganze zwingende Kraft dieser Idee zeigt!

Wie ein Komet erscheint die ukrainische Frage regelmäßig an dem politischen Himmel Europas, jedesmal, wenn ein kritischer Moment für Russland naht.

Jetzt ist sie mit dem Schicksal Österreich-Ungarns und Deutschlands fest verbunden, an deren Sieg wir, russische Ukrainer und unsere Brüder in Österreich-Ungarn unsere Zukunft knüpfen. Wenn aber Russland geschlagen wird, werden die beiden mitteleuropäischen Kaisermächte endlich die ukrainische Frage zu lösen gezwungen sein. Bis das nicht geschieht, also im Falle des Friedens mit einem geschlagenen, aber nicht durch Gebietsabtrennungen vernichteten Russland, ist kein dauernder Friede zu erwarten. Die Zeiten, wo man behauptete, es existierten zwischen Russland einerseits, Deutschland und Österreich andererseits keine prinzipiellen Interessengegensätze, können nie zurückkehren. In Kleinasien wird es immer den Keim zu einer Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Russland geben; in Galizien zwischen Russland und Österreich-Ungarn. Von der stetigen Gefahr dieser kommenden Auseinandersetzungen sich befreien wollen, heißt: die russische Macht jetzt brechen.

Damit bietet die Geschichte Österreich-Ungarn und Deutschland eine schöne großzügige Aufgabe von welthistorischer Bedeutung! Während Frankreich und England, angeblich für „the rights of the smaller nationalities of Europe“ *) — wie vor kurzem Mr. Asquith verkündete, kämpfend, dem Zaren helfen, die Freiheit des ukrainischen Volkes in Galizien zu erwürgen und seine Macht in Europa zu stärken, bietet sich den verbündeten Armeen die Möglichkeit, das zu vollbringen, was bisher den besten Feldherren Europas, weder Karl XII. noch Napoleon, gelungen war: die Befreiung der zwei Erdteile von dem beschämenden Drucke der Moskowiter, die wirkliche Emanzipation von mehr als 70 Millionen Menschen, die in der russischen Sklaverei schmachten.

Nur wenn dies Ziel erreicht ist, wird das Ganze auf den Schlachtfeldern in Ost und West geflossene Blut nicht umsonst geronnen sein. Die Frage, in welchen Beziehungen die Ukraine zu ihren Nachbarn stehen würde, ist der näheren Zukunft vorbehalten und geht über das Thema dieses Buches heraus. Eins ist nur sicher: der auf dem Stromgebiet des Dniepr zu errichtende Staat, aus dem Leibe des heutigen russischen Imperiums herausgeschnitten, von einem Volke bewohnt, in dem seine russenfeindlichen Traditionen nicht nur nicht erlöscht, sondern durch die letzte Politik Russlands gestärkt, wird für unabsehbare Zeit für jede politische Kombination zu haben sein, deren Spitze gegen Russland gerichtet wird.

*) Jedem, der die Liebe Englands zu den „kleineren Nationalitäten“ richtig beurteilen will, sind „Oxford Pamphlets“ zu empfehlen, insbesondere die Broschüre „The National Principle and the war“, wo dem ukrainischen Volk nur ein Recht zugestanden wird, nämlich das Versinken im russischen Meer!