Neunte Fortsetzung

Doch Spaß beiseite.

Für unsere Retter und Erlöser scheint die Weltgeschichte erst mit dem Moment zu beginnen, da sie sich entschlossen haben, in die Speichen ihres Rades zu greifen. Indessen — alles ist schon dagewesen. Und es lohnt sich einmal, vom Gewesenen zu lernen.


Als im Jahre 1878 auf dem Berliner Kongress die Dinge auf dem Balkan neu geordnet werden sollten, handelte es sich um die Erkämpfung der bürgerlichen Gleichberechtigung für die Juden Rumäniens. Darum bemühte sich damals eine
Gruppe jüdischer Notabeln aller Länder, freilich, ohne sich als Rettungs- oder Befreiungskomitee zu konstituieren. Es waren das: Gerson von Bleichröder, ein Intimus Bismarcks; Prof. Moses Lazarus, ein Gelehrter von Weltruhm, der die persönliche Freundschaft des Kronprinzen Friedrich und seiner Gemahlin besaß; Berthold Auerbach, damals auf der Höhe seines Ruhmes und in hohem Ansehen bei der Kaiserin Augusta stehend, sowie beim Hofe von Bukarest, wo er schon 1869 zugunsten der Juden mit Erfolg interveniert hatte; Jakob Bernays, dem die Fürstin, nachmalige Königin von Rumänien, die größte Bewunderung zollte, und dem Carmen Sylva in ihren Memorien ein schönes Denkmal gesetzt hat. In London Moses Montefiore, gewissermaßen der Doyen aller Juden, von der Königin Victoria geehrt und wiederholt ausgezeichnet, und Sir Francis Goldsmid, eines der einflussreichsten Parlamentsmitglieder. In Paris außer dem Baron Hirsch, der damals eine der ersten Finanz großen Europas war, Adolphe Cremieux, ehemaliger Minister, Freund Gambettas, hervorragendes Mitglied der Kammer, Präsident der Alliance Israelite Universelle, und Armand Levy, ein Mann, der zu den Pariser, sowie den römischen Staatsmännern wertvolle Beziehungen hatte, ein eifriger und unermüdlicher Vorkämpfer der Emanzipation der rumänischen Juden (nebenbei bemerkt: intimer Freund von Adam Mickiewicz, der in seinen Armen gestorben ist und dessen Überreste er von Konstantinopel nach Paris brachte). Alle diese Männer hatten, jeder in seiner Art, europäischen Ruf, ihre Verdienste und ihr Ansehen bei den Juden waren unbestritten. Sie wirkten mit Zähigkeit und Energie, aber mit dem erlesensten Takt und der feinsten Zurückhaltung, ohne den rumänischen Nationalstolz irgendwie zu kränken oder gar zu verletzen. Was sie verlangten, hatte für die Rumänen nichts Demütigendes oder Schädliches, denn die Emanzipation war seit langem in allen zivilisierten, konstitutionellen Staaten Europas eingeführt, und keiner hatte sie zu bereuen. Es handelte sich also nicht um ein neuartiges Experiment, über dessen Wirkungen ein Zweifel sein konnte; man verlangte nicht das Recht für die Juden, einen Staat im Staate zu bilden, sondern etwas, was schon damals in ganz Europa als primitiv und selbstverständlich galt. Die Staatsmänner, unter deren Einfluss der Berliner Kongress stand, Bismarck, Disraeli, Andrassy, desgleichen ihre minder hervorragenden Mitarbeiter, waren den Bestrebungen von vornherein geneigt. In den Berliner Vertrag wurde denn auch der Artikel 44 aufgenommen, welcher Rumänien die Unabhängigkeit nur unter der Bedingung gewährte, dass es die bürgerliche und politische Gleichstellung seiner Juden durchführte. Und das Resultat? In den Sitzungen vom 23. Oktober 1879 ersetzten die beiden rumänischen Kammern den berüchtigten Artikel 7 ihrer Verfassung nicht durch den Artikel 44 des Berliner Vertrages, sondern durch eine neue Fassung, welche den Juden auch die ihnen 21 Jahre vorher auf dem Pariser Kongress gewährten bürgerlichen (nicht politischen) Rechte entzog und sie samt und sonders als Fremde erklärte, die wenn ihre Vorfahren auch Schon seit Jahrhunderten im Lande wohnten, einzeln um Naturalisation erst ansuchen müssen. Solche Gesuche wurden bis 1900 an 87 Personen gewährt, (von denen 27 im Jahre 1900 bereits gestorben waren), und von 1901 bis 1909 an 91 Personen, (Außerdem wurde den Soldaten, die in den Befreiungskämpfen mitgekämpft hatten, ausnahmsweise das Bürgerrecht verliehen.) Seither vergeht kein Jahr, das nicht neue Beschränkungen und Bedrückkungen, ganz nach russischem Muster, brächte. Und in der ganzen Welt rührt sich keine Hand dagegen. Oft und oft versicherten rumänische Juden, dass ihnen die volle Gleichberechtigung längst gewährt worden wäre, wenn diese dem Lande nicht durch den Berliner Kongress, auf Betreiben der genannten jüdischen Persönlichkeiten, aufgezwungen worden wäre. Dass die Selbständigkeitserklärung Rumäniens abhängig gemacht wurde von der Erfüllung des Artikels 44 des Berliner Vertrages habe nämlich die Nationaleitelkeit der Rumänen tief verwundet, denn dadurch sei die Souveränität des Landes verletzt und gleichsam unter die Oberhoheit des Auslandes gestellt worden — um der Juden willen. Es wird also so angesehen, als hätten die Juden Rumäniens diese Beleidigung verursacht. Sie müssen sie bis auf den heutigen Tag büßen. Und sie büßen sie, da es keiner der Signatarmächte einfällt — wie dies schon damals ein rumänischer Minister vorausgesagt hat — , wegen der Juden einen Krieg gegen Rumänien zu führen.

Wir können jetzt nicht wissen, wie der nächste Friedenskongress zusammengesetzt sein wird. Immerhin wage ich nicht v zu bezweifeln, dass Herr Kaplun-Kogan und die um ihn herum gruppierten Staatsmänner auf die gekrönten Häupter und die Staatenlenker von Europa großen Einfluss haben; aber erfahren werden darüber Genaueres erst die Historiker der kommenden Generation, denen ein tiefer Blick in die Geheimarchive gegönnt sein wird. Wir armseligen. Zeitgenossen wissen nichts davon. Auch die Verdienste dieser Männer um die allgemeine Kultur und insbesondere um das jüdische Volk liegen sämtlich im Bereich der Zukunft. Vergleicht man nun ihr Programm, ihre Methoden und Diplomatie mit denen ihrer Vorgänger von 1878, so kann man sich die Folgen leicht ausmalen.

Für uns gewöhnliche Sterbliche, die wir nicht um jeden Preis das Ross der hohen Politik reiten wollen, fließt aber aus der rumänischen Angelegenheit die Lehre, dass unser Heil nicht im Verhandeln und Kokettieren mit Diplomaten und Regierungen liegt, sondern in der Verständigung mit den Völkern, unter denen wir leben; nicht im Erwirken von Versprechungen, die in der Luft schweben und von Verpflichtungen, die keiner zu halten gedenkt, sondern indem wir unseren Mitbürgern mit Würde, Festigkeit und Aufrichtigkeit entgegentreten, in gemeinsamer Arbeit die Vorurteile überwinden. Die Zeiten werden immer demokratischer, und auch die Regierungen werden in Zukunft nur ein Teil des Volkes sein.

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Interessant ist eine Tatsache, die in Europa und in Amerika unbekannt zu sein scheint, nämlich, dass die eifrigsten Verfechter dieser „völkischen Emanzipation und Organisation" der Juden in Polen die — Russen sind. Ja, in Petersburg wurde der ganze Plan in Anlehnung an die Renner’sche Utopie ausgearbeitet. Er ist ein gemeinsames Werk der jüdischen „Politiker“ mit Herrn Winawer und der russischen Liberalen mit Herrn Miljukow an der Spitze. Leuten, die zu denken gewohnt sind, müsste dies zu denken geben. Die Sache kam so: die russischen Liberalen waren seit jeher Gegner der Pogrompolitik der russischen Regierung und Anhänger einer menschlicheren Behandlung der Juden. Gewiss auch aus idealen und humanitären Gründen, aber im [wesentlichen spielte hier die Politik die erste Rolle. Das ist nämlich überall so. Jede oppositionelle, um Erweiterung der Rechte einer bestimmten Klasse kämpfende Partei ist expansiv und wirbt um den Anschluss der Juden, die ja ebenfalls um Erweiterung ihrer Rechte kämpfen. Die Juden setzen ihren ganzen Eifer und ihre ganze Kraft im Kampf für das gemeinsame Ziel ein. Wenn dieses erreicht ist, fängt man an, es lästig zu empfinden, dass die Juden die gemeinsam erfochten en Hechte mitgenießen, und es entsteht der Antisemitismus. Das war in West-Österreich so, das war in Deutschland so. Dieselben Gegenden, dieselbe Bevölkerung, die in der Blütezeit des Liberalismus eifrige Vorkämpfer der Judenemanzipation ins Parlament schickten, entsandten wenige Legislaturperioden später dorthin die grimmigsten Antisemiten. In vielen Fällen waren es dieselben Volksboten, nur hatten sie inzwischen ihre politische Überzeugung gewechselt. Das würde in Russland natürlich nicht anders sein. Vorläufig triefen die Kadetten von liberalen Grundsätzen und lassen sich von den gläubigen Juden die Agitationskosten bezahlen und Zeitungen gründen. Als am Anfang dieses Jahrhunderts Herr Professor Miljukow und seine Genossen erfuhren, dass unter den Juden „separatistische Bestrebungen" vorhanden seien, waren sie starr vor Staunen. Das waren freilich sehr harmlose Dinge: Bestrebungen, das Hebräische zu pflegen, die Kenntnis der jüdischen Geschichte, Literatur und Kunst zu verbreiten, die Jugend im jüdischen Geiste zu erziehen, sodann die für den Staat ebenso harmlose und vollkommen gleichgültige zionistische Bewegung. Aber das alles roch erstens so verdächtig nach Religion, und für einen echt russischen Liberalen gilt Religion überhaupt als überwundener Standpunkt, sodann, trotz seines Liberalismus ist er als Russe gewöhnt, sozusagen instinktiv alle Bestrebungen zur Pflege nichtrussischer Sprache und Literatur blutig zu verfolgen, sie mit Knute und Sibirien zu bestrafen. Wie kann ein heiler Mensch sich noch um eine andere als die russische Sprache und Literatur bekümmern? Aber bei näherem Besehen wurde diesen Herren klar, dass diese Bestrebungen, entsprechend gelenkt und in die gehörige Fassung gebracht, ein vorzügliches Werkzeug zur Russifizierung Polens liefern könnten, während sie in Russland harmlose literarische Spielereien blieben. Der Zarismus bot alle seine ungeheure und grausame Macht auf, um Polen, namentlich seine Städte, zu russifizieren, aber alles war bisher vergebens gewesen. Das kann man nun auf eine bequeme Weise bewirken. Warschau z. B. hat ungefähr 40 Prozent Juden. Der breiten und einflussreichen Schicht der jüdischen Intelligenz ist das Polnische seit mehr als 60 Jahren Muttersprache. Die große Masse der Juden spricht untereinander Jüdisch, aber sie versteht schon jetzt fast durchweg Polnisch, spricht mit den Polen nicht anders als Polnisch; insofern ihre Kinder moderne Schulen besuchen, legt sie starkes Gewicht darauf, dass sie das Polnische gründlich erlernen; die jüngere Generation eignet sich denn auch diese Sprache in immer steigendem Maße an. Warschau ist eine polnische Stadt, deren polnischer Charakter von niemandem bestritten oder bedroht wird. Die Deutschen, die in der Stadt wohnen, bedrohen diesen Charakter nicht, die Juden noch viel weniger. Das Russisch, mit welchem die Regierung die Oberfläche übertüncht, indem sie erzwungen hat, dass die Gerichtsverhandlungen, der Verkehr der Behörden mit dem Publikum in russischer Sprache geschehen, oder dass öffentliche Aufschriften, Vereinsberichte u. dgl. zweisprachig sein müssen, ändert an der Sache nichts. Das Künstliche, Widernatürliche daran ist zu offenbar. Russen, deren Muttersprache das Russische allein wäre, und die dies zum Schaden des Polnischen durchsetzen wollten, gibt es in Warschau nur wenige, und es sind lauter Beamte und Militärs, die für den Charakter der Bevölkerung nicht in Betracht kommen. Warschau ist darum eine polnische Stadt. Nun kommt Herr Miljukow und ernennt 40 Prozent der Einwohner Warschaus zu einer besonderen Nationalität, mit einer besonderen Nationalsprache. Sie sind dann eine Minorität, und als solche müssen sie durch Herrn Miljukow befreit werden. Als Russe wie als Liberaler fühlt sich Herr Miljukow berufen, die Minoritäten zu erlösen. Russland führt ja diesen Krieg und ist nach Galizien gegangen, nur um das Joch Österreichs von Polen und Ruthenen zu nehmen. Als Liberaler kann er erst recht nicht schlafen, wenn er nicht jemanden befreit hat. Er macht sich also auf, um die Juden Warschaus zu befreien. Die Juden hätten zunächst das Bedürfnis, von der drückenden Herrschaft Russlands befreit zu werden, aber Herr Miljukow befreit ihre „Nationalität" von den Polen. Er sichert ihnen in der Zukunft Minoritätsschulen, er gibt ihnen einen besonderen Wahlkataster usw., mit einem Worte, er organisiert sie als „sprachlich-kulturelle Gemeinschaft". Das ist ganz so, wie wenn ich jemanden um ein Stück Brot zur Sättigung meines Hungers bäte, und er mir seine Verehrung bezeigte, indem er mich zum Ehrenpräsidenten der Bank von England oder zum Konsul von Honolulu ernennte, oder als ,,Schischi" zur Thora aufriefe, was ja auch eine große Auszeichnung ist, aber nicht satt macht und nichts kostet. Zuvörderst aber ist erreicht, dass der Widerstand der Polen gegen die Russifizierung geschwächt ist; wenn die Stadt der Regierung gegenüber auf ihren polnischen Charakter hinweist, und danach behandelt werden will, antwortet man ihr, sie sei gar keine polnische Stadt, denn sie beherberge 40 Prozent Nichtpolen in ihren Mauern. Dass für diese 40 Prozent Nichtpolen vorläufig nicht das Russische, sondern das „Jiddische" als Nationalsprache proklamiert worden ist, macht Herrn Miljukow keine Sorge; er weiß ganz genau, dass die Juden nicht so dumm sein werden, sich etwa vor Gericht oder im Stadtrat des Jargons zu bedienen, denn sie wollen ja verstanden werden. Verordnungen, Praxis und Schule werden schon dafür sorgen, dass das „Jiddisch" in wenigen Jahren durch Russisch ersetzt werde, es braucht ja kein erstklassiges Russisch zu sein, es wird immerhin genügen, um dem Polnischen Abbruch zu tun; der polnische Charakter der Städte wird durch dieses Pseudorussisch verfälscht. Jetzt schon gibt es ja in ganz Polen „Jargon-Schulen", nach denen sich Herr Justitzrat Bodenheimer so sehnt, das sind die Chedarim. Die Juden fühlen das Bedürfnis, ihren Kindern auch eine weltliche Sprache beizubringen, und so ist es in ganz Polen und seinen angrenzenden Ländern erlaubt, in den Chedarim Russisch zu unterrichten, aber unter Androhung schwerer Strafen verboten gewesen, Polnisch zu lehren! Natürlich können die Zöglinge Russisch nur sehr kümmerlich. Sie lernten es nur in der Schule, und lernten es schlecht; rings im Leben klangen an ihr Ohr außer den jüdischen nur polnische Töne, aber Polnisch können sie gar nicht, und das ist ja die Hauptsache; sie wuchsen in der Überzeugung heran, dass es außer Jüdisch nur noch eine Sprache gebe: Russisch; sie stehen der heimischen Bevölkerung fremd gegenüber. Das erschwerte ihnen das Leben immer mehr, zog ihnen die offene und geheime Feindschaft der Polen zu, die in ihnen Russifikatoren erblicken, welche es mit den russischen Schergen hielten und das eroberte Land bedrücken halfen. Es depravierte überdies den Charakter und die Moral der jüdischen Massen, indem es sie zum "Werkzeug eines ehrlosen, verwerflichen und schändlichen Tuns erniedrigte. Aber was kümmerte das den liberalen Herrn Miljukow? Anfang 1909 wies die Statistik im Königreich Polen trotz nahezu 100jähriger Herrschaft Russlands keine vollen 2 Prozent Russen auf, die dazu als Beamte und Militärs außerhalb der Gesellschaft standen. Durch die Ernennung der Juden zu einer besonderen Nationalität, die langsam, aber mit Naturnotwendigkeit ins Russische übergehen sollte, hätte man nicht nur die Widerstandskraft der Polen geschwächt, sondern nahezu 14 Prozent Russen im Lande künstlich hergestellt; allerdings Russen zweiten und dritten Ranges, unechte, nachgemachte Russen, die kein echter Russe im eigentlichen Russland als seinesgleichen anerkennen würde, und die von allen vornehm denkenden Russen, welche die gewaltsame wie die hinterlistige Russifizierung verabscheuen, gründlich verachtet wurden; aber Russen, deren nachgemachtes Talmi-Russentum immerhin ausreichen konnte, um das Polentum zu schädigen. Die „jüdische Nationalität" und deren „völkische Organisation" war also nichts Positives, Schöpferisches, welches dazu diente, bestehendes Edelgut zu konservieren und neues zu entwickeln, sondern etwas Negatives, dazu bestimmt, das Edelgut eines anderen zu zerstören, dessen Kraft zu lähmen, damit ein Dritter daraus Nutzen ziehe. Dieser von Petersburg aus befürwortete jüdische Nationalismus hatte nicht die Aufgabe, Jüdisches zu beschützen und zu pflegen, sondern Polnisches zu zersetzen, damit das Russische sich darin hineinfresse und es überwinde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage