Elfte Fortsetzung

Und je länger diese Diskussionen andauerten, je nachdrücklicher die Kadetten im Namen Russlands sich als Beschützer der Juden aufspielten, desto mehr wuchs in Polen die Erbitterung. Hier hat nämlich die Vorstellung von Russland als Beschützer der unterdrückten Minoritäten einen ganz besonders üblen Beigeschmack. Man denkt gleich an Katharina II., welche die inneren Streitigkeiten des Polenreiches ausnutzte und die Dissidenten so lange beschirmte, bis sie zu diesem Zweck ein Heer nach Polen einmarschieren ließ — und darauf die erste Teilung des Landes erfolgte. Dann denkt man an die Vertreter Russlands in Polen, von Repnin und Nowosilzow bis Murawiew, dem Henker, deren Andenken jedem Bewohner des Landes eine Blutwelle gegen das Herz treibt, und die ja auch nichts anderes taten, als Minoritäten beschützen und Unterdrückten ihren helfenden Arm leihen. Und nun kommt der Herr Miljukow und will wieder eine Minorität in Polen schützen, will dort ebenfalls Unterdrückte befreien, und hat sich, faute de mieux, die Juden hierzu auserwählt. Seitdem infolge dieser von Petersburg aus genährten und geschürten Verbitterung die Verhältnisse in Polen sich zuspitzten und schließlich der Boykott ausbrach, ermahnte der Patriarch Miljukow im Namen der Humanität der russischen Gesellschaft die Polen, doch zuerst ihren „zoologischen Antisemitismus" abzuschaffen, bevor sie der Autonomie würdig erachtet werden sollen. Wenn man aber auf die Notwendigkeit, die seit 35 Jahren in Russland offiziell gehandhabten Pogrome abzustellen, hinwies, beikam man zur Antwort: Das haben wir natürlich auch in unserem Parteiprogramm, Paragraph soundso. Wir kämpfen dafür und werden es schon erreichen, wenn Russland dazu reif geworden sein wird. Jetzt steht aber die Autonomie in Polen auf der Tagesordnung, usw. In Wirklichkeit haben die Liberalen aller Schattierungen in Russland sehr viel zu sagen und zu reden — sie besorgen das Redegeschäft für das ganze russische Reich — aber sehr wenig zu befehlen. Mit allen ihren Phrasen haben sie noch nie die geringste Erleichterung für die Juden erwirkt, nie einen Pogrom verhindert. Sie können nur Versprechungen für eine schönere Zukunft machen. Mit diesen Versprechungen köderten sie die jüdischen „Politiker" wie z. B. Herrn Winawer und Genossen, erhielten die materielle und agitatorische Unterstützung der Juden, die ihnen am Ende sogar mit Hilfe der in Polen herzustellenden „jiddischen Nationalität" unbeabsichtigterweise bei dem edlen Werk der Russifizierung Polens mitzuhelfen sich anschickten. Als Gegenleistung haben wir bisher nur einen vorher ganz unmöglichen Antisemitismus in Polen geerntet, dessen Wirkungen sich schließlich gezeigt haben, zum Gaudium und zum Nutzen der russischen Regierung. Ein Grundsatz in dem sogenannten Testament Peters des Großen lautet: „In Polen sind stets Unruhen und Zwietracht zu erhalten." Nun kommt Herr Winawer in Petersburg und spielt sich als Bevollmächtigter der polnischen Juden auf und hält vor ganz Europa folgende Strafrede an die Polen:

„Eine große Sünde hat die polnische Gesellschaft gegen ganz Polen und gegen die eigene Zukunft begangen durch die Entfachung einer Feindschaft gegen die Juden in diesem schicksalsschweren, historischen Augenblick. Man sollte meinen, dass ein Aufschwung zur brüderlichen Vereinigung zweier Volksstämme, die durch ein sechs Jahrhunderte altes Elend zusammengeschweißt sind, jetzt mehr als je am Platze wäre. Ist die innere Geschlossenheit doch unentbehrlich, wenn es gilt, der drohenden Gefahr eines feindlichen Überfalles entgegenzutreten und dem Ideal der Neugestaltung des Landes den Boden zu bereiten. Welche Wunder eine Einmütigkeit in verantwortlichen historischen Augenblicken zu bewirken vermag, lehrt uns die Gegenwart.


Leider fehlt es jetzt den Polen an Politikern großen Stils, die den Blick für historische Perspektiven haben. Es wird dort vielmehr eine kleine Politik: mit kleinen Mitteln betrieben. Die ganze Richtung, als deren Träger Abgeordneter Dmowski gilt, hat eine Begeisterung gezeitigt, die nur in hohlen Worten besteht und die Stimme des Volksgewissens nicht zu wecken imstande ist. Auf diese Tatsache ist auch das Verhältnis Polens zur russischen Gesellschaft zurückzuführen. Die polnische Fortschrittspartei hat eine Schlappheit und Unsicherheit bewiesen, die im Gegensatz zu ihren Grundideen steht.

Vor mehr als hundert Jahren, nach der ersten Teilung, stand Polen einer drohenden historischen Wendung gegenüber. Aber es besaß damals Politiker mit weitem Blick, die offen erklärten, dass die Juden, die zwölf Jahrhunderte in Polen lebten, an der erstrebten Gleichberechtigung teilnehmen müssten. Unter den glühenden Vertretern der Judenemanzipation war Kosciuszko anzutreffen. Solche Namen und Ereignisse müssen mitunter aus dem Staub der Archive hervorgeholt werden, als Beweis einer großen Epoche und ihrer großen Träger. Jetzt kommt die Stimme der Gerechtigkeit gar nicht zu Gehör.

Zu allen Zeiten war die jüdische Bevölkerung Polens solidarisch mit den politischen Idealen Polens. Auch jetzt steht sie auf diesem Standpunkt der allgemeinen polnischen Bestrebungen, trotz der durchlebten Schrecken der letzten Jahre. Die Polen gehen achtlos an der Tatsache vorüber, dass die jüdische Masse ein gleichwertiges kulturell nationales Element bildet, mit dem ihre Politik zu rechnen hat. Gerade weil die polnische Politik der kulturellen Mittel nicht entraten kann im Kampfe um ihr Ideal, darf sie die jüdische Masse nicht ausschalten. Erklärten doch die polnischen Fortschrittler vor zwei Jahren gelegentlich der Parlamentswähl, dass sie die Theorie der „Zwei Stämme" nicht anerkennen, sondern eine politische Einheit aller Bewohner Polens als wünschenswertes Ziel betrachten!"

Das Zeug ließ der Politiker großen Stils Herr Winawer noch im Juni 1. J. in der Petersburger Rjetsch erscheinen und die zionistischen Blättchen in Österreich und Deutschland hatten nichts Eiligeres zu tun, als diesen Erguss abzudrucken. Herr Winawer sagt den Polen allerlei Komplimente, macht ihnen aber einen Vorwurf daraus, dass sie die politische Einheit aller Bewohner Polens als wünschenswertes Ziel betrachten. Wo in aller Welt gilt das nicht als wünschenswertes Ziel? Sollten die Polen etwa die politische Zersplitterung und Zerbröckelung ihres Landes herbeiwünschen, damit es den Eroberungs- und Unterjochungsgelüsten des mächtigen Nachbars umso leichter zum Opfer falle? Und weshalb soll etwa die politische Zersplitterung Polens im Interesse der polnischen Juden liegen? Liegt etwa eine solche Zersplitterung Deutschlands im Interesse der deutschen, Hollands im Interesse der holländischen, Ungarns im Interesse der ungarischen, Amerikas im Interesse der amerikanischen Juden?

Es ist natürlich eine grobe Fälschung, ein schnöder Missbrauch, den geweihten Namen Kosciuszkos in diesem Zusammenhang zu nennen. Man braucht ja, wie wir gesehen haben, nicht erst auf Kosciuszko zurückzugreifen, um unter den Polen glühende Anhänger der Judenemanzipation zu finden. Aber keiner hat an die Emanzipation im Sinne der Herren Miljukow und Winawer gedacht, die das Land seines genuinen Charakters berauben und den Widerstand dem Feinde gegenüber schwächen, indem sie die Juden in unfreiwillige Russifikatoren verwandeln wollen. Ich wüsste nicht, dass ein Pole je geleugnet hätte, dass wir Juden andern Stammes seien als er selber, oder dass er von uns verlangt hätte, wir sollten diese historische, nicht zu ändernde Tatsache aus der Welt schaffen. Aber wenn daraus die Notwendigkeit folgt, die Juden ,,völkisch zu organisieren'' und das Jiddisch zur Staatssprache zu erheben, dann hätte Herr Winawer sich darum zuerst im eigentlichen Russland, wo dreimal so viel Juden wohnen, als in Polen, bemühen müssen. Hätte Herr Winawer die Juden in Warschau, Lodz oder Bendzin, ich meine die einfachen, arbeitenden, einheimischen sowie eingewanderten Juden, nicht die ,,Jiddischisten", die berufsmäßigen Agitatoren und Zeitungsschreiber, gefragt, ob sie es für unbedingt nötig halten, dass der eventuelle Statthalter von Polen den Landtag auch mit einer Jargon-Rede eröffne, und dass die Verhandlungssprache des Gemeinderates und der Gerichte der Jargon sei, sie hätten ihrerseits Herrn Winawer gefragt, oh er verrückt geworden sei. Und wenn ihnen erst einleuchtend geworden wäre, dass hinter diesem ganzen Projekt nur die Absicht steckte, die Widerstandskraft des Landes gegen die Russifizierung zu brechen, um dem Feind, dem Fremdherrscher, zu ermöglichen, sich der Juden gegen ihre polnischen Landsleute zu bedienen, so hätten sie sich mit Grauen von dieser Verleitung zum Landesverrat abgewandt. Aber wehe dem, der dies den Juden hätte klar machen wollen! . . . Nur ein Haufe von sensationslüsternen, oberflächlichen, unwissenden Tagschreibern und Volksversammlungsrednern redete Tag für Tag auf das Volk ein und machte ihm weis, dass seine ,,nationale Ehre" die „Anerkennung" seiner Sprache, seiner Literatur, seiner Kultur als „gleichwertig" erfordere. Denn warum sollen wir niedriger sein als alle Völker, deren Literatur und Sprache und Kultur als „gleichwertig" anerkannt wurde? Diese Anerkennung der „Gleichwertigkeit" sei eben die Gleichberechtigung. Sobald diese Anerkennung erlangt sei, würden alle Ausnahmegesetze und Beschränkungen gleichsam automatisch
verschwinden. Das war alles leicht fasslich für das Volk, kitzelte die Eitelkeit der Masse und spiegelte ihr ein nahes Paradies vor, ließ sich also trefflich zu demagogischen Schlagwörtern ausmünzen, durch deren Verbreitung man populär und allgemein beliebt wurde. Wer sie anzweifelte, rührte an die Ehre des jüdischen Volkes, verfiel in den Ruf eines Feindes und Verräters. Dem Durchschnitt der polnischen Zeitungsleser hinwiederum stellte sich die Sache so dar, dass die Juden, die am Ende nur 14 Prozent der Landbevölkerung ausmachten, unter ihnen so und so viele Hunderttausende, die erst vor kurzem aus Russland ausgetrieben worden waren, sich verschworen hätten, die polnische Sprache auszurotten und das „Jiddische" an ihre Stelle zu setzen. Die große Masse der Halb- und Ganzanalphabeten, namentlich auf dem Lande, identifiziert überdies Sprache mit Konfession, das Polnische ist ihr die „katholische" Sprache, in den Augen dieser Masse unternahmen die Juden also nebenbei auch noch ein Attentat auf die katholische Religion. Diese verbitterten Stimmungen wurden von Petersburg aus mit Meisterhand geschürt, indem die Liberalen ein Meer von entrüsteten Phrasen gegen den „polnischen Antisemitismus" ausgössen und so den polnischen Juden in der Verhetzung als die edelsten Vorkämpfer der Freiheit erschienen; die Regierung tat, als ob sie die Partei der Juden ergriffe, und brachte die Polen nur noch mehr auf. Sie erlaubte z. B. den Zionisten und jüdischen Nationalisten, öffentliche Volksversammlungen abzuhalten, während den Polen die Veranstaltung von populär-wissenschaftlichen Vorträgen untersagt war! Durch die von der Regierung gleichzeitig gestützte und geförderte russophile und antisemitische Partei der Nationaldemokraten wurden diese Stimmungen auch nach Galizien herübergespielt.

Der Gang des Krieges hat diese Partei vom Erdboden hinweggefegt. Man darf hoffen, dass Petersburger Politikern auf immer die Möglichkeit genommen ist, für die Juden in Polen Gesetze und Ordnungen zu schmieden. Aber ich habe es für nötig gehalten, namentlich den deutschen und amerikanischen Juden zu zeigen, wes Geistes Kind die „völkische Emanzipation und Autonomie" ist und mit wem Herr Kaplun-Kogan und seine Trabanten in der Behrenstraße zusammenwirken, ohne sich Rechenschaft davon zu geben.

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Dieses ganze System des Vernichtungskampfes gegen Völker, der darauf losgeht, ihnen durch Gewalt oder Tücke das, was ihnen das Teuerste ist, das Erbe ihrer Väter, sei es Religion, Sprache oder Land zu rauben, ist so echt heidnisch, so tief unjüdisch, widerstrebt so scharf allen jüdischen Empfindungen, aller jüdischen Lehre, Tradition, Denkweise und allen höchsten Interessen des jüdischen Volkes; wir Juden haben selber von altersher darunter so schwer gelitten, dass es unbegreiflich erscheint, wie Juden sich dazu hergeben können, an einem solchen Zerstörungswerk mitzuarbeiten. Die Sache wird noch unbegreiflicher, wenn man bedenkt, dass es in solchen Fällen immer heißt, sich mit einem Starken gegen einen Schwachen verbinden, was ja an sich schon ungemein ehrlos ist und von einer knechtischen, niedrigen und verächtlichen Gesinnung zeugt. Dabei kann man in unserem Falle nicht etwa die Entschuldigung vorbringen, dass die Helfershelfer nicht genügend Weltkenntnis oder politisches Bewusstsein und Reife besitzen, um sich von ihrem Tun Rechenschaft zu geben, denn es handelt sich ja um „Politiker" von Beruf, die, möge ihre Kapazität noch so unbedeutend sein, doch immerhin eine Zeitung zu lesen imstande sind und den Intentionen der Mächtigen, denen sie Lakaiendienste leisten, doch nicht blind gegenüberstehen. Im vertraulichen Gespräche ist mir oft und oft von christlicher Seite, und zwar solcher, die sich diese Lakaiendienste bis auf weiteres gefallen lässt, Erstaunen hierüber geäußert worden. Die Sache ist aber die, dass wir Juden in den letzten Jahren im Innern unter einer Art Fremdherrschaft stehen. Leute, die seelisch nicht zu uns gehören, denen unser Denken, Fühlen, Sinnen und Sehnen verschlossen ist, geben bei uns den Ton an. Solch ein Herr Winawer z. B. hat, gleich seinen Kollegen und Mitstrebern Herrn Bodenheimer, Friedemann oder Oppenheimer, von Haus aus nicht ein Fünkchen Judentum in der Seele und nicht einmal die Fähigkeit, einen Bibelvers im Original zu lesen mitgebracht; und in den paar Jahrzehnten, seitdem sie das jüdische Volk retten, haben diese Herren natürlich Wichtigeres zu tun gehabt, als sich in die jüdische Denk- und Empfindungsweise einzufühlen, die geschichtlichen Erlebnisse des jüdischen Volkes zu erkennen und nachzuerleben, um die daraus fließende seelische Disposition und Lebensanschauung sich anzueignen. Die nächsten Genossen des Herrn Winawer sind die „jüdischen Kadetten" Gebrüder Hessen, der eine Professor an der Petersburger Universität, der andere Chefredakteur der Rjetsch, getaufte Juden, die ihr Gewissen damit salvieren, dass sie angeblich die Interessen ihrer ehemaligen Glaubensgenossen in der Politik wahrnehmen. Wer kennt nicht diesen Typus aus der Frühzeit des mitteleuropäischen Liberalismus? Er ist es, der das meiste dazu beigetragen hat, das Judentum zu zersetzen und zu verflüchtigen, und hat am Ende doch den Rückschlag in den Antisemitismus nicht verhindert. Ja, in vielen Fällen sind die nächsten Nachkommen solcher Judenführer die grimmigsten Judenfeinde geworden. Dass es solchen Leuten um die Ehre des jüdischen Volkes und seinen guten Ruf in der Geschichte nicht ernstlich zu tun sein kann, ebensowenig wie um das Wohl seiner künftigen Generationen, zu denen ihre Nachkommen nicht mehr gehören werden, ist klar. Die Polen sprechen mit Grauen von einer ,,Vermoskowiterung der polnischen Seele", die sich in mancher trübseligen Erscheinung, u. a. auch in dem polnischen Antisemitismus und dem Boykott der letzten Jahre geäußert hat. Eine solche Vermoskowiterung der jüdischen Seele besorgten die Herren Winawer und Genossen, die Brüder Hessen und ihr Anhang, indem sie sich bemühten, die Juden dem russischen Tschinownik für das Versprechen, dass er ein paar Brosamen russischer Freiheit für sie abfallen lässt, als Russifizierungswerkzeug auszuliefern. Und Leute, wie der Herr Kaplun-Kogan, sind bemüht, diese Gesinnung nach dem Westen zu verpflanzen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage