Zwanzigste Fortsetzung

Zu guterletzt möchte ich auf einige wichtige prinzipielle Fragen Antwort haben: Was treibt alle die Herren dazu, unsere, der polnischen Juden, Vorsehung zu spielen? Meinem sie, dass wir nicht selber imstande sind, unsere Angelegenheiten zu besorgen? Als im Jahre 1878 die oben erwähnten jüdischen Notabeln die Sache der rumänischen Juden vor dem Berliner Kongress vertreten zu müssen glaubten, hatte das eine scheinbare Berechtigung: die rumänischen Juden besaßen gar keine politischen Rechte, hatten keine politischen Vertreter und keine Männer unter sich, die befähigt waren, für sie das Wort zu führen. Gleichwohl sind die Juden Rumäniens ihren ungebetenen Beschützern für deren sicher gutgemeintes Eingreifen wenig zu Dank verpflichtet. Anders wir galizischen Juden. Wir sind (und auch die Juden im Königreich Polen wären es, ohne die russische Regierung) seit einem halben Jahrhundert im Vollbesitz der bürgerlichen und politischen Rechte, in allen gesetzgebenden und Verwaltungskörperschaften haben wir unsere legalen, gewählten Repräsentanten, im Reichsrat und in den Delegationen nehmen unsere Abgeordneten den ihnen gebührenden Platz ein, der Budgetreferent des galizischen Landtages war jahrzehntelang ein Jude, die Präsidenten aller drei Handelskammern Galiziens sind Juden, ebenso der gegenwärtige Präsident der ostgalizischen Advokatenkammer; vor einigen Jahren wiederum hatte die westgalizische Advokatenkammer einen jüdischen Präsidenten. Einige der ersten und maßgebendsten Juristen Österreichs sind galizische Juden. So oft eine wichtigere gesetzgeberische oder wirtschaftliche Aktion auf der Tagesordnung stand, wurden von der Landesregierung die Vertreter der Juden gleich wie die der anderen Bevölkerungskreise um ihre Meinung und Wünsche befragt. Was, zum Henker, brauchen wir diese auswärtigen Literaten und Advokaten, die uns unter den Schutz ihrer papiernen Fittiche nehmen wollen? Wenn ich die Gabe hätte, unhöflich zu sein, würde ich das als eine unverschämte Aufdringlichkeit bezeichnen, als eine Impertinenz und Taktlosigkeit. als eine Dreistigkeit ohnegleichen, auf die man nur mit jener gemeinverständlichen Handbewegung, die einen Hinauswurf bedeutet, antworten kann. Aber iah habe nun einmal nicht die Gabe, unhöflich zu sein. Darum, begnüge ich mich damit, den Herren zu versichern, dass sie ihre kostbare Kraft ganz unnütz vergeuden. Abgesehen davon, dass wir eine zu inferiore und stumpfsinnige Rasse sind, um ihre Bemühungen dankbar zu würdigen, halten wir diese für ganz überflüssig. Wir galizischen Juden kennen z. B. unseren Kaiser Franz Josef ganz gut, und unser Kaiser kennt auch uns ganz gut. Wir finden schon allein den Weg zu ihm, und bedürfen vor ihm nicht der Fürsprache des Berliner Professorchens mit dem arabischen Wörterbuch. Und wenn es nötig sein wird, beim Kaiser Wilhelm für die Juden in Polen ein Wörtchen einzulegen, so wird sich auch hier schon eine Protektion finden, die noch immer wirksamer sein wird, als die von Wladimir Wladimirowitsch Kaplun-Kogan im Vereine mit der des Herrn Dr. Oppenheimer. Wo die deutsche Kultur wohnt, wissen wir gottlob selber ganz genau, wie viel und in welcher Art wir davon benötigen, und auf welche Weise wir sie verbrauchen sollen, das sind wir gesonnen, ganz allein zu entscheiden und bedürfen hierzu nicht der Vermittlung des großen Nachum Goldmann aus Knipischok oder auch aus Eischischok, ja, ich wage es zu behaupten, nicht einmal des Justizrates Bodenheimer aus Köln und ähnlicher großen Deutschen. Wozu also diese Verschwendung? Wäre es nicht ratsamer, wenn die Herren vom Rettungskomitee ihre kostbare Zeit und Kraft dazu verwenden würden, sich eine hebräische Fibel anzuschaffen, um eifrig darin zu studieren, damit die Wächter des jüdischen Volkstums und der hebräischen Kultur wenigstens einen Bibelvers im Original zu entziffern imstande wären? Es ist übrigens bereits dafür gesorgt, dass alle, die es angeht, auch wissen, dass das löbliche Behrenstraßen-Komitee niemanden repräsentiert als sich selbst, und dass Herr Justizrat Bodenheimer an der Spitze von Kaplun-Kogan und nicht an der der polnischen Juden marschiert.

Was aber diesen letztgenannten Herrn und alle die anderen Jünglinge aus Sobakowka oder aus Knipischok, aus Sukinsynow oder aus Eischischok und allen anderen interessanten Ortschaften im Innern des heiligen Russland anbetrifft, so finde ich es unbegreiflich, dass sie so herzlos sind, ihre Kämpferkraft ihren nähern Brüdern zu entziehen, die in eben diesem heiligen Russland jetzt so entsetzliche Höllenqualen auszustehen haben. Ist es nicht ein Frevel, dass sie ihre edle Märtyrer-Tinte für uns „niedrige Sklaven", für uns gemeine „Majufis-Juden", verspritzen, anstatt im Kampfe gegen die russische Reaktion den Juden in Russland eine Linderung und Aussicht auf eine bessere Zukunft zu erstreiten? Wir polnischen Juden sind mit unseren Polen immer noch allein ausgekommen, und haben uns nie nach Sobakowka oder nach Knipischok um Beistand gewendet. Wir werden auch fernerhin schon allein mit ihnen fertig werden, und darum ersuchen wir die ungebetenen Kulturträger und Freiheitsbringer, den Schauplatz ihrer Tätigkeit gefälligst etwas weiter nach Osten und Norden hin zu verlegen, wo ihrer würdigere Aufgaben harren.



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Betrachtet man die verschiedenen Aktionen unserer Retter in ihrer Gesamtheit und wiegt sie gegeneinander ab, so erscheint einem das Ganze immer unbegreiflicher und widerspruchsvoller. Zuerst heißt es, das Glück und die Zukunft des Judentums erfordern unbedingt die Einrichtung einer nationalen Autonomie für die Juden in Polen, mit dem Jargon als Nationalsprache. Darüber ließe sich allerdings streiten, aber da dies jedenfalls etwas unerhört Neues wäre, so müsste der, der eine solche Forderung im Ernst erhebt, alles unterlassen, was ihr einen feindseligen, gehässigen Charakter den Polen gegenüber verleihen könnte. Er müsste mit größter Peinlichkeit alles vermeiden, was auch nur im entferntesten den Verdacht erregen könnte, dass diese Autonomie der polnischen Nationalität Abbruch oder gar Gefahr zu bringen beabsichtige. Denn es ist ja klar, dass im entgegengesetzten Fall die Polen sich mit aller Gewalt gegen sie stemmen würden. Und die Polen sind ja ungefähr sieben- oder achtmal so zahlreich. Sie haben alle materiellen Hilfsmittel des Landes tatsächlich in Händen; und dass in einem eventuellen Kampfe gegen die Juden alle anderen Nationalitäten im Lande und in den angrenzenden Ländern auf ihrer Seite stehen würden, unterliegt ja nicht dem geringsten Zweifel. Dass aber die Juden, wenn sie nach dem Kriege im Lande bleiben und sich ernähren wollen, nicht als ein feindlicher Stamm in ihrer Heimat dastehen können, rings von Feinden umgeben, mit denen sie fortwährend auf Kriegsfuße leben, ist klar. Je mehr die Juden in Polen von der polnischen Bevölkerung abgesondert und mit den Attributen eines selbständigen Staates im Staate ausgestattet werden sollen, desto größere Sicherheit wird die polnische Bevölkerung haben müssen, dass diese Selbständigkeit sich nicht feindlich gegen sie kehren wird, dass sie kein Attentat gegen ihre nationale Selbständigkeit und Freiheit bedeutet. Haben sie diese Sicherheit nicht, so werden sie natürlich mit aller Macht gegen die geplante „nationale Autonomie" ankämpfen, und wenn sie ihnen trotzdem aufgezwungen wird, sie stets mit allen Mitteln untergraben, und den Juden im Lande das Leben derart bitter machen, dass es ihnen zur Qual und zur Last wird. Wer im Ernste eine nationale Autonomie für die Juden in Polen anstrebt, muss im Interesse seiner Bestrebungen und vor allem im Interesse der Juden, danach trachten, dass das Verhältnis zwischen Juden und Polen möglichst friedlich und freundschaftlich sich gestalte.

Was geschieht aber in Wirklichkeit?

Zunächst hat sich die jüdische Nationalität in eine deutsche verwandelt, aus der jüdischen Kultur ist unvermutet eine deutsche Kultur geworden, der jüdische Jargon soll nicht mehr um seinetwillen geschützt und gepflegt werden, sondern weil er der Platzhalter der deutschen Sprache sei, die Juden sollen ihn noch eine Weile sprechen, um dann — in Polen! — einer sprachlichen Assimilation mit den Deutschen zu erliegen. Das wäre ja an sich noch nicht so schlimm, aber nun wird der Sache mit aller Gewalt eine feindliche Spitze gegen die Polen, ihre Nationalität, ihre Sprache, ihre Kultur gegeben. Wir Juden sollten dort die „deutschen Interessen" gegen die Polen schützen, oder der „germanischen Idee" im Kampfe mit den Polen zum Siege verhelfen, wir sollen uns mit den dort ansässigen Deutschen — die stets im besten Einvernehmen mit den Polen gelebt haben — verbinden, um den Polen die Städte wegzunehmen und sie ihres polnischen Charakters zu berauben, wir sollen in Polen das Element bilden, dessen sich der deutsche Einfluss jeder Zeit bedient, um — gemäß dem Prinzip divide et impera — das polnische Land zu unterjochen. Wenn es einen Polen gab, der diese „völkische Autonomie“ als eine harmlose Utopie erkannt hat, so muss ihm die Überzeugung beigebracht worden sein, dass seine Nation sich gegen sie mit aller Kraft wie gegen eine feindliche Invasion wehren muss.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage