Zehnte Fortsetzung

Oder will man glauben, dass Herr Miljukow und seine Kollegen ein dringendes uneigennütziges Interesse daran hatten, den jüdischen Jargon als solchen im Volksmund zu erhalten und seinen Herrschbereich zu befestigen und auszudehnen? In Deutschland begründen Herr Kaplun-Kogan und sein Gefolge, die Herren Dr. Oppenheimer und Justizrat Bodenheimer ihre plötzlich erwachte Liebe zum Jargon mit seiner deutschen Herkunft. Andere, von denen in anderem Zusammenhange die Rede sein wird, erblicken in ihm einen Bahnbrecher und Platzhalter des Hochdeutschen und verlangen seine Förderung und Pflege von Seiten der deutschen Regierung, indem sie versichern, dass die Jargon sprechenden Juden als Germanisatoren zu verwenden seien. Sollte aber auch Herr Miljukow ein solches Interesse; gehabt haben? Sollte es ihm daran gelegen haben, die Juden im russischen Reiche Kraft ihres „Jiddisch" als Pioniere des Deutschtums zu benutzen, wollte er sie als „völkische Gemeinschaft" organisieren, damit sie ihren Jargon besser erhalten und dadurch als Vorkämpfer der deutschen Kultur wirken können? Russland führte seit Jahrzehnten gegen alles Deutsche einen Ausrottungskampf, der in der letzten Zeit geradezu barbarische Formen angenommen hat und dem Kampf gegen die Juden fast gleichkommt. Wie gern der Kampf gegen die Juden mit „Germanophilismus", mit ihrer freiwilligen und unfreiwilligen germanisatorischen Tätigkeit motiviert wurde, kann jeder aus den in Delbrücks Broschüre „Motive und Ziele der russischen Politik" wiedergegebenen Ausführungen des Fürsten Kotschubey ersehen. Und nun sollten auf einmal die Kadetten das Bedürfnis empfunden haben, das „Jiddische" zu hätscheln, seinen ewigen Bestand zu sichern, anstatt es mit Stumpf und Stiel auszurotten?

In Wirklichkeit war dieser Kampf für die „Befreiung der Juden in Polen" nichts als eine Fortsetzung der Plehwe’schen Politik der Russifizierung Polens durch Verwendung von Juden. Die 14 Prozent Juden in Polen sollten in unfreiwillige Russifikatoren verwandelt werden. Und dieser Prozentsatz ließ sich nach Belieben vermehren, nämlich durch die Vertreibung der Juden aus dem eigentlichen Russland. Plehwe machte kein Hehl daraus, dass er nicht nur, um seine sadistischen Machtgelüste zu befriedigen, sondern auch zu dem Zweck immer von neuem die Austreibung der Juden aus Ortschaften anordnete, wo sie seit jeher unbehelligt wohnen durften, damit sie in Polen als Russifikatoren wirkten! Sobald die Polen zu Plehwes Zeiten Autonomie forderten, antwortete er ihnen:


„Seid ruhig, sonst stopfe ich euch so viel russische Juden nach Polen hinein, dass ihr daran erstickt." Die Ausgetriebenen wandten sich nämlich in 99 von 100 Fällen nach Polen, wo sie, wie erinnerlich, seit dem Edikt des Marquis Alexander Wielopolski vom 8. Juni 1862 alle Rechte der anderen Bürger genießen, also nicht ausgewiesen werden dürfen. Sie kamen hin ohne jede Kenntnis des Polnischen, ohne örtliche Tradition, ohne Verbindung mit ihren heimischen Glaubensgenossen; in den meisten Fällen verstanden sie Jüdisch schon gar nicht oder nur sehr schwach, oder sie sprachen es mit fremdem Akzent. Sie sprachen nur Russisch und wurden so in der Verbannung unfreiwillig, sogar gegen ihren Willen, durch den natürlichen Lauf der Dinge, die Vorkämpfer der Macht, welche sie aus der alten Heimat vertrieben hatte. (Dass es so kam und nicht umgekehrt, die natürliche Sympathie für Polen, die diese vertriebenen Juden mitbrachten, ausgenützt wurde, um die Pläne der russischen Regierung zu vereiteln, das ist nicht die Schuld der russischen, sondern der polnischen Juden, das heißt der führenden und gebildeten Klasse unter ihnen, die infolge ihrer Entfremdung vom Judentum zu einer solchen Aktion unfähig war — , sowie eines Teils der polnischen Presse, der, ohne Verständnis für die Tragik der Sachlage, blindlings auf die unwillkommenen Ankömmlinge losschlug, sie im voraus der schlimmsten Absichten beschuldigte und auf diese "Weise in ihnen Verbitterung und Groll wachrief, anstatt sie für die Sache ihres neuen Heimatlandes zu gewinnen. Das werde ich in anderem Zusammenhange ausführlich darlegen.") Die Juden wurden also als Fuchtel, als Knute missbraucht, um auf die Polen loszuschlagen, als Hammer, der den polnischen Ambos weichhauen sollte. Dass es der Fuchtel, dass es dem Hammer dabei schlecht erging, darum kümmerten sich die Herren Plehwe und Genossen natürlich ebenso wenig, wie Herr Miljukow und Genossen.

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Den Polen behagte nämlich, wie leicht zu verstehen, dieser Prozess durchaus nicht. Aber da es nicht jedermanns Sache ist, den Dingen auf den Grund zu gehen, und den tieferen Ursachen der Erscheinungen nachzuforschen, wandte sich der Groll und Hass der Polen gegen die neuangekommenen Juden, anstatt gegen das System, zu dessen unfreiwilligem Werkzeug sie gemacht wurden. Von diesen wurde der Hass allmählich auch auf die einheimischen Juden, die sich von den andern äußerlich gar nicht unterschieden, übertragen, ebenso auf ihr jüdisches Idiom, das sich von dem der anderen Juden nur durch Schattierungen unterschied und in dem man allmählich einen gefährlichen Feind zu erblicken sich gewöhnte. Das war die Geburt des neuesten polnischen Judenhasses, der in der Folge ungeahnte, in Polen noch nie dagewesene Dimensionen und Formen annahm. Das ist nur so eine Nebenfrucht der Befreiertätigkeit der russischen Liberalen. Seit dem japanischen Kriege stand die Forderung der Polen nach städtischer Selbstverwaltung auf der Tagesordnung. Die liberalen Kadetten und ihr Anhang hielten sich sozusagen für die geborenen Sachwalter dieser Forderungen. Sie traten ausgerüstet mit ihrem ganzen Liberalismus vor und sprachen zu den Polen also: Natürlich werden wir eure Forderung bei der russischen Gesellschaft und bei der Regierung befürworten, wir sind ja so liberal! Aber da wir liberal sind, kämpfen wir für die Befreiung der kleinen Völker; bevor wir euch Polen die Erfüllung eurer Wünsche erwirken, müsst ihr zuerst die Juden in Polen befreien und gleichstellen.

Wenn nun die Polen darauf antworteten, dass die Juden in Polen nur von den russischen Ausnahmegesetzen befreit zu werden brauchen, aber seit 1862 durch das Edikt des Marquis Wielopolski bereits den andern Bürgern gleichgestellt sind — worauf sie im eigentlichen Russland noch immer warteten — dann antworteten die Kadetten wohl:

Lappalien ! Persönliche Emanzipation ! Darüber sind wir längst hinaus. Das genügt den Leuten im faulen Westen.

Was wir im Namen des russischen Liberalismus von euch fordern, das ist völkische Emanzipation der Juden, Anerkennung der Gleichberechtigung des jüdischen Stammes als solchen, Gewährung völkischer Autonomie, Anerkennung des Jiddischen als gleichberechtigt mit dem Polnischer], eigenes Steuerwesen, besonderen Wahlkataster, Minoritätsschulen usw. — Darauf mochten wohl die Polen die Frage stellen:

Da die Juden im Königreich Polen nur 25 Prozent aller Juden Russlands ausmachen, so muss man sich wundern, warum denn nur diese und nicht auch die übrigen 75 Prozent durch Ernennung zu einer Nationalität mit einer Sonderautonomie beglückt und erhöht werden sollen. Oder wird auch in rein russischen Städten wie Odessa, Cherson, Kasan, Kiew, Moskau, Petersburg das Jiddische vor den Staats- und Gemeindebehörden, in den gesetzgebenden Körperschaften mit dem Russischen gleichberechtigt sein, wie in Warschau oder Lodz mit dem Polnischen? — Worauf die Kadetten sich folgendermaßen vernehmen ließen:

Das haben wir natürlich in unserem Parteiprogramm, Paragraph soundso. Das hängt mit der großen Völkerbefreiung zusammen, die wir in Russland durchzuführen gedenken. Der Zeitpunkt hierfür ist leider noch nicht gekommen, wir müssen unser Vaterland erst dazu erziehen. Wir werden den Juden zuerst die persönliche Emanzipation erwirken, die höhere Stufe kommt nachher. Das steht jetzt nicht auf der Tagesordnung; was auf der Tagesordnung steht, ist die Autonomie in Polen, und diese können wir nur gewähren, wenn die Polen die völkische Gleichberechtigung der jüdischen Nation anerkennen.

Mancher Pole mochte daraufhin die Bemerkung machen, dass es den Juden vielleicht erwünschter und vorteilhafter wäre, wenn die glühende Freundschaft der Kadetten sich im Kampf für die Aufhebung oder wenigstens Erweiterung des Ansiedlungsrayons und der Prozentnorm für die Mittel- und Hochschulen äußern würde. Aber dann konnte man von den Kadetten folgende Erklärung vernehmen:

Das haben wir natürlich auch in unserem Parteiprogramm, Paragraph soundso. Wir kämpfen ja auch dafür mit Lungen und Zungen. Das wird schon kommen, wenn Russland reif dazu geworden ist. Jetzt aber steht die Autonomie für die Städte Polens auf der Tagesordnung, und die können wir euch nur gewähren, wenn ihr das Jiddische als gleichberechtigt mit dem Polnischen in Schule, Gericht und Parlament anerkennt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage