d) Die Ukraine und Schweden.

Die verwickelte politische Lage Osteuropas im XVII. Jahrhundert, jener Zeit des Krieges aller gegen alle — brachte auch die Annäherung der Ukraine an Schweden mit sich. Ebenso wie erstere ihre Existenz, musste Schweden seine Großmachtstellung bald gegen die Anmaßungen Polens, bald gegen die des Moskowiterreiches behaupten. Es handelte sich im ersten Falle um den Besitz der Schwarzmeerküsten, im zweiten um die Vorherrschaft in der Ostsee. Zu den zwei Polen bekriegenden Mächten (Ukraine und Moskau) gesellte sich 1655 auch der schwedische König Karl Gustav. Dieses Eingreifen änderte die ganze politische Situation. Der Zar, der Schweden als einen gefährlicheren Gegner als Polen erachtete, zudem durch Hoffnungen aus die polnische Krone geschmeichelt wurde, schloss sofort einen Waffenstillstand mit der Republik zu Wilna (5. 10. 1656), um seinen unbequemen Rivalen an der Ostsee unschädlich zu machen. Das aber lief dem ganzen Aktionsplan des ukrainischen Hetmans zuwider. Der Plan Chmelnytzkis war, Polen auf jeden Fall zu bekämpfen, um in den Besitz auch der rechtsseitigen Ukraine zu gelangen. Mit wessen Hilfe er seinen Plan realisieren konnte, war dem Hetman gleichgültig. Verweigerte Moskau seine Hilfe, dass jetzt seinen eigenen Weg gehen wollte, so entstand dafür dem Hetman in Schweden ein eventueller Verbündeter, dessen politische Ziele mit den seinen identisch waren. Die Erbitterung gegen den Zaren in der Ukraine wurde noch dadurch verstärkt, dass man die ukrainische Abordnung nicht einmal zu den Friedensverhandlungen zu Wilna zugelassen hatte. Die Ukrainer sahen darin die Verletzung ihrer Rechte und Herabsetzung der Bedeutung der Ukraine als eines souveränen Staates. Es begannen die Verhandlungen mit dem schwedischen König; Karl Gustav anerkannte die volle Selbständigkeit der Ukraine, die künftighin in demselben Verhältnis der Abhängigkeit zu ihm stehen sollte, in dem der Brandenburgische Kurfürst oder der Kurländische Herzog zu dem König von Polen standen. Der schwedische König war auch bereit, Chmelnytzki den Titel des Fürsten von Kiew und Tschernyhiw und des Hetmans des Zaporogischen Heeres zu verleihen. Das schwedisch-ukrainische Bündnis wurde auch durch den Zutritt anderer Bundesgenossen erweitert: Am 20. 10. 1656 kam eine Verabredung zustande, in der außer Karl Gustav und Chmelnytzki auch Brandenburg und Siebenbürgen teilnahmen. Der Inhalt der Verabredung war— die Teilung Polens. Der schwedische König sollte Großpolen, Pomerellen, Lievland, Litauen und einen Teil des weißruthenischen Gebietes bekommen, der Kurfürst von Brandenburg den polnischen Anteil von Preußen; Rakotzi Kleinpolen und Krakau; die Ukraine — alle ukrainischen und einen Teil der weißruthenischen Länder. Seine Beziehungen mit Schweden verbarg Chmelnytzki vor dem Zaren, aber seine Heere schickte er inzwischen zur Unterstützung Rakotzis und Karl Gustavs ab. So kam es zu einer in der Weltgeschichte merkwürdigen Sachlage, dass einer von zwei unter demselben Souverän stehenden Staaten (die Ukraine) die Feinde des anderen (des Moskowiterreiches) eifrig unterstützte, dessen Verbündeten (Polen) aber mit den Waffen in der Hand bekämpfte. Natürlich rief die Unbotmäßigkeit Chmelnytzkis, der den Absichten seines „Souveräns“ keine Achtung schenkte, die größte Entrüstung in Moskau hervor. Die Beziehungen zwischen dem Zaren und dem Hetman spitzten sich bedenklich zu. Aber zum Konflikt kam es vorläufig nicht, da der alte Hetman starb (27. 7. 1657). Sein Nachfolger — J. Wyhowsky — der 1659 den berühmten Vertrag mit Polen zu Hadiatsch abschloss, machte sich zuerst die Politik Chmelnytzkis zu eigen. Das Bündnis mit Schweden wurde erneuert und durch den Reichstag in Korsun genehmigt. Es wurde hier noch einmal besonders betont, dass die Ukrainer „als ein freies und niemandem unterworfenes Volk angesehen werden müssen“ („pro libera gente et nulli subjecta“). Wir haben gesehen, dass Wyhowsky schon ein Jahr später das Heil seines Landes in der Wiedervereinigung mit Polen zu finden versuchte. Die Gründe, die ihn veranlassten, die schon begonnene Aktion mit Schweden aufzugeben, lagen in der bedrohten Lage dieses Staates, der plötzlich nicht nur von den Polen und Russen, sondern auch von den Dänen überfallen wurde. Von Westen bedrängt, musste es seine weitblickenden Pläne im Osten fallen lassen und hier trennt sich die Geschichte der Ukraine von der schwedischen. Die Länder schlossen sich noch einmal zusammen zu der Zeit, als ihre Geschicke in die Hände zweier Menschen gelegt waren, die zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte gehören: Karl XII. und Mazeppa*). Das war zur Zeit des großen nordischen Krieges. Auffallend ähnlich war die damalige internationale Lage der jetzigen. Das moskowitische Reich, durch die eiserne Hand Peters I. gelenkt, entfaltete kolossale Kraft, um die Küste des Schwarzen Meeres und der Ostsee zu erreichen. Und ebenso wie heutzutage stellten sich zwei Großmächte, Polen und Dänemark, in seine Dienste, um das angebliche Übergewicht Schwedens (wie heute Deutschlands) zu vernichten. Das starke Schweden im Norden, und die unabhängige Ukraine im Süden, die mit jedem Feinde Russlands mitzugehen bereit war — waren zu überwinden, um eine neue Großmacht in Europa, das russische Imperium, zu begründen.

*) Die tragische Figur Mazeppas, der die große historische Aufgabe des XX. Jahrhunderts — die Zertrümmerung Russlands — schon im XVIII. Jahrhundert zu lösen versuchte, wurde zur beliebtesten Persönlichkeit der europäischen Literatur, Kunst und sogar Musik. Gottschall, Freiligrath, Victor Hugo, Lord Byron und die ganze Menge ukrainischer, schwedischer, polnischer, Tschechischer und russischer Dichter haben über ihn geschrieben. Er hat die schönen Tableaux von Horace Vernet, Louis Boulanger, Chasserian und anderen inspiriert. Ihm widmete seine ergreifende symphonische Dichtung Fr. Liszt.


Das Emporkommen Russlands, das, aus seiner Verschlossenheit plötzlich heraustretend, an der europäischen Geschichte gestaltend teilnehmen wollte, hatte die alten Kulturmächte stark berührt. In diesen Zeiten entstand erst die Idee eines nordischen Gleichgewichtes, deren Verfechter (cf. die damalige politische Literatur Schwedens, Österreichs und sogar Englands) ganz offen die Partei Schwedens nahmen. Der junge schwedische König, dessen diplomatische Fähigkeit vielleicht von den Nachfolgern unterschätzt wurde, glaubte vielleicht, den russischen Druck in der Richtung zur Ostsee durch die Unterstützung der alten staatsrechtlichen Aspirationen der Ukrainer abzuschwächen. Die Zeit dazu war die geeignetste. Das brutale Vorgehen Peters I., der die alten durch Verträge gesicherten Rechte der ukrainischen Republik missachtete, schob wieder in der Ukraine die Leute in den Vordergrund, welche die verhasste Souveränität des Zaren mit Gewalt abschütteln wollten. An die Spitze dieser Leute stellte sich der 7Ojährige Hetman Mazeppa. Es kam zwischen dem jungen Schwedenkönig und seinem greisen Verbündeten wie zur Zeit des Großvaters des ersteren, zum Waffenbündnis. Die Hauptparagraphen des wechselseitigen Vertrages waren folgende: 1. Der Schutz, in den Karl XII. Mazeppa und sein Land nahm, 2. die gegenseitige Militärunterstützung, 3. die Bestimmung, dass kein Friede, kein Waffenstillstand ohne die Ukraine mit einzuschließen, geschlossen werden durfte, und zwar 4. unter keiner anderen Bedingung, als dass die Ukraine von der russischen Herrschaft erlöst, zu ihren alten Freiheiten zurückkehre. Dieser Vertrag, der die staatliche Existenz der Ukraine unter dem Protektorat des fernen Schwedens auf lange Zeit sicherstellen sollte, war von nur kurzer Dauer. Die verbündeten Heere erlitten bei Poltawa (1709) eine schwere Niederlage. Weder die Ukrainer noch ihr Protektor hielten aber die Sache für verloren. Schon im folgenden Jahre kam es unter Filip Orlik, der in der Türkei — wohin Karl XII. und viele Ukrainer flohen, — als Hetman in partibus infidelium gewählt wurde, zu einer Erneuerung des Vertrages. Diesem schon auf dem türkischen Boden geschlossenen Abkommen gehört ein außerordentlich wichtiger Platz in dem ganzen Entwicklungsgang der ukrainischen Staatsidee, es bedeutet einen weiteren Schritt vorwärts in der Auffassung des Inhalts derselben, sowie auch der Souveränität des ukrainischen Staates. Im Gegensatz zu den anderen internationalen Verträgen, die der Ukraine die Stelle eines wenn auch nur nominellen Vasallenstaates einräumten, wurde jetzt festgestellt, dass „weder auf die absolute Herrschaft im Lande noch auf Lehnsabhängigkeit irgend eine Macht Anspruch erheben könne, die Unantastbarkeit ihrer Grenze, ihrer Freiheiten, ihrer Rechte, Gesetze und Privilegien sollte heilig geachtet werden.“ Am 10. Mai 1710 wurde der Vertrag durch den schwedischen König, als Protektor der Ukraine unterschrieben. Wie wir sehen, fassten die Urheber des Vertrages von 1710 die Grenze der Souveränität ihres Staates etwas weiter auf, als ihre Vorgänger im XVII. Jahrhundert. Ebenso wurde der innere Inhalt der ukrainischen Staatsidee modernisiert. Von nun an sollte der ukrainischen Verfassung das parlamentarische Prinzip zu Grunde gelegt werden. Das Recht der Gesetzgebung in der freien Ukraine sollte einem nach der Zahl der bestehenden Verwaltungsbezirke gewählten Reichstage zustehen, ohne dessen Einwilligung weder der Hetman, noch seine Minister, irgendwelche Beschlüsse fassen oder vollbringen dürften. Das war die erste — im modernen Sinne des Wortes — Konstitution der Ukraine. Diese Konstitution sowie auch andere Bestimmungen des Vertrages, stellten ein interessantes Projekt einer Verfassung dar, das 79 Jahre vor der großen französischen Revolution und nur 21 nach der „Declaration of Rights“ ausgearbeitet wurde. Zustande ist dieses Projekt nie gekommen. Der Aufstand, den Hetman Orlik und seine Anhänger in der Ukraine, die unter der Herrschaft Russlands geblieben ist, 1711 hervorriefen, misslang. Die Niederwerfung dieses Aufstandes und die Niederlage bei Poltawa haben einen neuen Abschnitt in der Geschichte der ukrainischen Staatsidee und der Ukraine überhaupt begonnen.