Zwölfte Fortsetzung

Hier ist der Ort, auf eine andere sehr betrübende Erscheinung hinzuweisen, die in engstem Zusammenhang mit der Propaganda der „völkischen Emanzipation und Organisation" steht. Ich meine die unglückselige Polenhetze, die seit mehr als einem Jahr von einer Reihe jüdischer Blätter zionistischer und verwandter Richtung in Deutschland, Österreich und Amerika betrieben wird, bisher schon genug Unheil gestiftet hat und in ihren Wirkungen für uns polnische Juden geradezu gefährlich werden kann. Das ist eine ganz neuartige Erscheinung, seitdem es Zeitungen und Zeitschriften für jüdische Interessen gibt.

Dem Zionismus standen die Polen von Anbeginn äußerst sympathisch gegenüber, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie verstanden nicht, warum der Zionismus, besonders im Königreich Polen und in Galizien, eine immer entschiedenere polenfeindliche Haltung annahm und woher jetzt diese allgemeine Polenhetze komme. Die Polen wissen eben nicht, dass seitdem der Zionismus 1897 politisch geworden ist, er eine radikale Wandlung durchgemacht, sein Wesen und seine Ziele verfälscht wurden und ganz andere Elemente in ihm die Oberhand gewonnen haben. — „Politiker" arbeiteten nicht für die großen Zwecke der Zukunft, sondern für momentane Erfolge, sie paktierten mit allerlei herrschenden Potenzen und verkauften sich für eine Gunstbezeugung zu Zwecken, die mit den Interessen des jüdischen Volkes nichts gemein haben. In einer politischen Partei gibt der politische Streber den Ton an. In eine Partei tritt man ein, aus einer Partei tritt man aus. Wer einen Schekel jährlich — schuldig bleibt, hat das Recht erworben, über das ganze Erbe Israels zu verfügen, frei darüber zu schalten und zu walten, wenn er auch, wie die meisten Redakteure der offiziellen zionistischen 'Blättchen, ein vollständiger Analphabet in jüdischen Dingen ist, und weder von der Vergangenheit noch von der Gegenwart der Juden, ihrem inneren Leben, ihren Leiden und ihren Bedürfnissen eine Ahnung hat. Es wirkt manchmal drollig, wenn solche ,,Juden", in deren Leben und Gesinnung keine jüdische Spur zu finden ist, jeden, der das Baseler Programm nicht für unfehlbar hält oder an den Ergüssen der zionistischen Blättchen Kritik zu üben wagt, einen „Assimilator", einen Abtrünnigen, sogar einen Antisemiten schimpfen. Die wissenschaftliche Begründung und die ethische Rechtfertigung des Boykotts in Polen wurden von den Warschauer Nationaldemokraten den Büchern des Professors Sombart (Die Juden und das Wirtschaftsleben, Judentaufen, Die Zukunft der Juden) entnommen, in denen die Lehre aufgestellt und erhärtet wird, dass kein Staat mehr als höchstens ein Prozent Juden vertragen könne, was darüber hinausgeht, wirke zersetzend und führe den Untergang des „Wirtsvolkes" herbei. Man kann sich denken, wie diese mit breiter Beredsamkeit vorgetragene Lehre auf die Polen wirken musste, die 14 Prozent Juden im Lande haben, und in deren Städten 40 bis 50 Prozent oder noch mehr Juden leben. Die Nationaldemokraten sorgten eifrig für Übersetzung und Verbreitung von Sombarts Werken. Vermöge eines dunklen geistigen Prozesses wurde Sombart von den deutschen Zionisten zum jüdischen Nationalheiligen erklärt, der über alle Kritik erhaben dastand. Sie führten ihn durch halb Mitteleuropa, von Frankfurt a. M. über Wien und Lemberg bis nach Czernowitz, und überall verkündete er seine Lehre unter großem Zulauf. Ein junger Mann mit dem echt jüdischen Vornamen Kurt, der ebenfalls eine hohe Würde in der zionistischen Weltorganisation bekleidet — den Familiennamen habe ich leider vergessen — also, der zionistische junge Mann mit dem althebräischen Taufnamen Kurt reiste in ganz Deutschland und Österreich mit Vorträgen über Sombart herum und machte für dessen Bücher die leidenschaftlichste Propaganda. Wehe dem, der an Sombarts Heilslehren Kritik zu üben wagte. Als ein angesehener Gelehrter in Wien einen kritischen Vortrag über ihn ankündigte, ließ die dortige zionistische Organisation den ganzen Saal durch ihre Anhänger besetzen, die einen Riesenspektakel vollführten und den Redner nicht zu Worte kommen ließen. Bis ich in der Monatsschrift „Ost und West" mit diesem Judenforscher ein wenig ins Gericht ging, erhielt ich eine Menge Briefe, in denen ich Verräter und Feind des jüdischen Volkes genannt und mir jeder Anteil am Judentum abgesprochen wurde. Seit November des Jahres 1914 gilt jeder, der es wagt, die Polenhetze zu verdammen, in zionistischen Kreisen als Antisemit und Genosse von Pogromhelden. In Wirklichkeit verhält sich die Sache folgendermaßen:


Seit Ausbruch des Krieges drangen zu uns dunkle Gerüchte über Pogrome, die die russischen Truppen in den polnischen und lithauischen Städtchen, wo sie sich ansammelten, verübten. Das überraschte keinen. Genaueres konnte man nicht erfahren, da die russische Zensur aufs strengste gehandhabt wurde. In der zweiten Novemberwoche 1914, nach dem strategischen Rückzug der Deutschen, wurde von Kopenhagen aus, der Residenz der russischen Nachrichtenbureaus, die Kunde in die Welt hinaustelegraphiert, dass eine systematisch organisierte „polnische Denunziantenbande" die Juden bei den wiedereinrückenden Russen denunzierte, sie hätten den Deutschen Spionagedienste geleistet und Flugblätter gegen das russische Heer verteilt, darauf sei Vergeltung erfolgt und die Juden der Raubmordgier des polnischen Pöbels ausgeliefert, viele von ihnen gehängt worden; die russische Regierung aber verbiete den Zeitungen, darüber zu schreiben; offiziell wurde bloß angedeutet, das deutsche Heer habe die Juden zu Dienstleistungen gezwungen, infolge begreiflicher Erregung sei auch Vergeltung eingetreten, aber dafür sei nur das deutsche Heer verantwortlich.

Seit damals wurden von Kopenhagen aus mit der größten Beharrlichkeit die gleichen Nachrichten, nur in verschiedenen Variationen, in Europa und Amerika verbreitet. In den nach Amerika gesandten Depeschen vordichtete sich die Anklage gegen das deutsche Heer zu der Behauptung, dass es Gräueltaten gegen die Juden (na, und natürlich auch gegen die Polen) verübt hätte. In nord- und südamerikanischen, sowie in englischen und französischen, sogar in holländischen und skandinavischen Blättern erschienen Abbildungen von Gräuelszenen und deren Opfern. Das waren lauter Reproduktionen photographischer Aufnahmen von Opfern der Pogrome in Kischinew, Homel, Bialystok usw., die in früheren Jahren in jüdischen Zeitschriften erschienen oder als Ansichtspostkarten verbreitet wurden. Die von Kopenhagen nach Deutschland gesandten Depeschen unterschieden sich von denen, die nach anderen Staaten gingen, nur dadurch, dass in ihnen der regelmäßige Passus von den deutschen Gräueln weggelassen und ausschließlich von den „organisierten polnischen Denunziantenbanden" und von dem „polnischen Mörder- und Räubergesindel“ die Rede war, welches blutige Pogrome verübte.

Nun bedurfte es wahrlich keines besonderen Scharfsinns, um auf den ersten Blick zu erkennen, in wessen Interesse die Verbreitung dieser Nachrichten lag. Pogrome? Ach, leider sind Pogrome vorgekommen, aber die haben eigentlich die Deutschen gemacht, eigentlich haben sie die Polen verschuldet, indem sie die unschuldigen, arglosen, gutmütigen Kosaken dazu verleiteten, die Juden zu hängen, ihre Frauen und Töchter zu schänden, ihre Behausungen zu verbrennen oder zu plündern, oder der Raubmordgier des polnischen Pöbels auszuliefern. Hat man schon je einen Kosaken gesehen, der, ohne von bösen Polen dazu verleitet zu werden, einem Juden ein Haar gekrümmt hätte? Nichts ist so dumm, dass es nicht geglaubt würde, wenn es nur mit der gehörigen Dreistigkeit, mit Nachdruck und Beharrlichkeit verkündet wird. Aber unbegreiflich bleibt es, dass die Staatsmänner aus der Behrenstraße sich, trotz wiederholter Warnungen, dazu hergegeben haben, ihr Bureau zum Organ für die Verbreitung dieser aus Kopenhagen stammenden Nachrichten zu machen. Von diesem Bureau aus sind sie nämlich durch alle jüdischen Blätter und einen Teil der allgemeinen Presse gehetzt worden; sie fanden ein lautes Echo in Amerika. Es wurden daran weitschweifige Kommentare und Artikel über die Polen geknüpft, die Polen als solche und nur sie allein wurden der Verübung von Pogromen bezichtigt und als geborene, unheilbare Antisemiten hingestellt. Die Polen wurden auf einmal der Feind der Juden, vor dem diese um jeden Preis geschützt werden müssen. Ganz erstaunlich ist, was die zionistischen und die ihnen nahestehenden Blättchen in allen Ländern geleistet haben. Psychologisch interessant — und für uns Juden mit Bezug auf die gegen uns erhobenen Verleumdungen sehr wichtig — ist es, zu sehen, wie durch eine systematisch und unverfroren durchgeführte Hetze eine offenkundige Wahrheit so in ihr Gegenteil verkehrt werden kann, dass die Lüge zum Dogma, zum unanfechtbaren Glaubensartikel wird, an dem sogar ehrliche und vernünftige Menschen festhalten. Es ist in letzter Zeit häufig vorgekommen, dass Amerikaner bei russischen Regierungsstellen wegen der blutigen Verfolgungen der Juden seit Kriegsausbruch Vorstellungen erhoben haben. Es wurde ihnen regelmäßig der Bescheid: „Wir wissen alle, dass die Schuld daran die Polen allein trifft. Oh, wir kennen jetzt die Polen sehr wohl!" In Amerika ist eine ganze Reihe von jüdischen Versammlungen abgehalten worden, in denen Sympathiekundgebungen für die Freiheitsbestrebungen der Polen verweigert worden und — was noch vor einem Jahre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre, — in anderen wurde der unerhörte und unglaubliche Beschluss gefasst, dafür zu kämpfen, dass in Zukunft die Juden in Polen vor Pogromen, vor der Verfolgung und Bedrückung durch die Polen geschützt würden! Der Kampf hätte sich also nicht gegen die russische Regierung, sondern gegen die Polen zu richten. Das Bedeutendste in dieser Pachtung leistete Herr Dr. Schmarjahu Lewin aus Russland, der in der zionistischen Weltorganisation ebenfalls eine hohe Würde bekleidet. In einer dieser Volksversammlungen anfangs März stellte dieser große Mann die heldenmütige Forderung, man solle „sofort die Weltjudenheit organisieren", um die völkische Autonomie — in Polen! — zu erkämpfen. Der Wirklichkeitswert aller in amerikanischen Volksversammlungen gefassten Beschlüsse ist natürlich für die zukünftige Gestaltung der Dinge vollkommen gleich Null, aber was für eine Verfälschung der öffentlichen Meinung das bedeutet, ist klar. In Deutschland ist es mir in den letzten Monaten oft passiert, von sonst gut unterrichteten und ganz wohlwollenden Persönlichkeiten, Juden wie Christen, zu hören: „Ach, reden Sie mir nur nicht von den Polen. Die sind samt und sonders Antisemiten; wenn die die Macht in die Hände bekommen, baden sie im Blute der Juden.“ Man greift sich an den Kopf, wie ist das möglich geworden? Seit 35 Jahren gab sich die russische Regierung alle erdenkliche Mühe, durch Pression, Überredung und Hetze auch, in Polen Pogrome hervorzurufen, aber die polnische Gesellschaft aller Klassen und Parteien setzte ihr einen hartnäckigen und unerbittlichen Widerstand entgegen. Im Jahre 1882 gelang es der russischen Bureaukratie, in Warschau den allerniedrigsten Pöbel zu einem Miniaturpogrömchen aufzustacheln; die polnische Gesellschaft antwortete darauf, so wie auf den viel größeren Pogrom von Siedlec 1906, mit einer so einmütigen und energischen Zurückweisung, dass die Fälle sich nicht wiederholten. Erst nach Kriegsausbruch, da die polnische Gesellschaft desorganisiert wurde und die Macht über die niederen Elemente verloren hatte, da Polen von Kosaken überflutet wurde und die Tschinowniks ihre Huligans nach Bedarf zur Hand hatten, konnte man in Polen blutige Pogrome nach Herzenslust veranstalten. Trotzdem gelten jetzt die Polen als die geschworenen Feinde der Juden und als die Hauptveranstalter von blutigen Judenverfolgungen!

Mittlerweile wurden die von den zionistischen und verwandten Blättchen verbreiteten Verleumdungen der polnischen Nation und die daran geknüpften gehässigen Artikel über Polens Vergangenheit und Zukunft, alles was an Polenhetze geleistet wurde, von den Organen der russischen Regierung in russischer und polnischer Sprache, namentlich während der Russenherrschaft in Galizien, mit Wonne breitgetreten und durchgehechelt. Diese Blättchen, die meist mit der Schere redigiert, von niemanden als von ihren Mitarbeitern und Redakteuren gelesen werden, wuchsen zu Repräsentanten der jüdischen öffentlichen Meinung empor. Der jüdischen Gesellschaft gegenüber hatten sie jetzt Gelegenheit, sich als Beschützer und Retter ihres Volkes vor einem neu entdeckten Feind aufzuspielen, und von den russischen Organen wurden diese verschimmelten Schulmeisterlein, diese halbreifen, unausgegorenen Jünglinge, diese politisierenden Assessoren, Advokaturskonzipienten, Zahn- und Tierärzte, diese kleinen Kultusbeamten, die in den Mußestunden „ab und zu" schreiben, um sich ein kleines Taschengeld zu verdienen, zu Wortführern der „Großjuden" von Berlin, Wien, New York und Frankfurt a. M. emporgehoben. Seht, wie die Juden der ganzen Welt sich gegen euch verschworen haben, sprach man zu den Polen, sie verleumden und beschmutzen eure Freiheitsbestrebungen vor allen Völkern, bis nach Amerika dringt ihre Macht, sie netzen die öffentliche Meinung gegen euch auf, und wenn ihr nach unserem Sieg nicht würdig befunden werdet, Autonomie zu erhalten, so bedankt euch dafür bei den Juden eures eigenen Landes, sie haben die „Groß-Juden" in Deutschland, die Freunde des deutschen Kaisers sind und das ganze Deutsche Reich und seine Finanzen in der Tasche haben, gegen euch aufgehetzt. (Mittlerweile habe ich bei den „Großjuden", nämlich einigen hervorragenden jüdischen Persönlichkeiten in Deutschland, deren bisherige Verdienste um die Juden dafür bürgen, dass sie ihren polnischen Brüdern in Zukunft wirklich nützen könnten, Nachfrage gehalten und mich überzeugt, dass sie sowohl die Bestrebungen nach „völkischer Autonomie", als auch die Polenhetze verwerfen und für „schädlich und gefährlich" halten.)

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Es wurde also ein Dreifaches erreicht. Das Odium der Pogrome wurde von der russischen Regierung abgewälzt und den Polen aufgeladen. Auf einmal hieß es: — und von Kopenhagen aus wurde es mit Nachdruck verbreitet — , die russische Regierung hat sich total gewandelt, sie ist geneigt, den Juden nach dem Frieden alle Freiheiten zu geben. Alle jetzigen Gräueltaten haben einzig und allein die bösen Polen veranstaltet. Diesen hat fortab aller Kampf zu gelten; die Prophezeiungen Zangswills und Richard Gottheils von dem goldenen Zeitalter, das über die Juden nach einem Siege Russlands hereinbrechen würde, verloren viel von ihrer Unglaubwürdigkeit.

In den Augen der Neutralen und auch der Bundesgenossen war Russland wegen der in seinen Grenzen noch immer nicht aufhörenden Gräuel gegen die Juden entschuldigt, entschuldigt aber auch, dass es noch immer zögerte, die feierlichst versprochenen Freiheiten den Polen zu gewähren, die sich ja durch ihren „zoologischen" Antisemitismus und ihre Pogrome als unreif hierfür und als unwürdig erwiesen haben. Außerdem wurde der Hader zwischen Polen und Juden gewaltig geschürt, der Hass zur Siedehitze angefacht, vertieft, verbittert, verbreitet, so dass er nach Österreich übergriff und dass solche Polen, die stets den Antisemitismus bekämpft haben, jetzt geneigt sind, ihn zu rechtfertigen. Ihnen müssen die Juden als eine Art von Verschwörern erscheinen, die in einer für die Polen so schweren Schicksalszeit auf die Seite ihrer Feinde treten und ihnen in den Rücken fallen. Welche Folgen das für die Juden der polnischen Lande haben kann, vermag sich jeder Denkende leicht auszumalen.

Ich muss sagen, dass dieser Umschwung in der Weltmeinung einen der glänzendsten Erfolge des russischen Nachrichtendienstes bildet, um so glänzender, als es den Russen gelungen ist, die Juden selber zu ihren Werkzeugen zu machen. Weh uns, wenn die Russen auch auf strategischem Felde solche Erfolge zu verzeichnen hätten. Dem politischen Verstand und der Besonnenheit unserer „Staatsmänner" und ,, Publizisten" stellt diese Tatsache ein sehr beschämendes Zeugnis aus. Weh uns, wenn diese Herren uns wirklich regieren und unser Schicksal bestimmen würden.

Bismarck hat einmal gesagt, jedes Volk müsse die Scheiben bezahlen, die seine Journalisten einschlagen. Die polnischen Juden werden die Scheiben bezahlen, und teuer bezahlen müssen, welche eine Handvoll Zeitungsschreiberlein in Petersburg, Frankfurt a. M., Berlin, Wien und New York einschlugen.

Es ist selbstverständlich, dass man die Sache nicht auf sich beruhen lassen darf. Die Pflicht zur Wahrheit und die Ehre des jüdischen Volkes erfordern es, dass hier Licht gemacht werde. In meiner Schrift „Ostjuden und Westeuropäer. Eine Abrechnung", welche ich demnächst herausgebe, werde ich die Geschichte des Boykotts in Polen eingehend erzählen und an der Hand der Dokumente die Tätigkeit der russischen Regierung den Juden gegenüber seit Kriegsausbruch genau darlegen. Es wird sich zeigen, wie viel böswillige Verleumdungssucht, und unehrliche Übertreibung und Verallgemeinerung, und wie viel gutgläubige Verkennung und irrige Auffassung in den Bezichtigungen lag, die zu einer allgemeinen und lauten Anklage gegen „die Polen", gegen die gesamte polnische Nation schlechthin anschwoll, dass sie Judenpogrome veranstaltete und von einem noch schlimmeren Judenhass besessen sei als das offizielle Russland. War es heilige Pflicht, zu protestieren, als die deutsche Nation von einem russisch-englischen Juden grundlos geschmäht wurde,*) so ist es gewiss heilige Pflicht, nicht zuzulassen, dass die polnische Nation straflos verleumdet und vor der ganzen Welt in ihrer Ehre herabgesetzt werde, zumal diese Verleumdungen sich in das Mäntelchen der Judenliebe kleiden und angeblich den Interessen des jüdischen Volkes in Polen dienen sollen. Wir dürfen nicht zulassen, dass fremde, treulose Hände zwischen einigen Millionen unserer Brüder und der Nation, unter der sie achthundert Jahre lebten und weiterhin leben wollen, Scheidewände von Hass, Groll und Misstrauen aufführen, die auf Jahrzehnte hinaus beiden Seiten das Dasein vergiften würden.

*) Vgl. meine Schrift: .,Der Weltkrieg und das Schicksal des jüdischen Volkes." Berlin 1915. Verlag von Georg Stilke.

Ich will nicht zulassen, dass Juden in einer verhängnisvollen Verblendung sich desselben Verbrechens schuldig machen, das an ihnen selber so oft verübt worden ist: der Schändung des guten Namens einer großen Gemeinschaft durch frivole und böswillige Verallgemeinerung der Missetaten einzelner. Das gebietet mir mein jüdisches Ehr- und Pflichtgefühl. Vorläufig sei hier nur kurz folgendes hervorgehoben:

Wohl existierte eine „organisierte Denunziantenbande" zur Verleumdung der Juden, und zwar wurde sie gleich mit Ausbruch des Krieges vom Generalissimus Nikolai Nokolajewitsch ins Leben gerufen, in der Form einer „Kommission zur Sammlung von Materialien über die feindselige Haltung der Juden der russischen Armee gegenüber", sie hatte ihren Sitz im Hauptquartier, und der an ihrer Spitze stand, war kein Geringerer, als der Chef des Generalstabes, General Januschkewitsch. Bevor man in den eigentlichen Krieg zog, ging man darauf aus, die „feindselige Haltung der Juden der russischen Armee gegenüber", festzustellen. Die russischen Reaktionäre sahen nämlich voraus, dass die Juden, von denen nahezu 400.000 Mann im russischen Heere dienen, und die schon im japanischen Feldzug bewiesen hatten, dass sie in allen militärischen Tugenden den „echten" Russen keineswegs nachstehen, nach dem Kriege Bürgerrechte fordern würden. Um dieser Forderung die Berechtigung zu nehmen, sollte nun die erwähnte Kommission Materialien gegen sie „sammeln". Dieses „Sammeln" war selbstverständlich ein Schaffen und Konstruieren von Tatsachen. Der General Januschkewitsch, der seit jeher mit den von dem berüchtigten Roman Dmowski geführten polnischen Nationaldemokraten, der russophilen und antisemitischen Partei, in engstem Kontakt stand, setzte es beim Generalissimus durch, dass als Konzession an die Polen jedem Regimentsstab ein Offizier polnischer Herkunft zugeteilt wurde, um den Polen gleichsam an der Führung des Heeres einen offiziellen Anteil zu gewähren. Schon das allein musste, aufgebauscht und ausgeschmückt durch die Presse, auf die Phantasie und das Gefühl der Masse einen starken Eindruck machen und als glänzender Triumph der nationaldemokratischen, russophilen und antisemitischen Politik erscheinen. General Januschkewitsch wählte die den einzelnen Regimentsstäben zuzuteilenden „polnischen" Offiziere nach den Weisungen Dmowskis aus, so dass er in ihnen eifrige Parteigänger der ihm genehmen Richtung und willige Werkzeuge seiner Bestrebungen hatte, „Tatsachen" zu fabrizieren und eine große umfassende Denunziation gegen die Juden herzustellen. Als darauf die Proklamation des Generalissimus erschien, die den Polen goldene Berge verhieß, bemächtigte sich, wie nur zu begreiflich, der polnischen Masse ein förmlicher Begeisterungsrausch. Sollten doch die sehnsüchtigsten Träume der letzten 150 Jahre in Erfüllung gehen. Um die Habsucht und den Egoismus anzustacheln, wurde verbreitet, dass die Juden und die deutschen Kolonisten vertrieben und der Boden der letzteren an die Bauern, der ganze Besitz der ersteren unter den Kleinbürgern verteilt werden solle. (Dasselbe wurde auch in Galizien unter dem niederen Volk bekannt gemacht). Die Nationaldemokraten triumphierten. Sie waren nun die eigentlichen Führer und Repräsentanten der Nation, ihre Politik die wahrhaft nationale, die die Erlösung Polens herbeiführen sollte. Diese Stimmung übte auch Einfluss auf die Zusammensetzung der Bürgerkomitees in den Städten, die im Kriegsgebiet lagen. Mit der nationaldemokratischen Politik triumphierte auch der Antisemitismus, der, von der Regierung mit Hilfe der Dmowski-Partei seit zehn bis zwölf Jahren mächtig geschürt, jetzt auf kein Hindernis mehr bei der Bevölkerung stieß. Die den Regimentsstäben zugeteilten Offiziere polnischer Herkunft, Werkzeuge in der Hand des Januschkewitsch, hatten ein freies Feld für ihre Tätigkeit. Bekanntlich war auch in Russland der größte Teil der Polen den Lockungen des Generalissimus und der Nationaldemokraten nicht gefolgt. Aber nach dem Einrücken des russischen Heeres verlor die polnische Gesellschaft jeden Einfluss auf die rohen Elemente ihrer Nationalität und War außerstande, sie, wie bis dahin, zu zügeln. Der Abschaum des polnischen Pöbels im Verein mit den Kosaken und den "Werkzeugen der russischen Autokratie durfte ungehindert Pogrome verüben, sich der Habe der vertriebenen Juden bemächtigen, usw. Jeder Versuch von polnischer Seite, diesem Treiben Einhalt zu tun, wurde selbstverständlich von der Regierung mit harter Faust im Keime erstickt. Der jüdische Dumaabgeordnete von Lodz, Dr. Bomasch, hob in der letzten Dumadebatte hervor, dass die russische Regierung in Polen das System verfolgte, alle versöhnlichen Bestrebungen der polnischen Publizistik, alle Zurückweisungen judenfeindlicher Angriffe in der polnischen Presse zu unterdrücken. Auf brutalere Weise konnte das Prinzip „divide et impera" gar nicht angewendet werden. Juden und Polen sollten sich gegenseitig zu Nutzen des Huliganismus ewig zerfleischen. Die Azew-Naturen hüben und drüben übten unter dem Schutze der russischen Zensur eine terroristische Alleinherrschaft in der Presse aus. Die Behörden verhinderten mit Gewalt jede Beruhigung der aufgeregten Massen. Der Mob blieb nicht bei den Juden stehen und ließ sein Mütchen auch an richtigen Polen aus. Aber der Generalstab berichtete nach Kopenhagen, dass eine organisierte polnische Denunziantenbande es auf die Unschuld der Kosaken abgesehen und sie zu Vergeltungsmaßregeln gegen die Juden verleitet habe, die darin bestanden, dass sie, die gefühlvollen, arglosen, zartbesaiteten Kosaken, die Juden der Raub- und Mordgier der Polen auslieferten. Die in Kopenhagen residierenden russischen Journalisten telegraphierten diese Kunde in die ganze Welt hinaus, und das Rettungskomitee in der Behrenstraße machte sich mit unbegreiflicher, strafwürdiger Leichtfertigkeit, trotz wiederholter Warnungen und Aufklärungen, freiwillig zum Helfershelfer des russischen Huliganismus und verbreitete mit idiotischer Hartnäckigkeit durch die zionistischen und ihnen verwandten Blättchen diese Nachrichten in der ganzen Welt, während der General Januschkewitsch sich vergnügt die Hände rieb und über die vielgerühmte Schlauheit der Juden nachdachte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage