c) Die Ukraine und die Türkei.

Das Osmanische Reich spielte in der ukrainischen Geschichte eine bedeutende Rolle, und zwar eine ganz andere, als bei den übrigen christlichen slawischen Völkern. Als Protektor erschien der Halbmond in der Ukraine des XVII. Jahrhunderts und als Schützer aller Freiheitsbestrebungen ihres Volkes. Der Friedensschluss zwischen Polen und Russland bei Andrussowo (1667), durch den beide Mächte sich gegen einander verpflichteten, die geteilte Ukraine im Zaume zu halten, lenkte die Gedanken der politischen Führer des ukrainischen Volkes auf einen bisher kaum betretenen Weg. Da man nach dem polnisch-russischen Bündnisvertrag zwischen den beiden versöhnten Mächten nicht balanzieren konnte, suchten die ukrainischen Patrioten die Verwirklichung ihrer Ideale mit Hilfe der Türkei zu erlangen. Die Pforte sah immer allen Versuchen irgendwelchen Staates, an den Küsten des Schwarzen Meeres festen Fuß zu fassen, mit großem Misstrauen entgegen. Anfangs war es Polen, das den Besitz dieser Küsten zu erzwingen suchte. Deshalb war der Chan von der Krim (ein Vasall des Sultans) immer bereit, alle ukrainischen Aufstände gegen die polnische Republik mit bewaffneter Macht zu unterstützen. Nach 1654 ist der Türkei ein neuer, gefährlicher Gegner im Norden erstanden, das Moskowitische Reich, das die Aufgabe der polnischen Politik im Süden übernommen zu haben schien. Man gelangte schließlich in Konstantinopel zu der Ansicht, dass das durch Emporkommen Moskaus aufgehobene osteuropäische Gleichgewicht am zweckmäßigsten durch die Errichtung eines ukrainischen Staates wiederherzustellen sei. Die politischen Interessen der Pforte und der Ukraine begegneten sich also. Schon Chmelnytzki unterwarf sich dem Protektorat des Sultans, dem er sogar den Eid leistete. Aber den besten und energischsten Verfechter fand die Idee eines Bündnisses mit der Türkei in der Gestalt des Hetmans Petro Doroschenko. Im Jahre 1669 schloss dieser Hetman einen Vertrag mit dem Sultan, der eigentlich weiter nichts als ein Waffenbündnis war. Die von Osten wie von Westen bedrängte Ukraine hatte keine Zeit zur Ausarbeitung einer bis in die Details fertigen Reichsverfassung. Aber die Idee der ukrainischen Selbständigkeit, die den Kernpunkt von Doroschenkos Unternehmen bildete, spiegelt sich deutlich in diesem Bündnis wieder. Aus der kaiserlich-ottomanischen Botschaft an Doroschenko stellt sich heraus, dass die Ukraine in denselben Beziehungen zur Pforte stehen sollte, wie Moldau und Wallachei, d. h. wie ein Vasallenstaat. „Ich schicke Ihnen — stand in dem Briefe des Sultans — den Hetmansstab und die Fahne nicht als Zeichen der Untergebenheit, sondern als das der Freundschaft und zur Furcht unserer Feinde.“ Doroschenko antwortete, dass sein Volk „weder Sklaven, noch Tributpflichtige seien, sondern frei bleiben wolle“, und das; er die ihm übersandten Symbole seiner Würde als „Zeichen eines Bündnisses zwischen der Ukraine und der Pforte“ ansehe, das besonders in der durch die türkische Armee der Ukraine geleisteten Hilfe sich äußern sollte. Die beiden vertragschließenden Teile stimmten also in der staatsrechtlichen Qualifizierung dieses Paktes überein, der eigentlich keine Vasallabhängigkeit der Ukraine begründete, sondern das bloße Schutzversprechen seitens eines Staates an einen anderen, für sich bestehenden souveränen Staat darstellte. Unter den Artikeln dieses Paktes ist besonders charakteristisch der, dass „weder der Sultan noch der Chan ohne Verständigung mit dem Hetman irgend welche Verträge mit benachbarten Souveränen schließen dürfe.“ Die langen Kriege, in die sich die Pforte infolge des Vertrages mit Doroschenko, mit Polen und Russland verwickelte, wurden anfangs von vollem Erfolg gekrönt, und die ganze Ukraine, die Doroschenko wieder zu vereinigen vermochte, wurde zu einem unabhängigen Staate unter den nominellen Protektorat des Sultans erhoben (1672). Die ukrainische Staatsidee feierte ihre höchsten Triumphe, und die an den polnischen Gesandten gerichtete Drohung der Pforte, dass „ihr Ruhm und ihre Ehre es ihr zur Pflicht machen, den Ukrainern den Schutz, den sie ihnen offen und vor aller Welt zugesagt habe, nun offen angedeihen zu lassen“ — wurden zur Wirklichkeit. Aber dem ukrainischen Hetman, der sicher einer der klügsten Köpfe seiner Zeit war, war es nicht beschieden, die volle Realisierung seiner kühnen Pläne zu erleben. Die Kräfte des Osmanenreiches, dass damals im Kriege mit einer halben Welt stand, reichten nicht aus, um eine neue große Provinz erfolgreich zu schützen. Zweimal noch erneuerte die Pforte ihr Bündnis mit der Ukraine, wurde aber genötigt, auf ihr Ziel — Wiederherstellung des ukrainischen Staates — zu verzichten. Im Jahre 1677 erschien das türkische Heer wieder in der Ukraine, an seiner Seite die Armee Juras, des Sohnes Chmelnyckis, dem der Sultan den Titel eines Fürsten der Ukraine verliehen hatte, aber seine Erfolge waren nur vorübergehend. Die Kräfteverschiebung zu Gunsten Moskaus war offenbar. Im Jahre 1699 gab die Türkei ihr Unternehmen offiziell auf. Es kam zwischen Polen und Russland einerseits und der Pforte andererseits der Frieden zustande; kraft dessen verzichtete die letztere auf alle ihre Ansprüche auf die Ukraine. Nur eine kleine Episode spielte sich 12 Jahre später ab, die Anlass gab anzunehmen, dass die Türkei doch ihre ukrainefreundliche Politik nicht völlig fallen gelassen habe. 1711 wurde im dritten Paragraphen des Friedens zwischen Peter I. und der Türkei bestimmt, dass der moskowitische Zar künftighin in die inneren Angelegenheiten der Ukraine sich nicht einmischen dürfe. Dieser Paragraph, der auf Verlangen der Ukrainer hineingebracht worden war, — wurde jedoch sehr unklar abgefasst, und Peter I. war es einige Jahre später sehr leicht, — wohlgemerkt mit Hilfe des englischen Botschafters beim Sultan — diesen Paragraphen so zu interpretieren, als ob es sich dabei lediglich um die polnische Ukraine handelte.

Die ukrainischen Abordnungen drängten freilich den Sultan und erinnerten ihn, dass nach dem Frieden am Pruth „Ukraine ab utraque parte Boristhenis sit ad omni extera dominitatione libera“, dass die Ukraine zu beiden Seiten des Dnieprs von jeder auswärtigen Herrschaft frei sein solle; aber vergebens. Die Macht der sich in der Defensive zurückgedrängt sehenden Türkei war — ebenso wie Polens — im Sinken begriffen.


Das war schon die zweite Großmacht, mit welcher die Ukraine ihr Schicksal verbunden hatte, um mit den Waffen in der Hand dem Expansionsdrang Russlands Stillstand zu gebieten. Und auch diese Macht versagte. Damit wurde der ukrainischen Selbständigkeitsidee ein schwerer, doch aber nicht unheilbarer Stoß versetzt.